Ein Beitrag des Projekts Radical Biocentrism in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 1, 2017. Der Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht.
Herrschaftsverhältnisse existieren nicht nur zwischen Menschen, sie prägen auch das Verhältnis zwischen Menschen und anderen Lebewesen, ebenso wie das Verhältnis anderer Lebewesen untereinander. Die Vorherrschaft der menschlichen Spezies über andere Lebewesen wurde in der christlichen Tradition, ebenso wie in vielen anderen Gesellschaften als eine gottgegebene Sonderstellung des Menschen, der von Natur aus zum*r Herrscher*in über „die Natur“ auserkoren sei, interpretiert. Damit wurde dieses Herrschaftsverhältnis kulturell verfestigt. Bis heute behaupten folgerichtig auch Atheist*innen der Mensch habe eine Vorrangstellung vor anderen Lebewesen und rechtfertigen damit diverse Herrschaftsverhältnisse, in denen der Mensch andere Lebewesen unterwirft.
Als Anarchist*innen jedoch dürfen wir auch Herrschaftsverhältnisse, die zwischen Lebewesen unserer Spezies und den Lebewesen anderer Spezies bestehen, nicht ignorieren. Einerseits – und das ist ein anthropozentristisches Argument – lässt sich eine herrschaftsfreie Gesellschaft, deren Mitglieder ihr (Über-)leben auf ihrer Herrschaft über andere Lebewesen gründen, nur schwer denken. Andererseits gilt es auch die Angehörigen anderer Spezies von der Unterdrückung durch andere Lebewesen, insbesondere die durch „uns Menschen“, zu befreien.
Auch wenn es durchaus sinnvolle anarchistische Kämpfe gegen derartige Herrschaftsverhältnisse gibt, ist jüngst zunehmend stärker zu beobachten, wie sich solche Bestrebungen in einer Sackgasse verlaufen, in der Herrschaftskritik zur Ideologie verkommt und sich die Mittel zur Überwindung von Herrschaft an marktwirtschaftlichen Vorstellungen orientieren. Die Rede ist von politischem Veganismus. Gemeint ist nicht etwa Veganismus an sich, wenn er als persönliche Entscheidung betrachtet und gelebt wird. Gemeint ist die Propagierung des Veganismus als politische Boykottbewegung, in der vegane Lebensweisen als wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Unterdrückung anderer Lebewesen propagiert wird und zum Teil auch Menschen, die sich nicht vegan ernähren, pauschal als ignorant gegenüber diesem Herrschaftsverhältnis, verunglimpft werden.
Wie jede Boykottbewegung gründet sich die Vorstellung, Veganismus könne das Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen und Tieren aufheben, auf die weit verbreitete, aber dennoch falsche Vorstellung, dass die Nachfrage nach einem Produkt das Angebot bestimme. Tatsächlich wird auch Fleisch, für Milch und Eier gilt das analog, heute nicht mehr der Nachfrage gemäß produziert, sondern ebenso wie andere Waren, beispielsweise Autos, wird so produziert, dass die Fixkosten möglichst gering gehalten werden können und so die Gewinne möglichst groß sind. Das bedeutet, dass durch einen Boykott von tierischen Produkten im Ausmaß der Zahl der Vegetarier*innen und Veganer*innen die Zahl der unterdrückten Tiere quasi nicht verändert wird. Eher werden die Preise aufgrund des noch größer werdenden Überangebots weiter nach unten gedrückt. Kleinere Betriebe und vor allem solche, die mehr Wert auf Haltungsbedingungen legen, können so noch weniger bestehen. Das soll natürlich auch nicht umgekehrt bedeuten, dass der „bewusste“ Konsum von tierischen Produkten zu einer Aufhebung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Tier führen kann, Zahlreiche Green-washing Labels zeugen davon, dass auch das nur eine Farce ist.
Statt sich also in den Mitteln des eigenen Protests gegen die Unterdrückung von Tieren auf die marktwirtschaftlichen Mythen des kapitalistischen Systems zu verlassen, müssen Wege gefunden werden, eben jenes System zu durchbrechen.
Und doch sind es nicht die Mittel des politischen Veganismus, die in diesem Artikel im Zentrum der Kritik stehen sollen. Vielmehr soll auf die speziesistischen Ansichten, die dem politischen Veganismus zugrunde liegen, eingegangen und die daraus entstandene Ideologie näher untersucht werden.
Die Herrschaft der menschlichen Spezies über andere Lebewesen betrifft nicht nur tierische Lebewesen, sondern ebenso auch pflanzliche Lebewesen. Ebenso wie Tiere dienen den Menschen auch Pflanzen zur Nahrung und werden zu diesem Zweck gezüchtet, in Massenaufzucht angebaut und schließlich geerntet, was in vielen Fällen den Tod der Pflanze bedeutet. Interessen von Pflanzen spielen, ebensowenig wie die der in Mastanlagen gehaltenen Tiere, keine Rolle. Es geht schlichtweg darum. Nahrungsmittel, Baustoffe oder andere Wertstoffe zu produzieren, also ausschließlich darum, Menschen nützlich zu sein.
Zunächst einmal gibt es also keinen Grund, zwischen der Herrschaft über pflanzliche Lebewesen und der Herrschaft über tierische Lebewesen zu differenzieren, wie das durch den politischen Veganismus getan wird. Dass das dennoch passiert, ist wohl den pathozentrischen und/oder utilitaristischen Einflüssen geschuldet: Während einige Anhänger*innen des politischen Veganismus argumentieren, die Tatsache, dass Tiere erwiesenermaßen als „leidensfähig“ gelten, eine „Leidensfähigkeit“ bei Pflanzen bislang jedoch nicht nachgewiesen werden konnte, argumentieren viele Veganer*innen damit, dass zur Ernährung von Tieren ebenfalls Pflanzen angebaut werden müssen. Insgesamt würden tierische Produkte daher größeres Leid auslösen, als pflanzliche Produkte.
Beide Argumente sind zumindest kritisch zu bewerten. Die Tatsache, dass wir nicht sagen können, ob Pflanzen leidensfähig sind, bedeutet schließlich nicht, dass sie es nicht sind. Die Wissenschaft war, ist und wird niemals frei von Fehlern sein. Sich also auf eine in der Wissenschaft herrschende Annahme, dass Pflanzen nämlich nicht leidensfähig seien, zu stützen und damit die Unterwerfung dieser Lebewesen zu rechtfertigen, erscheint mehr als fragwürdig. Überhaupt: Warum wird die Leidensfähigkeit eines Lebewesens so sehr ins Zentrum gerückt? Immerhin ist das eine sehr anthropozentrische Vorstellung, davon auszugehen, dass Leid und Leidensfähigkeit das zentrale Kriterium dafür ist, ob die Unterdrückung eines Lebewesens moralisch vertretbar ist, oder nicht.
Ähnlich kritisch ist auch das utilitaristische Argument zu sehen, dass zur Herstellung tierischer Produkte durch die zur Versorgung der tierischen Lebewesen mit Nahrungsmitteln notwendige Produktion pflanzlicher Produkte, insgesamt mehr Leid entstehen würde. Einerseits gilt das natürlich nur, wenn mensch davon ausgeht, dass die in Massenhaltung lebenden, tierischen Lebewesen ohne Zutun des Menschen nicht existieren würden und sich diejenigen frei lebenden Arten, die jeweils in Quoten zum Abschuss frei gegeben werden, nicht überproportional vermehren würden. Immerhin, tendenziell scheint diese Annahme realistisch zu sein. Andererseits jedoch – und das ist der hochproblematische Aspekt dieses Arguments – werden dabei die Individuen, die den vom Menschen angebauten, pflanzlichen Spezies angehören, als notwendiges Übel zugunsten einer Art Gemeinwohl unterdrückt und diskriminiert. Die Interessen bestimmter Individuuen werden damit den Interessen einer Gemeinschaft untergeordnet. Derartige Abwägungen sind nicht umsonst verpöhnt! Mit anderen Worten ließe sich hier von einem Speziesismus der politischen Veganer*innen gegenüber pflanzlichen Lebewesen sprechen.
Der ideologische Charakter des politischen Veganismus gründet sich dabei auf die Tatsache, dass selbiger diesen Speziesismus als eine Lösung oder wenigstens einen Fortschritt im Hinblick auf die Unterdrückung von anderen Lebewesen durch die Menschen vorschlägt. Worin dieser Vorschlag jedoch besteht ist weniger eine Lösung, als eine Verlagerung der Problemdimension. Statt tierischen Lebewesen sollen, wenn es nach politischen Veganer*innen geht, zukünftig nur noch pflanzliche Lebewesen unterdrückt werden.
Bei all dieser Kritik am politischen Veganismus soll dieser Text jedoch keineswegs die Unterdrückung tierischer Lebewesen verharmlosen oder als berechtigt darstellen. Vielmehr geht es darum, einen Perspektivenwechsel in der Kritik der Herrschaft der Menschen über andere Lebewesen vorzuschlagen. Die Unterdrückung anderer Lebewesen durch den Menschen muss also aus einer herrschaftskritischen Perspektive neu analysiert werden, denn während sich gegen die Unterdrückung tierischer Lebewesen durchaus Protest, der herrschaftskritisch geprägt und mit dem Ziel des Schutzes aller Individuen praktiziert wurde, entwickelt hat, ist der viel seltenere Protest gegen die Unterdrückung pflanzlicher Lebewesen zumeist mitnichten herrschaftskritisch und noch seltener mit dem Ziel des Schutzes aller Individuen organisiert. Es geht vielmehr darum, Arten zu erhalten, „Naturdenkmäler“ zu bewahren oder besonders imposante Pflanzen zu schützen, wenn die Argumentation nicht ohnehin rein anthropozentrisch geprägt ist oder eine verklärte „Natur“ zu bewahren sucht.
Mit Blick auf die sogenannte „Animal Liberation“-Bewegung ist also ein weiteres anarchistisches Aktionsfeld in der Befreiung der pflanzlichen Lebewesen vor menschlicher Unterdrückung zu suchen. Dabei gilt es eine generelle Kritik der Unterdrückung von Lebewesen zu entwickeln und mögliche Umgangsformen mit bestehenden Unterdrückungsverhältnissen gegenüber anderen Lebewesen auszuloten.
Natürlich darf dabei nicht vergessen werden, dass die Herrschaftsverhältnisse des Menschen über andere Lebewesen soweit manifestiert sind, dass eine Gewährleistung der Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln auf herrschaftsfreiem Wege derzeit nicht vorstellbar ist. Diese Einsicht sollte jedoch keineswegs dazu führen, dieses Thema in der anarchistischen Praxis zu vernachlässigen, sondern vielmehr dazu anregen, sich mit größerem Engagement den Herausforderungen herrschaftsfreier Verhältnisse zwischen Menschen und anderen Lebewesen zu widmen.