Die Konstitution des demokratischen Staates durch den Akt des Zur-Wahl-Gehens

Anlässlich der anstehenden Landtagswahlen in Bayern veröffentlichen wir hier einen Artikel von différⒶnce muc, der in unserer letzten Ausgabe leider keinen Platz mehr gefunden hat, den wir aber dennoch für beachtenswert halten:

Von différⒶnce muc

Der Akt des Zur-Wahl-Gehens ist ein ganz besonders Ereignis in der Beziehung der demokratischen Bürger*innen zu ihrem Staat. Das gängige Narrativ der Demokrat*innen sieht in diesem Ritual nichts geringeres als eine Heraufbeschwörung der Staatsmacht, denn mit der Abgabe seiner*ihrer Stimme überträgt der*die Bürger*in seine verfassungsrechtlich verbriefte Macht [1] auf eine*n Vertreter*in, der*die daraufhin als Teil des Staates jene Macht gegenüber der Bevölkerung mittelbar wieder ausübt. Dieser Vorstellung zufolge nimmt der Akt des Zur-Wahl-Gehens die besondere Funktion der regelmäßigen Re-Legitimierung oder auch Re-Konstitution des Staates durch seine „mündigen“ Bürger*innen [2] ein.

Vor diesem Hintergrund soll in diesem Text untersucht werden, inwiefern die bloße Teilnahme an einer Wahl dazu geeignet ist, die Macht des dahinter stehenden Staates zu festigen, beziehungsweise inwiefern sich aus einer Praxis des bewussten Nicht-wählens bereits aufständische Perspektiven ergeben.

Die Tatsache, dass im folgenden hauptsächlich von zentraleuropäischen Staaten die Rede ist, ist der Tatsache geschuldet, dass ich bisher eine intensivere Beschäftigung mit Staaten in anderen Teilen der Welt versäumt habe. Ich gehe davon aus, dass es sich mit demokratischen – oder auch scheinbar demokratischen Staaten – in anderen Teilen der Welt grundsätzlich ähnlich verhält, denke aber dass es spezifische Unterschiede gibt, wie es sie ja auch im Vergleich der zentraleuropäischen Staaten untereinander gibt. Möglicherweise gelingt es mir in Zukunft dieses Defizit auszugleichen.

Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren

Ein schon in den deutschen Schulen vermitteltes Paradoxon der demokratischen Ideologie drückt sich in dem gängigen Ausspruch „Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren“ aus. Einerseits spiegelt sich in diesem Satz natürlich die Borniertheit der Wahlberechtigten wider, die ihr Privileg „wählen zu dürfen“ gar nicht als solches erkennen und damit alle nicht wahlberechtigten Gruppen marginalisieren, andererseits verklärt dieser Ausspruch den Ursprung der demokratischen Staatsmacht, der sogar gemäß des Grundgesetzes in den Wahlen selbst liegt, zu einer durch den Staat vermittelten Möglichkeit der Teilhabe an Wahlen. Anders ausgedrückt: Der*die Bürger*in, der*die die Möglichkeit des Zur-Wahl-Gehens nicht wahrnimmt, vergibt die ihr*ihm durch den Staat vermittelte Macht. Der Staat selbst wird dabei zu einer geschichtslosen und vor allem zu einer  apriorischen Institution, dessen Existenz innerhalb der demokratischen Ideologie nicht in Frage gestellt werden kann. Umgekehrt entpuppt sich die grundgesetzliche Behauptung „Alle Macht geht vom Volke aus“ dabei als Mythos, als ein oft beschworenes, aber niemals existentes Ideal. Werden Wahlen in der demokratischen Ideologie also überbewertet?

Auf jeden Fall! Die bei Wahlen gewählten Abgeordneten, die später eine Regierung bilden und als solche mittelbar Staatsmacht gegenüber der Bevölkerung ausüben werden, sind weder an ihre Wahlversprechen noch an ihre Grundsatzpositionen rückgebunden. Zugleich ist mitnichten gewährleistet, dass die Positionen einer*eines Abgeordneten in Parlament oder Regierung Beachtung finden. Der*die wählende Bürger*in übt durch das Zur-Wahl-Gehen also keine Macht aus, er überträgt vielmehr die mit seiner Stimme verbundene Macht an eine*n Abgeordnete*n und damit mittelbar an den Staat. Hier offenbart sich der phänomenale Irrtum eines Ausspruchs wie „Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren“, denn gerade diejenigen, die „wählen gehen“ übertragen ihre Macht ja an den Staat im Vertrauen darauf, dass dieser in ihrem Sinne handelt, während diejenigen, die an der Wahl nicht teilnehmen, sich zumindest der rituellen Ermächtigung des Staates verweigern. Wollte mensch dem Ausspruch also überhaupt eine Wahrheit abgewinnen, müsste er schon eher lauten „Wer wählen geht, darf sich nicht beschweren“.

Zur-Wahl-Gehen: Rituelle Re-Konstitution des Staates oder Mythos

Doch wenn es sich bei dem Statut „Alle Macht geht vom Volke aus“ nur um einen Mythos handelt, lässt sich dann überhaupt die These einer Re-Konstitution des Staates durch den Akt des Zur-Wahl-Gehens halten?

Einerseits lässt sich ein sichtbarer Machtverlust des Staates in den Fällen, in denen nur sehr wenige der in ihm lebenden Menschen Zur-Wahl-Gehen kaum feststellen: Die Re-Konstituierung des Staates findet also auch in diesen Fällen in einer Art und Weise statt, die die Macht des Staates erhält. Andererseits ist klar, dass der Staat einer beständigen Re-Konstituierung bedarf, das zeigen zahlreiche Beispiele herrschaftsfreier Zonen im Großen und im Kleinen, in denen der Staat seine Macht erst wieder gewaltsam herstellen muss. [3] Mit anderen Worten: Ein Staat dem sich die Menschen nicht freiwillig unterwerfen verliert seine Macht in dem Maße, dass es plausibel erscheint, dass er aufhört zu existieren, sobald sich ihm nur noch sehr wenige Menschen unterwerfen.

Eine Re-Konstitution des Staates findet also nicht nur anlässlich von Wahlen statt, sondern es handelt sich hier um einen kontinuierlichen Prozess. Jedes Mal, wenn wir die Staatsmacht (beispielsweise die Polizei) um Hilfe anrufen ist das ein performativer Akt, der zu einer Re-Konstituion des Staates beiträgt. Jeder Behördengang, jede politische Forderung an den Staat, jedes Mal, wenn wir wider unseren Willen Gesetze befolgen oder aufgrund von Gesetzen gegen andere Menschen vorgehen, indem wir ihnen mit Anzeige drohen oder sie gar tatsächlich anzeigen, ist Teil einer permanenten Re-Konstitution des Staates, denn bei all diesen Handlungen räumen wir dem Staat und seinen Institutionen implizit wie explizit Macht über uns und andere Menschen ein.

Und dennoch haftet der spezifischen Re-Konstitution des Staates bei Wahlen etwas besonderes an, möglicherweise gerade deswegen, weil den Menschen dann (zumindest unterbewusst) klar ist, dass hier eine Re-Konstitution des Staates stattfindet. Das verhilft den Wahlen vermutlich auch zu ihrem typischen rituellen Charakter mit Vorhersagen, Hochrechnungen, abendfüllenden Wahlsendungen im Fernsehen, aber auch Wahlplakaten, Wahlkampfveranstaltungen und schließlich Wahlparties. Von allen performativen Akten, die in ihrer Gesamtheit eine permanente Re-Konstitution des Staates bedeuten ist der Akt des Zur-Wahl-Gehens wohl der am meisten sichtbare und wahrgenommene, wenngleich kaum mehr bedeutend als andere re-konstitutive Handlungen.

Das Spektakel stören?

Diese herausragende Bedeutung des Zur-Wahl-Gehens, auch wenn sie nur in der Wahrnehmung herausragend ist, scheint auch für staatskritische Interventionen besonders geeignet zu sein. Die Tatsache, dass den Menschen anlässlich von Wahlen (zumindest unterbewusst) klarer denn je zu sein scheint, dass der Staat nur solange existiert, wie wir an ihn „glauben“ und ihm folgen, scheint ein geeigneter Anlass zu sein, um den Menschen diesen Charakter noch bewusster zu machen.

Mensch stelle sich vor, der Staat verlöre anlässlich von Wahlen tatsächlich kurzzeitig die Kontrolle. Was wäre anders? Die radikale Opposition der Menschen zum Staat wäre sichtbarer denn je, denn es wäre unmissverständlich klar, dass sich hier nicht das Nichteinverständnis der Menschen mit einer bestimmten Politik ausdrückt, sondern die Ablehnung jeder Politik im demokratisch-bürgerlichen Sinne. Die massive Gewalt derer der Staat bedürfte, um seine Ordnung wiederherzustellen würde unmissverständlich deutlich machen, dass es sich hier um einen Angriff auf die Souveränität des Staates handelt, aber auch, dass viele solche Angriffe geeignet sind, um selbst einen Staat mit all seinen (materiell existenten) Repressionsbehörden aus den Angeln zu heben.

Es könnte sich also lohnen, zukünftig auch durch intensive Kampagnenarbeit in das Spektakel einer Land- oder Bundestagswahl zu intervenieren und dabei gerade die Symbolkraft, die der Staat den Wahlen selbst verliehen hat, für sich zu nutzen.

Anmerkungen

[1] Vgl. Art. 20 Satz 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt. “

[2] Dabei sind die „mündigen“ Bürger*innen eines Staates keineswegs mit der in ihm lebenden Bevölkerung zu verwechseln. Menschen, die etwa in Deutschland leben und dementsprechend den Regeln dieses Staates unterworfen sind, haben nur dann ein Wahlrecht, wenn sie einen deutschen Pass besitzen, zum Zeitpunkt der Wahl 18 Jahre oder älter sind und nicht aus anderen Gründen (Beispiele dafür sind ableistische Gründe, bei denen Menschen aufgrund einer vermeintlichen Be_hinderung das Wahlrecht aberkannt wird oder auch repressive, bei denen ein Gericht Menschen als Teil ihrer Strafe für eine Gesetzesübertretung das Wahlrecht aberkennt) von der Wahl ausgeschlossen sind. Wahlberechtigt sind in den meisten Staaten also nur einige der in ihnen lebenden Menschen.

[3] Einige aktuelle Beispiele für solche herrschaftsfreien Zonen in Zentraleuropa sind etwa la ZAD, der Hambacher Forst, diverse Hausbesetzungen, uvm. Daneben gibt es immer wieder entstehende temporäre autonome oder herrschaftsfreie Zonen, etwa wenn sich Menschen ohne Erlaubnis des Staates die Straßen nehmen.