Über kommende Aufstände

Teil 1 der Artikelreihe „Über kommende Aufstände“ von Anna Kistin in Die Lifestyleanarchistin Nr. 01, 2017/2018

Wenngleich in unserer Gesellschaft überall Herrschaftsstrukturen sichtbar werden, ist es geradezu unmöglich, einen gemeinsamen Ursprung all dieser Herrschaft zu benennen. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind komplex und mindestens ebenso komplex sind die Strukturen der Herrschaft in dieser Gesellschaft. Zwar gibt es in Unternehmen, Behörden, Schulen, Vereinen und beinahe allen künstlich geschaffenen Strukturen klare Hierarchien, doch das Gesamtbild unserer Gesellschaft weißt keine solch klaren Hierarchien auf.

Sicher lässt sich zwischen Staat und Bürger*in ein klassisches Herrschaftsverhältnis mit klaren Hierarchien beobachten, beispielsweise immer dann, wenn Bull*innen die Gewalt ihres Staatsapparates gegen eine*n (vermeintliche*n) sogenannte*n Verbrecher*in richten, doch dieses Herrschaftsverhältnis bleibt solange abstrakt, bis es in den Handlungen einer Person, hier einer*eines Bull*in greifbar wird. Der*die Bull*in verkörpert in einem solchen Moment die (reale) Macht des Staates, legitimiert jedoch wird er*sie nicht von einer „höheren“ Stelle – auch wenn er*sie Befehle von dort entgegennimmt –, sondern durch die Ideologie der Mehrheitsgesellschaft. Diese Ideologie findet teilweise in den Gesetzen des Staates ihre Manifestation, teilweise ist sie als unverschriftlichtes Normen- und Wertesystem der Gesellschaft manifest.

Die temporäre Ausübung von Herrschaft durch eine*n Bull*in – analog gilt das natürlich für Richter*innen, Lehrer*innen, Sachbearbeiter*innen in Ämtern, Vereinsvorsitzenden, usw. – ist also nur eine einzelne Herrschaftsbeziehung in einem Herrschaftssystem, die – zumindest in den meisten Fällen – indirekt durch diejenige*denjenigen über den*die Herrschaft ausgeübt wird, legitimiert wurde. Natürlich fügt sich nicht jedes Herrschaftsverhältnis in dieses staatliche System von Herrschaft ein. Hierarchisch gegliederte Strukturen von sogenannten „Verbrecher*innenbanden“, Religions- und Glaubensgemeinschaften, Neonazis, Autoritärkommunist*innen, usw. weisen zwar zum Teil deutliche Parallelen zum dominierenden, staatlichen Herrschaftssystem auf, sie bilden jedoch meist Parallelstrukturen von Herrschaft aus. Trotzdem weisen auch diese Parallelstrukturen häufig Beziehungen zum staatlichen Herrschaftssystem auf. Ebenfalls außerhalb des staatlichen Herrschaftssystems stehende Herrschaftsverhältnisse sind Herrschaftsbeziehungen zwischen zwei Individuen (bsp. patriarchale Herrschaftsverhältnisse), die sich nicht direkt aus dem staatlichen Herrschaftsgefüge ergeben, auch wenn sie meist ebenfalls eng mit ihm verbunden sind.

Ein solches Verständnis von Herrschaft, das zu konkretisieren eines eigenen Artikels, wenn nicht sogar eines ganzen Buches bedürfte – deshalb muss hier diese Skizze genügen –, impliziert jedoch auch eine entsprechende Herrschaftskritik, die sich in unserem Protest gegen Herrschaft niederschlagen muss. Vor allem impliziert sie jedoch eines: Die bloße Zerschlagung des Staates, die von „revolutionären“ Gruppen und Individuen propagiert wird, wird Herrschaft weder beenden, noch reduzieren, sie wird lediglich zu einer Wandlung des bestehenden Herrschaftssystems führen. Das soll nicht bedeuten, dass eine Zerschlagung des Staatsapparates nicht notwendig ist, um die Herrschaft über Menschen zu beenden, auch nicht, dass eine Zerschlagung des Staatsapparates nur zum richtigen Zeitpunkt in Betracht kommt, sondern vielmehr, dass der Aufstand gegen den Staat auch als Aufstand gegen die Gesellschaft begriffen werden muss.

Im Gegensatz zu vielen gängigen Sichtweisen, dass die Abschaffung des Staates in einem einzigen Aufstand – einer Revolution – stattfinden wird, auf den wir hinarbeiten müssen, scheint mir die Abschaffung von Herrschaft nach diesem Verständnis vielmehr in Tausenden, Millionen, Milliarden Aufständen, die überall stattfinden und die Menschen an ihre eigenen Herrschaftsverhältnisse erinnern und sie dazu inspirieren, ihre eigenen Ketten zu sprengen, realisierbar zu sein.

Das bedeutet aber auch, dass unsere Aufstände gegen Herrschaft auf allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden müssen. Dabei geht es darum, einzelne Herrschaftsverhältnisse und deren Wirkmechanismen in ihrem Gesamtzusammenhang hervorzuheben und nicht, eine vermeintliche Quelle aller Herrschaft zu identifizieren und damit ein Feindbild in die Welt zu setzen, das schließlich den Blick auf die Wirkmechnismen von Herrschaft verstellt. Weltverschwörungstheorien ebenso wie die romantisierte Vorstellung, scheinbare Antagonismen zwischen armen und reichen Menschen im „Klassenkampf“ zu überwinden, verhindern nicht nur eine echte Auseinandersetzung mit Herrschaft, sie dienen meist auch dazu, die eigene Unzufriedenheit auf ein einfaches Feindbild zu projizieren und führen dabei zu Diskriminierungen, also bestenfalls zu einer Verschiebung von Herrschaftsverhältnissen, nicht aber zu deren Beseitigung.

In meiner Artikelreihe möchte ich anhand einiger Aufstände gegen Herrschaftsverhältnisse in der Region München untersuchen, inwiefern diese geeignet sind, die Funktionsweise von Herrschaftsverhältnissen hervorzuheben. Gleichzeitig sollen diese auch auf ihre Reproduzierbarkeit untersucht werden. Das bedeutet nicht nur, dass eine einzelne Aktionsform möglichst barrierefrei von vielen Menschen dazu genutzt werden kann, Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen und aufzuheben, sondern auch, dass diese Aktionsform auf anders geartete Herrschaftsverhältnisse übertragen werden kann. Ziel ist es dabei nicht, eine einzelne Aktionsform für Aufstände gegen Herrschaftsverhältnisse jedweder Art zu finden – das würde den qualitativen Unterschieden diverser Herrschaftsverhältnisse nicht gerecht werden –, sondern vielmehr Kriterien zu entwickeln, nach denen die Reproduzierbarkeit einer Aktionsform bewertet werden kann.

Auf diese Art und Weise sollen einige Überlegungen zu den Aufständen der Zukunft angestellt werden, denn auch wenn es bereits heute hunderte von Aufständen, in denen Herrschaftsverhältnisse angegriffen werden, jeden Tag stattfinden, scheint ein Weg, diese Aufstände auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten bislang noch nicht gefunden.