Gegen ein Europa der Abschottung, gegen den rassistischen Normalzustand!

Anonyme Zusendung

In Deutschland und Europa vollzog und vollzieht sich während der letzten Jahre bis heute ein politischer Wandel. Extrem rechte Positionen sind in den letzten Jahren zunehmend stärker im öffentlichen Diskurs verankert worden, die gesellschaftliche Mitte hat sich bezüglich dieser Positionen zunehmend stärker enthemmt. Das hat auch institutionellen Niederschlag gefunden: Ultrarechte Parteien konnten beinahe überall in Europa Stimmen gewinnen und in die Parlamente einziehen, aber auch etablierte, gemäßigte Parteien und ihre Anhänger*innen haben sich zunehmend radikalisiert. Viele europäische Staaten befinden sich mitten in einem autoritären Umbau. Sie sind geprägt von innerer Aufrüstung, die sich beispielsweise in Deutschland durch eine Militarisierung der Polizei, eine Erweiterung polizeilicher Befugnisse um geheimdienstliche Tätigkeiten, einen Ausbau der Überwachung und Kontrollen, sowie verschärfte Strafgesetze offenbart. Zugleich schottet sich die EU nach außen ab, intensiviert den Schutz der EU-Außengrenzen und greift dabei zu drastischen Maßnahmen, die das Leben von Menschen gefährden.

Die Abschottungspolitik Deutschlands und der EU

Ertrinkende im Mittelmeer

Erinnerst du dich noch daran, als Anfang 2016 die damalige AfD-Chefin Frauke Petry den Einsatz von Schusswaffen gegen flüchtende Menschen forderte? Heute, rund 2,5 Jahre später ist Petrys damalige Provokation längst in der deutschen und europäischen Politik angekommen. Während in Deutschland eine „ergebnisoffene“ und menschenverachtende Debatte darüber geführt wird, ob es moralisch legitim ist, Flüchtende im Mittelmeer ertrinken zu lassen, ist letzteres bereits grausame Realität. Die Schiffe zahlreicher privater Seenotrettungsorganisationen werden derzeit in europäischen Häfen am Auslaufen gehindert und die, die sich noch auf offener See befinden, werden mit Flüchtenden an Board daran gehindert, europäische Häfen anzulaufen. Gegen zahlreicher Helfer*innen auf dem Mittelmeer werden Verfahren eröffnet. Sie werden wegen Schlepperei und Ähnlichem angeklagt und sollen damit wohl abgeschreckt werden. Unterdessen ist die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Menschen im Juni und Juli 2018, nachdem sich die Lage derart drastisch zugespitzt hat, dramatisch gestiegen: 629 Menschen sind alleine im Juni 2018 im Mittelmeer ertrunken. Im April und Mai 2018 waren es 109, bzw. 48 Menschen, im Januar, Februar und März 2018 waren es 234, 196 und 67 Menschen. ((Quelle: International Organization for Migration: Mixed Migration Flows in the Mediterranean vom Juni 2018, S. 47)) Das bedeutet im Juni 2018 sind mehr Menschen im Mittelmeer ertrunken, als in den fünf Monaten zuvor zusammen! Indem die EU-Länder die Schiffe der privaten Rettungsorganisationen daran hindern, auszulaufen wird der Tod dieser Menschen nicht nur in Kauf genommen. Um es juristisch nach den eigenen Gesetzen dieser Länder auszudrücken: Hier geht es um unterlassene Hilfeleistung!

Statt sich also wie von Petry 2016 vorgeschlagen der Schusswaffe zu bedienen, um unerwünschte Menschen aus Deutschland und Europa fernzuhalten, haben die EU-Staaten eine subtilere Methode gefunden. Das Resultat ist jedoch das gleiche: Massenhaft sterben Menschen im Mittelmeer, in Lagern für Flüchtende, an Hunger und in den Krisengebieten, aus denen viele zu fliehen versuchen, weil sich Europa abschottet, wohl wissend, dass das tausenden Menschen den Tod bringt.

Isolierung und Festhalten von Flüchtenden und Geflüchteten in Lagern

Natürlich ist das Sterben auf dem Mittelmeer nicht die einzige Folge deutscher und europäischer Abschottungspolitik. Innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen werden flüchtende Menschen in Lagern festgehalten, in denen menschen- und allgemein lebensfeindliche Zustände herrschen. Prominentes Beispiel für solche Lager ist Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Die Zustände dort sind mehr als prekär: Mehrere tausend Menschen, denen die Flucht in die EU gelungen ist, werden dort festgehalten, mit dem Ziel sie zu registrieren und dann zurück in die Türkei abzuschieben. Die Menschen müssen dort in Zelten leben – auch im Winter –, sie bekommen nicht genug zu Essen, die medizinische Versorgung ist katastrophal und sanitäre Einrichtungen, sowie der Zugang zu Wasser ist sind mehr als ungenügend. Kinder haben dort keinelei Zugang zu Bildungsangeboten und die in Moria festgehaltenen Menschen werden durch Stacheldrahtzäune von der dortigen Gesellschaft getrennt gehalten.

Das Lager Moria ist aber nur ein Beispiel. Mehrere solcher Lager außerhalb der EU-Grenzen sollen verhindern, dass flüchtende Menschen die EU überhaupt erreichen. So werden die Menschen förmlich dazu gezwungen, die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer anzutreten.

Und auch weit innerhalb der EU-Grenzen, beispielsweise in Deutschland, existieren hunderte, wenn nicht tausende Lager in denen Geflüchtete abseits der Mehrheitsgesellschaft und in vielen Fällen ebenfalls (optisch) durch Zäune und Stacheldraht von ihr getrennt gesammelt untergebracht werden. Ziel solcher Lager, das zeigen beispielsweise die sogenannten AnkERZentren (das steht für „Zentrum für Ankunft, Entscheidung, Rückführung“) ganz offen in der Namensgebung, ist es, Geflüchtete unter Kontrolle zu behalten, sodass diese möglichst einfach wieder zurück in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können.

Abschiebungen von Geflüchteten

Auch Abschiebungen gehören zur Abschottungspolitik der EU und Deutschlands: Die verhältnismäßig wenigen Menschen, denen es trotz aller Hindernisse gelungen ist, die EU und Deutschland zu erreichen, müssen den jeweiligen Behörden beweisen, dass sie einen „hinreichenden“ Grund für ihre Flucht haben. Was dabei als „hinreichend“ gilt ist nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Behörde zu Behörde, ja sogar von Sachbearbeiter*in zu Sachbarbeiter*in verschieden. Mit anderen Worten: Es sind völlig willkürliche Kriterien, nach denen entschieden wird, wer bleiben darf und wer nicht. Ziel der Politik ist jedenfalls, so wenige Menschen wie möglich hierzubehalten.

Wird der Antrag auf Asyl einer geflüchteten Person abgelehnt und diese weigert sich trotzdem das Land zu verlassen, kann es passieren, dass diese Person brutal abgeschoben wird. Teilweise passiert es auch, dass Menschen abgeschoben werden ohne dass über deren Asylgesuch entschieden wurde oder auch, dass einer Person die Ablehnung des Asylgesuchs mit der Abschiebung mitgeteilt wird. So wird den Menschen vielfach die Möglichkeit genommen, sich juristisch gegen die Ablehnung ihres Asylgesuchs zu wehren.

Gegen ihren Willen werden die Menschen bei einer Abschiebung in ihre (vermeintlichen) Herkunftsländer zurückgebracht, beispielsweise in eigens dafür gecharterten Flugzeugen. Zum Teil werden diese Menschen Tage zuvor festgenommen und müssen in Gefängnissen auf ihre Abschiebung warten.

Natürlich ist jede Abschiebung ein untragbarer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen! Teilweise gehen die Behörden der EU-Staaten, darunter auch deutsche Behörden aber sogar soweit, Menschen in Kriegsgebiete (beispielsweise nach Afghanistan) abzuschieben. In die gleichen Gebiete, in denen es etwa deutschen Polizist*innen nicht zuzumuten sei, sich längere Zeit aufzuhalten, weil das lebensgefährlich sein kann. Das ist eine besonders menschenverachtende Praktik!

Rassismus und Ausgrenzung auf dem Vormarsch in Deutschland und Europa

Die Abschottung Europas findet vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verschiebung des europäischen politischen Koordinatensystems nach rechts statt. In beinahe allen EU-Staaten haben sich rechte Positionen innerhalb der letzten Jahre im öffentlichen Diskurs verankert und dabei ultrarechte Parteien in die Parlamente befördert, während das gesamte etablierte Parteienspektrum ebenfalls nach rechts gerückt ist. In Deutschland beispielsweise ist es der AfD gelungen, in die Parlamente einzuziehen, während CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke zunehmend rassistischere Positionen vertreten und auch entsprechende Gesetze auf den Weg bringen. Der längst begonnene autoritäre Umbau des deutschen Staates wird von allen Parteien mit Regierungsverantwortung, meist von CDU/CSU und der SPD, aber auch von den Grünen und der Linken vorangetrieben.

Ähnlich sieht es auch in anderen Staaten der EU aus, teilweise ist die Entwicklung dort sogar weiter fortgeschritten: In Österreich ist es der FPÖ gelungen, eine Regierungsbeteiligung zu erringen, in Frankreich scheiterte die Front National zwar bei den Präsidentschaftswahlen, doch der amtierende Präsident Macron treibt den autoritären Umbau des Staates weiter voran. In Polen regiert die rassistische PiS-Partei seit 2015 alleine und in Italien ist es einem seltsamen Bündnis aus der rechtspopulistischen Lega und der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung gelungen, eine Regierung zu bilden. In Ungarn regiert die rechtspopulistische Partei Fidesz seit 2010 und hat eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament inne. In Spanien ist die rechtskonservative Partei Partido Popular derzeit stärkste parlamentarische Kraft.

Hauptagitationsfeld beinahe aller dieser Parteien sind rassistische Positionen und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Egal ob es um die angebliche „Islamisierung“ der EU geht, bei der antimuslimischer Rassismus gegen Geflüchtete agitieren soll, um antiziganistische oder antisemitische Positionen, die oft dazu dienen, Stimmung gegen Minderheiten der Bevölkerung eines Landes zu erzeugen, die Strategie der rechten Parteien geht wohl deshalb so gut auf, weil entsprechende Ressentiments und Rassismus tief in den jeweiligen Gesellschaften verwurzelt sind.

Schon deshalb kann es nicht ausreichen, die moralische Verwerflichkeit der von den Parteien vorgeschlagenen Maßnahmen zu kritisieren, um ihre Positionen zu delegitimieren. Solange der Rassismus in der Gesellschaft verwurzelt ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er in eliminatorische Formen umschlägt. Es ist notwendig, radikale Rassismuskritik zu üben und die Menschen dazu zu bringen, sich mit dem eigenen Rassismus auseinanderzusetzen, diesen zu hinterfragen und so nach und nach abzubauen.

Doch von einer solchen Rassismuskritik sind wir in Deutschland und Europa weit entfernt. Selbst weite Teile einer „radikalen Linken“ akzeptieren nicht, dass sie sich zuweilen rassistisch verhalten, geschweige denn die Mehrheitsgesellschaft. So werden rassistische Haltungen absichtlich nicht reflektiert und bestehen so weiter fort. Die Gesellschaft bleibt damit empfänglich für rechtspopulistische bis extrem rechte Positionen.

Handlungsmöglichkeiten

Antirassistischer, Antifaschistischer und Antiautoritärer Widerstand hat in den letzten Jahren viel Boden verloren. Weder ist es gelungen, die Erstarkung extrem rechter politischer Akteur*innen (etwa der AfD in Deutschland) zu verhindern, noch waren Proteste gegen autoritäre Gesetze und die rassitische Politik der Abschottung Europas besonders erfolgreich. Viele antifaschistische und antirassistische Strukturen stehen heute geschwächt da. In den letzten Monaten jedoch lässt sich ein kleiner Aufschwung beobachten: Die Proteste gegen die neuen Polizeiaufgabengesetze der Länder in Deutschland mobilisieren zahlreiche Menschen und angesichts der Festsetzung ziviler Seenotrettungsorganisationen in den EU-Häfen scheint sich gerade eine deutschland- und europaweite Massenbewegung gegen die Abschottungspolitik der EU zu etablieren.

Natürlich sind die Positionen der beteiligten Organisationen und Einzelpersonen an diesen Protesten im Allgemeinen nicht radikal und weitgehend genug. So wird zwar häufig ein Ende der Abschiebungen nach Afghanistan und in andere Kriegsgebiete gefordert, nicht aber ein sofortiger Stopp aller Abschiebungen. Der Rassismus der deutschen Gesellschaft wird nur selten und wenn doch dann nur unzureichend kritisiert und eine Abschaffung aller Lager, Grenzkontollen, Zuwanderungsbeschränkungen, usw. spielt nur innerhalb der radikalen Linken eine Rolle. Das ist kein Wunder, schließlich ist ein Großteil der Menschen, die an diesen Demonstrationen teilnehmen auf die ein oder andere Weise im klassischen Parteienspektrum verankert, das viele der Misstände überhaupt erst hervorgebracht hat.

Trotzdem sind gerade die Massenproteste ein geeigneter Ort um die eigenen, radikalen Positionen sichtbar zu machen und die Proteste entsprechend zu prägen. Dabei geht es nicht darum, Kompromisse einzugehen, sondern darum, auch in den gemäßigten „linken“ Diskurs zu intervenieren und dort antirassistische, antiautoritäre und antifaschistische Positionen sichtbar zu machen. Möglicherweise gelingt es auf diesem Weg, radikale Strukturen wieder nachhaltig zu stärken.

Deshalb wollen wir anregen, sich bei den derzeit anstehenden Massenprotesten, etwa den deutschland- und europaweiten Protesten gegen die Festsetzung ziviler Rettungsorganisationen in EU-Häfen unter dem Namen „Seebrücke“, zu beteiligen und diese um linksradikale Positionen zu erweitern. Wir glauben, dass eine solche Intervention in den Diskurs der gemäßigten „Linken“ dringend nötig ist, um möglicherweise eine der letzten Chancen wahrzunehmen, den rassistischen Konsens in Deutschland und Europa wirksam anzugreifen. Egal ob ihr einen antifaschistischen Block auf einer Großdemonstration organisiert, oder durch direkte Aktionen auf eure Positionen aufmerksam macht, wichtig ist, dass radikale Positionen gegen die rassistischen Zustände in Europa und die Politik der Abschottung endlich eine breite Zustimmung finden!