Die Rolle der Gefängnisse innerhalb der Gesellschaft

Von kA★oS München

Der folgende Artikel entstand im Rahmen der weltweiten Aktionswoche in Solidarität mit anarchistischen Gefangenen 2018 (solidarity.international). Auszüge daraus wurden in der Woche vom 23. bis 30. August 2018 als Flyer verteilt.

Stell dir vor dir würde von einem Tag auf den nächsten die Kontrolle über dein Leben genommen werden. Viele Entscheidungen, beispielsweise wann du isst, wann du schläfst, wann du andere Menschen treffen kannst – und welche anderen Menschen –, ob und welche Bücher du lesen darfst würden von anderen Menschen für dich getroffen. Stell dir vor, du würdest gezwungen werden, für einen Tageslohn von rund 8 Euro zu arbeiten und irgendwer würde dich trotzdem zwingen, einen Teil dieses Geldes zu sparen. Stell dir vor, es gäbe Menschen die du jeden Tag sehen musst, von denen du abhängig bist und die dich jederzeit verprügeln können – und die das auch tun –, ohne dass das Konsequenzen für sie hat. Stell dir vor, du wärst krank aber darfst erst in einer Woche zum Arzt. Für viele Menschen weltweit ist das und Schlimmeres bittere Realität. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und für viele sogar Jahr um Jahr.

Die Rede ist hier von Gefängnisinsass*innen. Die gibt es überall auf der Welt, in manchen Ländern gibt es mehr, in anderen Ländern weniger, aber immer handelt es sich um Menschen, die sich nicht konform zur jeweiligen Gesellschaft verhalten (haben), auffällig häufig auch um Angehörige marginalisierter Gruppen. Rund 10 Millionen Menschen befinden sich weltweit in Gefängnissen (vgl. World Prison Brief 2017), das sind rund 1,3 Promille (0,13 Prozent) der Weltbevölkerung. Dabei sind viele Menschen, die sich in gefängnisähnlichen Situationen befinden, etwa in diversen Lagern für flüchtende Menschen, in dieser Statistik überhaupt nicht berücksichtigt.

Die Situation der Gefangenen ist in jedem Gefängnis prekär! Viele Rechte, die andere Bürger*innen des jeweiligen Staates haben, gelten für Gefangene nicht. Auch grundlegende Menschenrechte werden systematisch missachtet. Ein Recht auf körperliche Unversehrtheit gibt es in Gefängnissen nicht: Die Haftbedingungen fördern Krankheiten, der Besuch bei einem*einer Ärzt*in ist oft erst Tage später möglich und die zahlreichen bekannten Übergriffe auf Gefangene durch das Gefängnispersonal sind keine Zufälle sondern ein zentrales Element des repressiven Gefängnissystems. Auch die Ausbeutung der Arbeitskraft Inhaftierter könnte kaum menschenverachtender sein: Arbeitsrechtliche Bestimmungen gelten im Gefängnis nicht. Die Gefangenen müssen für lächerlich niedrige Tageslöhne (teilweise etwa rund 8 Euro pro Tag) arbeiten, an vielen Orten dieser Welt werden sie für ihre Arbeit gar nicht bezahlt. Neben Arbeiten zur Aufrechterhaltung des Gefängnisbetriebs müssen viele Inhaftierte auch Arbeiten für Firmen verrichten, die von den sklavereiähnlichen Zuständen in den Gefängnissen gerne profitieren. Neben den Gängelungen durch das Gefängnissystem selbst erfahren Gefangene oft auch einen sozialen Ausschluss. Dabei sind es nicht nur bestehende Sozialkontakte, die oft unter aktiver Mitwirkung des Gefängnissystems im Laufe einer längeren Gefangenschaft zemürbt werden, sondern ein Gefängnisaufenthalt wirkt sich auch negativ auf zukünftige Sozialkontakte und Chancen der gesellschaftlichen Teilhabe aus: In vielen Bereichen der Wirtschaft werden Menschen später nicht mehr eingestellt werden, weil sie schon einmal im Gefängnis waren, viele Menschen verurteilen andere Menschen, die schon einmal im Gefängnis waren pauschal und wollen nichts mit ihnen zu tun haben und zuweilen stehen ehemaligen Strafgefangenen bestimmte Angebote der öffentlichen Hand nicht mehr zur Verfügung.

Das alles sind keine Missstände, die nur in den Gefängnissen von für menschenfeindliche Handlungen bekannten Diktaturen beobachtet werden können. Es sind Zustände, wie sie hier in Deutschland, sowie fast überall auf der Welt herrschen. Sicher gibt es qualitative Unterschiede zwischen den Gefängnissystemen der Länder, aber die hier beschriebenen Zustände sind eine Art Konsens aller Länder, von dem es fast nur Abweichungen nach unten gibt.

Gefängnisse sind ganz eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Institution der Unterdrückung, selbst wenn weite Teile der Gesellschaft keinerlei Vorstellung von den Zuständen in Gefängnissen haben, befürworten sie diese. Übrigens ist es bei näherem Hinsehen keineswegs außergewöhnlich, dass die Menschen kaum eine Vorstellung davon haben, wie der Alltag in den Gefängnissen, die sie befürworten, aussieht. Beinahe alle konkreten repressiven und gewaltvollen Maßnahmen, die eine Gemeinschaft zu ihrem (vermeintlichen) Schutz vor „den Anderen“ gutheißt, finden hinter den Vorhängen statt. Das bedeutet es gibt kaum – und wenn doch, dann keinesfalls objektive – mediale Berichterstattung, das Ganze findet meist abseits der Blicke der Gesellschaft statt und die Betroffenen der Maßnahmen werden oft so sehr eingeschüchtert, dass sie es nicht wagen, von ihren Erfahrungen zu berichten oder sie werden daran anderweitig gehindert (beispielsweise können Personen, die abgeschoben werden über ihre Behandlung in Deutschland kaum mehr berichten, aber auch Menschen in Gefängnissen haben kaum Möglichkeiten, Menschen außerhalb von ihren Erfahrungen zu erzählen – teilweise weil sich einfach keine Person für sie interessiert, teilweise wird Post in der von Missständen in den Gefängnissen berichtet wird auch angehalten oder geht „verloren“). Tatsächlich interessieren sich die meisten Menschen aber schlicht nicht für die prekären Lebensbedingungen von Gefangenen. Und wenn sie doch einmal unfreiwillig von den Missständen in Gefängnissen erfahren, wischen sie diese Kenntnis beiseite, indem sie von einer „gerechten Strafe“ oder „Notwendigkeit“ sprechen.

Das Gefängnis als ein Ort der „gerechten Strafe“ steht übrigens nicht in Widerspruch zu dem verbreiteten Bekenntnis zu „Resozialisierung“. Vielfach bedeutet das schließlich nichts anderes als eine Person unter Ausübung von Zwang (beispielsweise durch einen Gefängnisaufenthalt oder durch Bewährungsauflagen) dazu zu bringen, sich konform zur umgebenden Gesellschaft zu verhalten. Neben der Tatsache, dass das eine autoritäre Maßnahme zur Normierung der Mitglieder einer Gesellschaft ist, ist auch klar, dass dieses Unterfangen bei vielen Menschen scheitern muss: So werden beispielsweise in Deutschland PoC schlicht aus rassistischen Gründen als nicht zur Gesellschaft gehörig bzw. „abweichend“ betrachtet. Das ist ein gesellschaftliches und institutionelles Problem. Deshalb werden diese Menschen stärker beobachtet, öfter kontrolliert und zum Teil auch aus willkürlichen Gründen verhaftet. Die Folge: Diese Personengruppen sind in Gefängnissen überrepräsentiert, was wiederum die in der Gesellschaft vorhandenen rassistischen Vorurteile befeuert. Insgesamt ist zu beobachten, dass in Gefängnissen zumeist ein deutlich größerer Anteil der Inhaftierten Angehörige marginalisierter Minderheiten sind, als Angehörige der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft.

Das gibt auch Aufschluss über die eigentliche Rolle von Gefängnissen in unserer Gesellschaft. Sie sind zugleich das wohl härteste Instrument zur gewaltsamen Unterdrückung von „abweichendem“ Verhalten das dem Staat zur Verfügung steht, sowie ein Ort für all diejenigen, die von der Gesellschaft verstoßen wurden. Ziel eines Gefängnisaufenthalts ist es immer, die inhaftierte Person zu brechen und sie der gesellschaftlichen Norm anzupassen. Ist das nicht möglich, beispielsweise weil die Person aus rassistischen Gründen im Gefängnis sitzt, wird das Gefängnis zu einem Ort der Zerstörung dieser Person: Der gewaltsame Gefängnisalltag erfüllt dann nur noch den Sinn, die betroffene Person herabzuwürdigen und sie dem Bild, das die Gesellschaft von ihr hat, gleichzumachen. Für diese Personen ist das Gefängnis der Ort, an den sie von einer Gesellschaft, in der es (scheinbar) keinen Platz für sie gibt, verwiesen wurden.

Alle Gefangenen sind politische Gefangene!

Call for Papers: Die bayerische Landtagswahl als Indikator für den gesellschaftlichen Rechtsruck

Ende September planen wir die zweite Ausgabe der Lifestyleanarchist*in herauszugeben. Darin wollen wir uns schwerpunktmäßig mit der im Oktober anstehenden Landtagswahl in Bayern beschäftigen. Natürlich sind wir weder daran interessiert, welche Partei wohl als Gewinnerin oder Verliererin aus dieser Wahl hervorgehen wird, noch interessieren wir uns für die üblichen Wahlkampf-Schmutzkampagnen der Parteien. Vielmehr glauben wir, dass die Landtagswahl in Bayern und ihre Begleiterscheinungen wichtige Indikatoren dafür sind, wie weit der gesellschaftliche Rechtsruck in Deutschland fortgeschritten ist.

Vor dem Hintergrund dass der autoritäre Umbau des deutschen Staates zunehmend schneller voran geht, finden wir uns in einer weitestgehend neuen Situation mit möglicherweise völlig veränderten Rahmenbedingungen wieder. Während wir zunehmend stärker gezwungen sind, bloße Abwehrkämpfe gegen autoritäre Veränderungen zu führen, drängen sich vor allem auch Strategiefragen in den Vordergrund: Welche Mittel eignen sich um gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck anzukämpfen? Welche Positionen sind überhaupt noch anknüpfungsfähig? Können wir uns in die von uns erkämpften Räume zurückziehen und auf bessere Zeiten warten, oder ist eine Offensive nötig?

Wenn ihr auf diese Fragen eine Antwort habt oder euch vielleicht ganz andere Themen im Zusammenhang mit der bayerischen Landtagswahl im Oktober beschäftigen freuen wir uns auf eure Artikel oder andere Beiträge. Aber natürlich dürft ihr uns für die kommende Ausgabe auch ganz andere Beiträge zu den Themen, die euch interessieren zusenden.

Wir bitten euch, uns eure Beiträge bis 01. September zuzuschicken oder wenigstens bis dahin Rücksprache mit uns zu halten, wenn ihr mehr Zeit benötigt.

Die Lifestyleanarchist*in Nr. 01

Endlich! Die erste Ausgabe des anarchistischen Magazins Die Lifestyleanarchist*in ist da. Ihr könnt die elektronische Ausgabe hier herunterladen oder die Artikel direkt online lesen. Printausgaben findet ihr in wenigen Tagen in einigen der linken Räume in München. Wenn ihr die Printausgabe in einem öffentlichen Raum auslegen wollt oder eure ganz persönliche Ausgabe haben möchtet, schreibt uns einfach eine E-Mail.

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Inhaltsübersicht

Unser Haus, Unser Viertel, Unsere Stadt! Perspektiven linksradikaler Wohnraumpolitik

Von Für Lau Haus in Die Lifestyleanarchistin Nr. 1, 2017/2018

Zuerst veröffentlicht unter http://fuerlauhaus.blogsport.eu/texte/unser-haus-unser-viertel-unsere-stadt-perspektiven-einer-linksradikalen-wohnraumpolitik/

 

Wohnraumpolitik, das ist ein innerhalb der radikalen Linken in München inhaltlich nur sehr spärlich besetztes Thema [1]: In den wenigen Freiräumen, die sich die radikale Linke selbst über Jahre geschaffen hat, oder die von anderen geschaffen wurden, hat mensch es sich bequem gemacht. Diese Freiräume sind wichtig, das soll nicht in Frage gestellt werden, aber indem sich die radikale Linke darin verschanzt, verpasst sie auch die Teilhabe an aktueller Wohnraumpolitik und die Chance, neue Freiräume für sich selbst und andere zu schaffen. Unterdessen verschärft sich in München nicht nur die Mietsituation, sondern auch unkommerzielle Räume müssen kommerziellen weichen, Gebäude in beliebten Stadtvierteln verkommen zu Spekulationsobjekten und der Kampf gegen diese Misstände verliert sich in ebenso albernen, wie abstrakten Forderungen der Parteien, Leerstand müsse in bezahlbare Wohnungen (gemeint sind Wohnungen, die für Geringverdiener_innen vollkommen unerschwinglich sind) umgewandelt werden [2].

Die Folge sind unterschiedliche Verdrängungsprozesse: Menschen, die sich Wohnungen in der Stadt nicht (mehr) leisten können, werden immer weiter in die Außenbezirke verdrängt und diejenigen, die es schaffen, die Miete für ihre Wohnungen im Zentrum der Stadt irgendwie aufzubringen, werden dort vom sozialen Leben isoliert, weil sie sich den Aufenthalt in kommerziellen Räumen, für die entweder Eintritt bezahlt werden muss, oder in denen Konsumzwang herrscht, schlicht nicht (mehr) leisten können. Eigentlich Grund genug für linkspolitisches Engagement in diesem Bereich. Doch wo lässt sich dabei ansetzen? Fest steht: eine emanzipatorische Bewegung kann sich nicht damit begnügen, Forderungen an Politiker_innen zu stellen, sondern muss sich die eigenen Freiräume selbst erkämpfen.

Aber wie lassen sich Freiräume in München erkämpfen? Eines der wirksamsten Mittel zur Erkämpfung von Freiräumen, die Hausbesetzung, scheint dabei auszuscheiden. Die Zeiten in denen es ohne weiteres möglich war, ein Haus oder eine Wohnung zu besetzen und darin nicht nur unbehelligt zu wohnen, sondern auch nach eigenen Vorstellungen zu leben – das beinhaltet schließlich meist unweigerlich, dass es dort auch öffentliche und/oder halböffentliche Räume gibt, was wiederum bedeutet, dass das im Rahmen einer stillen Besetzung (fast) unmöglich und mit hohen Risiken verbunden wäre –, sind längst vorbei. Die sogenannte Münchner Linie [3] verhindert, dass eine Besetzung nicht nur Sympathien, sondern auch eine feste Verankerung in der Nachbarschaft aufbauen kann. Schlechte Voraussetzungen für eine Hausbesetzung und den damit verbundenen Kampf um Freiräume und Wohnraum? Oder brauchen wir nur neue Konzepte?

Eine öffentliche Hausbesetzung trotz „Münchner Linie“, das muss mensch für etwa so besonnen halten, wie mit dem Kopf gegen eine Wand zu hämmern. Sicherlich erregt das Aufmerksamkeit in der Bevölkerung und schafft eine gewisse Präsenz von wohnraumpolitischen Themen, aber die Kosten dafür sind schlichtweg zu hoch. Wer sich gegen das mit martialischem Aufgebot anrückende USK zur Wehr setzt, muss mit Gefängnisstrafen rechnen [4], wer sich widerstandslos aus dem Haus werfen lässt, muss mindestens mit einer Geldstrafe [5] rechnen. Zudem muss mensch wohl in jedem Fall mit blauen Flecken, Knochenbrüchen, Platzwunden, usw. rechnen, denn wenn mehrere Dutzend angriffslustige Bullen mit Maschinenpistolen, Kettenhemden, Schilden und Holzstangen in ein besetztes Haus stürmen, bleibt sicher kein Auge trocken. Allerdings gibt es Alternativen zu einer „echten“ Hausbesetzung, bei der die Besetzer_innen auch tatsächlich im Haus bleiben. Bei einer sogenannten Scheinbesetzung werden die Bullen in dem Haus keine Person mehr vorfinden (das schließt natürlich nicht aus, dass es ihnen erschwert wird, das Gebäude zu betreten). Haben die Besetzer_innen in dem Haus keine Spuren hinterlassen, die der Polizei eine Identifizierung ermöglichen, bleiben Sie dabei von unnötiger Repression verschont und können in aller Ruhe die nächste Aktion vorbereiten. Dabei kommt die „Münchner Linie“ den Besetzer_innen bei einer Scheinbesetzung sogar entgegen: Weil das entsprechende Gebäude innerhalb von 24 Stunden geräumt werden muss und weil die Bullen (in dieser Zeit) nie sicher sein können, dass in dem Haus tatsächlich keine Besetzer_innen auf sie warten, müssen sie in ihrer Einsatzplanung immer so planen, als gäbe es Besetzer_innen in dem Gebäude. So wird also auch bei einer Scheinbestzung ein verhältnismäßig großer Polizeieinsatz ausgelöst, was einerseits große öffentliche Aufmerksamkeit generiert und andererseits hohe Kosten verursacht. Über einen längeren Zeitraum stehen die Verantwortungsträger_innen bei der Polizei also vor der Entscheidung, die Münchner Linie aufzugeben und (Schein-)Besetzungen nicht mehr ernst zu nehmen – damit wäre die Grundlage für eine echte Besetzung geschaffen –, oder aber durch viele Scheinbesetzungen in Atem gehalten zu werden und ein Phantom zu jagen, wie es die Boulevardpresse so treffend beschrieben hat [6].

Aber zumindest auf Dauer bleiben Scheinbesetzungen eine reine Protestform gegen Missstände in der Wohnraumpolitik ohne die Menschen tatsächlich in die Lage zu versetzen, selbstbestimmt neue Freiräume und Wohnraum zu schaffen. Wenn es mit Scheinbesetzungen nicht gelingt, mehr als eine kritische Öffentlichkeit gegenüber Leerständen zu schaffen, stumpft auch diese Protestform mit der Zeit ab. Wenn es jedoch gelingt, einen größeren Teil der Menschen dazu zu inspirieren, selbst aktiv gegen Leerstände, zu hohe Mieten und lebensfeindliche Zustände für Menschen mit (zu) wenig Geld zu werden und sich dabei nicht auf Bitten gegenüber irgendeiner Obrigkeit zu beschränken, sondern selbstbestimmte Lösungen zu suchen, wird es dem Staat selbst mit den repressivsten Mitteln kaum möglich sein, sie aufzuhalten.

Neben Aktionsformen wie Scheinbesetzungen, die einen verhältnismäßig hohen Planungsaufwand erfordern und deshalb nicht ohne weiteres reproduzierbar sind bedarf es also vor allem auch niedrigschwelligen Formen des Protestes, die von allen Menschen auch ohne lange Vorbereitung reproduziert werden können. Ob kreativ oder militant, legal oder illegal, für eine große Öffentlichkeit oder nur für wenige Passant_innen sichtbar, es liegt in der Vielfalt der Aktionsformen eine Reproduzierbarkeit des Protestes zu gewährleisten.

Dabei sind die Ziele der Menschen keineswegs einheitlich, aber das müssen sie auch nicht sein. Der_die Eine kämpft für bezahlbaren Wohnraum, die_der Andere möchte kostenlos wohnen. Wieder Andere kämpfen für Freiräume und gegen eine Kommerzialisierung ihres Viertels und der ganzen Stadt.  Dabei bleibt jedoch ein gemeinsamer Nenner: Wir alle wollen mehr Teilhabe und Selbstbestimmung. Alleine werden wir nichts davon erreichen, wir werden aus unseren Wohnungen geworfen, wenn wir die steigenden Mieten nicht mehr aufbringen können, wer sollte uns dabei unterstützen diese zu behalten? Wenn wir unser Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Teilhabe jedoch als Teil eines kollektiven Interesses begreifen und uns solidarisch in unseren Kämpfen unterstützen, wenn aus der Parole „Das ist unser Haus“ mehr wird, etwa „Das ist unser Viertel“ oder „Das ist unsere Stadt“, dann stehen wir kurz davor, all unsere Interessen zu verwirklichen.

Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Zunächst ist es wichtig, die zahlreichen Kämpfe um Wohn- und Lebensraum in unserer Stadt sichtbar zu machen. Jeder Mensch, der_die um seinen_ihren eigenen Wohn- und Lebensraum kämpft, soll sehen, dass er_sie nicht alleine ist. Geben wir unserem Protest viele Stimmen und beenden jede Verdrängung von Menschen aus unserer Stadt gemeinsam!

Anmerkungen

[1] Das soll die wichtige Arbeit, die Gruppen und Individuen in diese Richtung in den letzten Jahren geleistet haben, keinesfalls abwerten, sondern nur darauf aufmerksam machen, dass nur wenige Gruppen und Personen in den letzten Jahren zu diesem Thema gearbeitet haben.

[2] Und natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, aber nur sehr wenige.

[3] Die sogenannte „Münchner Linie“ legt fest, dass ein besetztes Gebäude innerhalb von 24 Stunden geräumt werden soll.

[4] So passiert, als sich Lukas, Steffi und Sven Ende Juni 2007 bei einer Hausbesetzung gegen das anrückende USK verteidigten. Siehe http://hausbesetzerinnensoli.blogsport.de/

[5] In den meisten Fällen werden diese Menschen wohl eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch bekommen (vorausgesetzt, dass der_die Eigentümer_in Strafantrag deswegen stellt). Sofern die Bullen glauben, dass zum Betreten das Hauses außerdem eine Tür oder ein Fenster kaputt gemacht wurde, kann auch eine Anzeige wegen Sachbeschädigung hinzu kommen.

[6] Die Bild titelte am 02.10.2017: „Hier jagt die Polizei mal wieder den Phantombesetzer“, nachdem 45 Polizist_innen eine Scheinbesetzung des Für LⒶu Hauses geräumt hatten.

 

 

Fahr‘ Scheinfrei

Dieser Text erschien unter dem Titel „Unsere Ziele“ zuerst auf der Webseite der Kampagne „Fahr‘ Scheinfrei“ und wurde in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 01, 2017/2018 abgedruckt.

 

Wir wollen einen fahrscheinfreien öffentlichen Personenverkehr für alle Menschen. Eigentlich überall, aber etwas kurzfristiger wollen wir dieses Ziel vor allem in München und Region erreichen. Dabei wollen wir keinen Pflichtbeitrag aller Menschen in der Region, keine neue Steuer und keine anderen direkten Kosten für die Menschen, die den öffentlichen Personenverkehr nutzen. Stattdessen wollen wir, dass der öffentliche Personenverkehr, der auch im Moment bereits staatlich subventioniert und getragen wird, vollständig aus staatlichen Geldern finanziert wird. Wie das im Detail abläuft, dafür gibt es unterschiedliche Lösungen, so könnten beispielsweise die Kosten, die bei einer vermehrten Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und dem daraus resultierenden Rückgang des Individualverkehrsmittelaufkommens im Straßenbau eingespart werden können, dazu verwendet werden, einen fahrscheinfreien öffentlichen Personenverkehr zu realisieren.

Unabhänig davon jedoch, wie fahrscheinfreier öffentlicher Personenverkehr finanziert wird, klar ist für uns, dass endlich Schluss sein muss mit den diskriminierenden Fahrpreisen, die zahlreiche Menschen willkürlich in ihrer Mobilität einschränken. Wer sich nämlich keinen Fahrschein leisten kann und womöglich außerhalb der Zentrumsregionen wohnt oder Alternativen wie Fahrradfahren aus anderen Gründen nicht nutzen kann oder will, der*die wird vom öffentlichen Leben strukturell ausgeschlossen. Langfristig führt das zu einer Verdrängung dieser Menschen aus der Region München.

Geschuldet ist diese Entwicklung der Tatsache, dass weder Verkehrsbetriebe, noch Politik, noch die meisten Menschen überhaupt daran denken, dass Menschen durch teure Fahrscheine diskriminiert werden könnten. Zum Teil empfinden Menschen dieses Denken gar als fair. Sie argumentieren damit, dass ja alle den gleichen Beitrag zahlen müssten. In ihrem Leistungswahn vergessen diese Menschen allerdings, dass die Voraussetzungen für ein solch erhabenes Gleichheitsdenken mitnichten gegeben sind und auch, dass ein solches Denken die Menschen auch dann in den engen Grenzen einer gesellschaftlichen Norm einsperren würde.

Wir haben weder Lust uns durch gesellschaftliche Normen in unserer Entfaltung einschränken zu lassen, noch sehen wir ein, warum eine Diskriminierung von Menschen durch Fahrscheine notwendig sein soll, außer wenn sie der gezielten Unterdrückung von Menschen mit geringen oder keinen finanziellen Möglichkeiten dient. Dies wird noch einmal deutlicher, wenn mensch sich die Anzahl der Personen, die in Deutschland eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, ansieht. Ersatzfreiheitsstrafen werden dann vollzogen, wenn eine Person eine von einem Gericht verhängte, strafrechtliche Geldstrafe ganz oder teilweise nicht bezahlen kann. Anstelle der Geldstrafe muss diese Person dann in Haft. Zum Stichtag 31. August 2017 waren in Deutschland insgesamt 4700 Personen in einer Haftanstalt, weil sie eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten mussten. Das sind über 10% aller Inhaftierten. Typischerweise ist ein großer Teil dieser Inhaftierten wegen einer Geldstrafe wegen § 265a StGB („Erschleichen von Leistungen“), also fahrscheinfreiem Fahren, in einer der Strafanstalten. Zusätzlich gibt es natürlich auch Urteile, bei denen Menschen vor allem wegen wiederholtem fahrscheinfreien Fahren direkt zu Haftstrafen verurteilt werden. Die Bestrafung des fahrscheinfreien Fahrens kann dabei als ein Repressionsmittel gegen arme Menschen angesehen werden.

Wir streben mit unserem Engagement gegen Fahrscheine im öffentlichen Personenverkehr also auch eine Entkriminalisierung von Armut an. Dabei hoffen wir jedoch nicht auf die Unterstützung durch die Politik. Diese ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass es diese Kriminalisierung von Menschen, die sich keinen Fahrschein leisten können, überhaupt gibt. Wir sind jedoch der Meinung, dass wir gemeinsam dennoch in der Lage dazu sind, die Verantwortungsträger*innen dazu zu zwingen, ein sinnloses Fahrscheinsystem aufzugeben, wenn wir uns einfach alle über die Fahrscheinpflicht hinwegsetzen. Stellt euch vor, alle würden ohne Fahrkarte fahren. Würden dann alle dafür verurteilt werden? Sicher nicht. Und es gäbe noch andere Effekte: Würden alle ohne Fahrkarte fahren, würden die Verkehrsbetriebe wohl auch die Kontrollen einstellen, die bringen dann ja ohnehin nichts, und vielleicht würden die Fahrkarten dann auch endgültig abgeschafft werden.

Warum Schwangerschaftsabbrüche endlich legalisiert werden müssen

Von Kili Mandscharo in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 01, 2017/2018

Zuerst veröffentlicht unter http://antisexistischeaktionmuenchen.blogsport.eu/perspektiven/warum-schwangerschaftsabbrueche-endlich-legalisiert-werden-muessen/

 

„Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten … ist Ausdruck einer Geschichte, in der weibliche Körper, Gebärfähigkeit und Sexualität regelmäßig unterworfen und zum Gegenstand von Politik und Regulierung gemacht werden.“
(Broschüre „Gender raus“ der RLS) 

Im Netz und auf der Straße hetzen selbst ernannte „Lebensschützer*innen“ (1) gegen Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen und Feminist*innen, die sich für das Recht auf Selbstbestimmung einsetzen. Mit dem Einzug der „Alternative für Deutschland“ (AfD) in den Bundestag, hat die zunehmend radikaler auftretende Szene eine weitere Stimme im Parlament erhalten – ein Parlament, das so männlich ist, wie lange nicht. Knapp 31 Prozent der Abgeordneten sind Frauen*, niedriger war der Frauen*anteil zuletzt nur nach der Wahl 1994.

Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung sind Abtreibungen in Deutschland noch immer illegal. Die Nichtverfolgung der Straftat ist heute durch einen Zusatz im Paragraph 218 des Strafgesetzbuches geregelt und an Auflagen und Bedingungen gebunden. So muss sich die ungewollt Schwangere vor dem Eingriff beraten lassen und eine Sperrfrist einhalten. Unter den genannten Umständen sehe ich viele Zeichen dafür, dass das Recht auf Abtreibung auf wackeligen Beinen steht, denn konservative Stimmen überwiegen während feministische Impulse weitgehend fehlen. Letzteres soll dieser Beitrag sein … ein Impuls verbunden mit der Forderung, Schwangerschaftsabbrüche endlich zu legalisieren.

Eines möchte ich vorab klarstellen … ich bin weder für noch gegen den Vorgang der Abtreibung an sich. Es handelt sich bei einem Schwangerschaftsabbruch stets um einen schwerwiegenden Eingriff. Mir wäre es am liebsten, wenn kein Mensch diesen Eingriff vornehmen lassen müsste. Warum ich dennoch für eine Legalisierung plädiere und kämpfe, will ich im Folgenden umschreiben.

Der Körper der Frau* als Objekt völkischer Propaganda   

Schon die Nazis nutzten den weiblichen Körper für ihre Propaganda. Da ist die Rede vom „Mutterleib als Keimzelle des Volkes“ oder dass „das Volk im Mutterleib stirbt“. Frauen* kommt in diesem Narrativ die Rolle der Mutter zu, die möglichst viele gesunde Kinder für den deutschen Volkskörper zu produzieren habe.

Und heute? Im Wahlkampf 2017 wirbt die extrem rechte AfD mit Plakaten auf denen eine  schwangere Person zu sehen ist. Dazu steht dort: „Neue Deutsche? Machen wir selber“. Und auch Anfang 2018 bedienen Rechtspopulist*innen bis extrem Rechte das traditionsreiche rassistische Narrativ vom schwarzen/fremden Mann*, der die weiße Frau* bedroht. So zu sehen beim so genannten „Marsch der Frauen*“ in Berlin oder in Videos der „Identitären Bewegung“. Da wird von „unseren Frauen* und Kindern“ gefaselt, die vor „zugewanderten Vergewaltiger*innen“ geschützt werden müssten. Ausgeblendet wird, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt nichts ist, was nach Deutschland gebracht wurde, sondern ein schon immer existierendes strukturelles Problem unserer Gesellschaft ist.

Schwangerschaftsabbrüche und Selbstbestimmung sind Rechten ein Dorn im Auge. Frauen* entziehen sich einfach so ihrer Kontrolle, schaden dem „Volkskörper“ indem sie abtreiben oder sich auf „Fremde“ einlassen und so den „großen Austausch“ vorantreiben. Und schwups sind wir wieder ganz bei der Rassenideologie der Nazis.

Solange das Recht auf Abtreibung und damit Selbstbestimmung auf derart wackeligen Beinen steht, wird diese Ideologie immer weiter gefüttert werden können und auf fruchtbaren Boden fallen. Eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wird die Position von Frauen* stärken und die Instrumentalisierung des weiblichen Körpers beenden.

Überwindung medizinischer Stigmata

Ja, ungewollt Schwangere müssen heute nicht mehr nach Holland fahren, um einen Abbruch vorzunehmen. Jedoch obliegt es noch, oder wieder dem Zufall, wie und wo mensch in Deutschland versorgt wird. Das Angebot sinkt und es gibt immer weniger Kliniken, in denen Schwangere Hilfe finden. Das hat  mehrere Ursachen. Bereits in ihrer Ausbildung spielt das Thema Abtreibung im Lehrplan für Fachärzt*innen nur eine untergeordnete Rolle. Viele Jungärzt*innen können gar keine Abtreibungen mehr vornehmen. Ärzt*innen, die fähig und bereit sind Abtreibungen vorzunehmen, sehen sich nicht selten Anfeindungen und Drohungen radikaler Abtreibungsgegner*innen gegenüber. Lokales Beispiel ist die Hetze gegen Dr. Stapf, der in München Freiham seine Klinik hat und regelmäßig mit so genannten „Lebensschützer*innen“ zu tun hat. Ein anderes Beispiel ist der Fall von Kristina Hänel, die nach §219a StGB angezeigt und verurteilt wurde. Der Paragraf regelt, dass für Abtreibungen nicht geworben werden darf und kriminalisiert so Ärzt*innen, die schlicht ihren Beruf ausüben. Da eine Abtreibung keine Kassenleistung oder medizinische Dienstleistung ist,  werden zudem Fehler im Zusammenhang mit dem Eingriff strafrechtlich verfolgt und nicht nach dem sonst üblichen Arztrecht.

Die Folge ist, dass es in Deutschland mittlerweile Orte gibt, wo ungewollt Schwangere eine Tagesreise oder mehr auf sich nehmen müssen, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen möchten. Eine Recherche der Tageszeitung taz offenbart, wie schwierig es schon heute sein kann, Hilfe zu finden.  So gab es in Bayern 2015 in drei von sieben Regierungsbezirken keine einzige Klinik, die Schwangerschaftsabbrüche im Leistungskatalog hat. Dazu kommt, dass laut Schwangerschaftskonfliktgesetz jede*r Ärzt*in das Recht hat, den Eingriff ohne Angabe von Gründen nicht durchzuführen, wovon manche Ärzt*innen in letzter Zeit öffentlichkeitswirksam Gebrauch machten. Unter einem „ausreichenden Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen“, wie es der Gesetzgeber vorsieht, verstehe ich etwas anderes.

Wenn es also immer weniger Kliniken gibt, müssen Betroffene länger auf Termine warten, dabei sagt der Gesetzgeber: „[Der] Eingriff [sollte] auch aus medizinischen Gründen so früh wie möglich vorgenommen werden können.“ Bis zur neunten Schwangerschaftswoche ist noch ein medikamentöser Abbruch möglich, danach muss unter Betäubung bzw. Vollnarkose ein operativer Eingriff vorgenommen werden.

Nur eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kann das medizinische Stigma aufheben. Sie ist der einzige Weg, um eine flächendeckende und professionelle Versorgung sicherzustellen.

Keine Kassenleistung, keine Kostenübernahme

Eine Abtreibung kostet in Deutschland zwischen 200 und 600 € je nach Eingriff und Kasse. Je nach Indikation übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Geringverdienende können einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Wenn keine medizinische Indikation (Gefährdung der Schwangeren aufgrund der Schwangerschaft) vorliegt und keine Vergewaltigung festgestellt wurde, muss die Betroffene die Kosten selbst tragen.

Würden Abtreibungen legalisiert und aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, wäre es einfacher, sie zu einer Kassenleistung zu machen, auf die ungewollt Schwangere einen Anspruch haben.

Den Mantel des Schweigens lüften

Ich habe vor einiger Zeit die Dokumentation einer jungen Frau* gesehen, die sich in ihrem Entscheidungsprozess für oder gegen Abtreibung selbst begleitete und filmte. Im Lauf der Dokumentation lernt mensch sowohl ihre Mutter, als auch ihre Großmutter kennen und beide, so stellt sich heraus, hatten abgetrieben und keine der beiden hatte je zuvor darüber gesprochen. Die Gründe warum sie abgetrieben haben sind in meinen Augen irrelevant, wer sie wissen möchte, schaue sich bitte die Doku (ARD Doku „Drei Frauen, ein Geheimnis“) an. Die Dokumentation zeigt drei(!) Generationen, alle drei Frauen müssen die körperlichen und seelischen Schmerzen bis heute allein tragen und ich bin sicher, dass diese Geschichte kein Einzelfall ist und es tausende solcher Fälle gibt.

Eine Abtreibung ist noch immer ein gesellschaftliches Tabu und es ist eine einsame Entscheidung. Oder wie viele Personen kennst Du, die offen darüber sprechen, einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen zu haben? Öffentlich sprechen die wenigsten darüber. Spricht mensch doch darüber, wird mensch stigmatisiert: die hat doch ihr Leben nicht im Griff, wie kann sie nur?! Auch dieses Stigma trägt die Betroffene allein.

Eine Legalisierung kann, davon bin ich überzeugt, zu einer offeneren Debatte und öffentlichen Diskussion des Themas führen und so dazu beitragen, dass Betroffene nicht allein dastehen und stigmatisiert werden.

Selbstbestimmung muss es geben

Betroffenes Subjekt ist die ungewollt Schwangere, also entscheidet auch nur sie allein, ob sie die Schwangerschaft beendet oder das Kind austrägt. Warum glaubt eigentlich irgendwer, über Deinen oder meinen Körper bestimmen zu können? Frauen* werden behandelt als wären sie unmündige, unzurechnungsfähige Wesen, die scheinbar nicht in der Lage sind, eigenständige vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das sind Machtspielchen, die wir gemeinsam mit dem Patriarchat überwinden müssen. Fertig.

“Nur Frauen* können, wenn sie ihre Sexualität leben, mit dem Strafgesetzbuch in Kollision geraten. Dieses Unrechtsbewusstsein muss im Kopf der Frauen* ankommen,“ sagte Ines Scheibe im Interview mit Broadly und da müssen und werden wir ansetzen.

 

Selbstbestimmung jetzt – Abtreibung legalisieren – §218 abschaffen! 

Du willst Dich engagieren? Für Selbstbestimmung oder gegen Alltagssexismus kämpfen? Dann informiere Dich hier oder auf unseren weiterführenden Links, unterstützt Euch im Freundes-, Familien- und Kolleg*innenkreis und mach den Mund auf, wenn Du das nächste Mal Sexismus selbst erlebst oder beobachtest.

 

Anmerkungen

(1) Ich verwende die binäre Kategorie Mann/ Frau (bzw. männlich/ weiblich) nicht, um sie gegeneinander abzugrenzen oder die vermeintlich damit zusammenhängenden „natürlichen“ Zuschreibungen zu reproduzieren.

Geschlechterkategorien sind jedoch noch immer eine gesellschaftliche Realität, mit der wir immer wieder konfrontiert sind. Ich verwende das Sternchen, um auf die Problematik aufmerksam zu machen und meine damit cis-, trans- und inter-Personen. Keinesfalls möchte ich aber beanspruchen, im Namen dieser zu sprechen oder implizieren, dass ich bspw. den Sexismus, den diese Menschen im Alltag erleben, begreife oder widergeben kann.

Ich habe im Kontext dieses Artikels oft den Begriff „ungewollt Schwangere“ oder „Betroffene“ verwendet, da selbst ein gegendertes Mann*/Frau* nicht ausreicht, um alle betroffenen Gruppen zu umfassen. Trans-Frauen können nicht schwanger werden, trans-Männer hingegen schon. Spräche ich im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen ausschließlich von „Frauen“ (bezogen auf Personen mit Eierstöcken und Gebärmutter), dann spräche ich trans-Männern ihre männliche Identität ab, weil sie ja trotzdem irgendwie „Frauen“ seien, weil sie ja (potenziell) gebären können. Das erscheint mir falsch.

Zusätzlich erscheint mir der Überbegriff „Frauen“ im Sinne von „Menschen mit Eierstöcken und Gebärmutter“ zu weit und damit eigentlich auch nicht passend, weil es viele „Frauen“ gibt, die zwar eine Gebärmutter haben, aber aus verschiedenen Gründen nicht gebärfähig sind und sich nie mit diesem Thema auseinandersetzen mussten und/oder nie vor der Entscheidung standen.

Ich weiß, dass die Umsetzung nicht perfekt ist, versuche jedoch mit den mir zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln die Personen sichtbar zu machen, für die das Thema Schwangerschaft(sabbruch) präsent oder relevant ist.

(2) Fairerweise  muss mensch sagen, dass ein höherer Anteil von Frauen* nicht automatisch feministischere Politik bedeuten würde. Beatrix von Storch (AfD), eine der prominentesten Abtreibungsgegnerinnen Deutschlands, Silke Launert (CSU) oder Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) sprechen sich genauso gegen Schwangerschaftsabbrüche aus.

Quellen und weiterführende Links: 

  1. Zahlen zum Frauen*anteil im Bundestag: https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/mdb_zahlen_19/frauen_maenner/529508
  2. Vice Artikel: Warum Deutschland endlich Abtreibungen legalisieren muss. https://broadly.vice.com/de/article/zmvk3j/warum-deutschland-endlich-abtreibungen-legalisieren-muss
  3. taz Artikel zur Recherche von Kliniken und Versorgung: http://www.taz.de/!5386152/
  4. „Gender Raus“-Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung/ Heinrich-Böll-Stiftung: https://www.rosalux.de/publikation/id/37502/
  5. Selbstbestimmung und das Recht auf Abtreibung auf der Seite der Heinrich Böll Stiftung: https://www.gwi-boell.de/de/2016/04/14/selbstbestimmung-und-das-recht-auf-abtreibung
  6. Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG): https://www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html
  7. §218b https://dejure.org/gesetze/StGB/218b.html
  8. §218c https://dejure.org/gesetze/StGB/218c.html
  9. §219 https://dejure.org/gesetze/StGB/219.html
  10. SZ-Bericht über Stapf: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/praxis-gesucht-keiner-will-den-abtreibungsarzt-1.1978605#redirectedFromLandingpage

Über kommende Aufstände

Teil 1 der Artikelreihe „Über kommende Aufstände“ von Anna Kistin in Die Lifestyleanarchistin Nr. 01, 2017/2018

Wenngleich in unserer Gesellschaft überall Herrschaftsstrukturen sichtbar werden, ist es geradezu unmöglich, einen gemeinsamen Ursprung all dieser Herrschaft zu benennen. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind komplex und mindestens ebenso komplex sind die Strukturen der Herrschaft in dieser Gesellschaft. Zwar gibt es in Unternehmen, Behörden, Schulen, Vereinen und beinahe allen künstlich geschaffenen Strukturen klare Hierarchien, doch das Gesamtbild unserer Gesellschaft weißt keine solch klaren Hierarchien auf.

Sicher lässt sich zwischen Staat und Bürger*in ein klassisches Herrschaftsverhältnis mit klaren Hierarchien beobachten, beispielsweise immer dann, wenn Bull*innen die Gewalt ihres Staatsapparates gegen eine*n (vermeintliche*n) sogenannte*n Verbrecher*in richten, doch dieses Herrschaftsverhältnis bleibt solange abstrakt, bis es in den Handlungen einer Person, hier einer*eines Bull*in greifbar wird. Der*die Bull*in verkörpert in einem solchen Moment die (reale) Macht des Staates, legitimiert jedoch wird er*sie nicht von einer „höheren“ Stelle – auch wenn er*sie Befehle von dort entgegennimmt –, sondern durch die Ideologie der Mehrheitsgesellschaft. Diese Ideologie findet teilweise in den Gesetzen des Staates ihre Manifestation, teilweise ist sie als unverschriftlichtes Normen- und Wertesystem der Gesellschaft manifest.

Die temporäre Ausübung von Herrschaft durch eine*n Bull*in – analog gilt das natürlich für Richter*innen, Lehrer*innen, Sachbearbeiter*innen in Ämtern, Vereinsvorsitzenden, usw. – ist also nur eine einzelne Herrschaftsbeziehung in einem Herrschaftssystem, die – zumindest in den meisten Fällen – indirekt durch diejenige*denjenigen über den*die Herrschaft ausgeübt wird, legitimiert wurde. Natürlich fügt sich nicht jedes Herrschaftsverhältnis in dieses staatliche System von Herrschaft ein. Hierarchisch gegliederte Strukturen von sogenannten „Verbrecher*innenbanden“, Religions- und Glaubensgemeinschaften, Neonazis, Autoritärkommunist*innen, usw. weisen zwar zum Teil deutliche Parallelen zum dominierenden, staatlichen Herrschaftssystem auf, sie bilden jedoch meist Parallelstrukturen von Herrschaft aus. Trotzdem weisen auch diese Parallelstrukturen häufig Beziehungen zum staatlichen Herrschaftssystem auf. Ebenfalls außerhalb des staatlichen Herrschaftssystems stehende Herrschaftsverhältnisse sind Herrschaftsbeziehungen zwischen zwei Individuen (bsp. patriarchale Herrschaftsverhältnisse), die sich nicht direkt aus dem staatlichen Herrschaftsgefüge ergeben, auch wenn sie meist ebenfalls eng mit ihm verbunden sind.

Ein solches Verständnis von Herrschaft, das zu konkretisieren eines eigenen Artikels, wenn nicht sogar eines ganzen Buches bedürfte – deshalb muss hier diese Skizze genügen –, impliziert jedoch auch eine entsprechende Herrschaftskritik, die sich in unserem Protest gegen Herrschaft niederschlagen muss. Vor allem impliziert sie jedoch eines: Die bloße Zerschlagung des Staates, die von „revolutionären“ Gruppen und Individuen propagiert wird, wird Herrschaft weder beenden, noch reduzieren, sie wird lediglich zu einer Wandlung des bestehenden Herrschaftssystems führen. Das soll nicht bedeuten, dass eine Zerschlagung des Staatsapparates nicht notwendig ist, um die Herrschaft über Menschen zu beenden, auch nicht, dass eine Zerschlagung des Staatsapparates nur zum richtigen Zeitpunkt in Betracht kommt, sondern vielmehr, dass der Aufstand gegen den Staat auch als Aufstand gegen die Gesellschaft begriffen werden muss.

Im Gegensatz zu vielen gängigen Sichtweisen, dass die Abschaffung des Staates in einem einzigen Aufstand – einer Revolution – stattfinden wird, auf den wir hinarbeiten müssen, scheint mir die Abschaffung von Herrschaft nach diesem Verständnis vielmehr in Tausenden, Millionen, Milliarden Aufständen, die überall stattfinden und die Menschen an ihre eigenen Herrschaftsverhältnisse erinnern und sie dazu inspirieren, ihre eigenen Ketten zu sprengen, realisierbar zu sein.

Das bedeutet aber auch, dass unsere Aufstände gegen Herrschaft auf allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden müssen. Dabei geht es darum, einzelne Herrschaftsverhältnisse und deren Wirkmechanismen in ihrem Gesamtzusammenhang hervorzuheben und nicht, eine vermeintliche Quelle aller Herrschaft zu identifizieren und damit ein Feindbild in die Welt zu setzen, das schließlich den Blick auf die Wirkmechnismen von Herrschaft verstellt. Weltverschwörungstheorien ebenso wie die romantisierte Vorstellung, scheinbare Antagonismen zwischen armen und reichen Menschen im „Klassenkampf“ zu überwinden, verhindern nicht nur eine echte Auseinandersetzung mit Herrschaft, sie dienen meist auch dazu, die eigene Unzufriedenheit auf ein einfaches Feindbild zu projizieren und führen dabei zu Diskriminierungen, also bestenfalls zu einer Verschiebung von Herrschaftsverhältnissen, nicht aber zu deren Beseitigung.

In meiner Artikelreihe möchte ich anhand einiger Aufstände gegen Herrschaftsverhältnisse in der Region München untersuchen, inwiefern diese geeignet sind, die Funktionsweise von Herrschaftsverhältnissen hervorzuheben. Gleichzeitig sollen diese auch auf ihre Reproduzierbarkeit untersucht werden. Das bedeutet nicht nur, dass eine einzelne Aktionsform möglichst barrierefrei von vielen Menschen dazu genutzt werden kann, Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen und aufzuheben, sondern auch, dass diese Aktionsform auf anders geartete Herrschaftsverhältnisse übertragen werden kann. Ziel ist es dabei nicht, eine einzelne Aktionsform für Aufstände gegen Herrschaftsverhältnisse jedweder Art zu finden – das würde den qualitativen Unterschieden diverser Herrschaftsverhältnisse nicht gerecht werden –, sondern vielmehr Kriterien zu entwickeln, nach denen die Reproduzierbarkeit einer Aktionsform bewertet werden kann.

Auf diese Art und Weise sollen einige Überlegungen zu den Aufständen der Zukunft angestellt werden, denn auch wenn es bereits heute hunderte von Aufständen, in denen Herrschaftsverhältnisse angegriffen werden, jeden Tag stattfinden, scheint ein Weg, diese Aufstände auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten bislang noch nicht gefunden.

Maskulinistische Beißreflexe

Anonymer Beitrag in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 1, 2017/2018

Dass Sexismus nach wie vor eine große Rolle auch innerhalb linksradikaler Zusammenhänge spielt ist kein Geheimnis. Wenngleich offen sexistische und antifeministische Haltungen meist sehr schnell auf Widerstand stoßen und glücklicherweise nur sehr selten geduldet werden, sind vor allem bei internalisierten Verhaltensweisen sexistische Grundstrukturen zu beobachten, die es (nicht nur) Frauen* häufig verunmöglichen, sich ihre Freiräume zu erkämpfen.

Ich schreibe diesen Text als heterosexueller cis-Mann, ich bin weiß und able-bodied und kann im Grunde nicht behaupten, von irgendeiner der beschriebenen Diskriminierungsweisen ernsthaft betroffen zu sein. Wenn ich von meinen Beobachtungen berichte, tue ich das also nicht aus dem Blickwinkel einer betroffenen Person, auch nicht aus dem Blickwinkel eines neutralen Beobachters, sondern vielmehr aus dem Blickwinkel der diskriminierenden Person. Das soll nicht bedeuten, dass ich selbst bewusst diskriminierend handele, auch nicht, dass es sich bei geschilderten Beobachtungen um mein eigenes Verhalten handelt. Vielmehr bedeutet das, dass ich aufgrund meiner Sozialisation bei vielen beobachteten Verhaltensweisen Parallelen (zum Teil auch nur in Abstufungen) zu meinem eigenen (früheren) Handeln beobachte.

Mir ist klar, dass ich weder die beschriebenen Diskriminierungsformen besser schildern kann als Betroffene, noch bedarf es meiner Meinung nach einer Vermittlung zwischen Betroffenen und Handelnden. Mein Anliegen – wenn ich diesen Text nicht ausschließlich für mich selbst schreibe – ist es, die Notwendigkeit zur Selbstkritik, der in meinen Augen nur sehr wenige Männer* – d.h. genauer diskriminierende Personen – ausreichend gerecht werden, zu unterstreichen.

Ich werde von nun an zur Verdeutlichung dessen, dass ich von Verhaltensweisen spreche, die dazu beitragen vor allem Frauen* zu diskriminieren, und die meist bei Männern* zu beobachten sind, die weibliche Form verwenden, wenn ich von der Betroffenen* spreche und die männliche Form, wenn ich von dem Handelnden*, also von der diskriminierenden Person, spreche. Die Sternchen sollen dabei gleichzeitig unterstreichen, dass es sich hier um Geschlechtszuschreibungen (in meinem Text) handelt, die keineswegs eine Allgemeingültigkeit offenbaren, und Trans-Personen, die sich im Rahmen ihrer Gender-Expression zum Teil auch entsprechende Verhaltensweisen aneignen, sichtbar machen.

Der Titel meines Textes, „Maskulinistische Beißreflexe“, bezieht sich vor allem auf die Argumentationsstrategien von Handelnden*, die ihre diskriminierenden Handlungen auf eine bestimmte Art und Weise rechtfertigen. Der Begriff Maskulinismus ist dabei nicht im Sinne der Selbstbezeichnung maskulinistischer Strömungen zu verstehen, sondern er bezieht sich auf die antifeministischen Versatzstücke in diesen Argumentationen, die sich häufig in dem Vorwurf, Feministinnen* würden Männer* unterdrücken, zuspitzen lassen. Das ist natürlich ein nur selten geäußerter Vorwurf [1], trotzdem empfinde ich diese Zuspitzung als angemessen, weil sie einer*einem die Konsequenz dieser Argumentationsstrategien vor Augen hält. Dementsprechend gebrauche ich auch den Begriff Maskulinismus, der in diesem Zusammenhang nicht ausschließt, dass der Handelnde* sich selbst als antisexistisch oder „feministisch bis zu einem gewissen Grad“ versteht.

 

Die Verhaltensweisen mit denen ich mich in diesem Text näher auseinandersetzen will, lassen sich unter der gemeinsamen Bezeichnung Raumvereinnahmendes Verhalten zusammen-fassen. Das bedeutet, dass ein Handelnder* durch sein Verhalten so viel Raum einnimmt, dass sich eine Betroffene* dadurch unwohl fühlt. Dabei kann raumeinnehmendes Verhalten sowohl den geometrischen Raum betreffen, als auch im metaphorischen Sinne gemeint sein. Ein Absolutheitsanspruch, den ein Handelnder* in seiner Argumentation für sich in Anspruch nimmt ist damit also ebenso gemeint, wie auch eine tatsächliche Inanspruchnahme des geometrischen Raumes, indem sich ein Handelnder* beispielsweise so in einem Raum platziert, dass er Durchgangswege versperrt oder auch konkret einer Betroffenen* den Zugang zu irgendetwas, das sie gerade benötigt, versperrt.

Eigentlich bin ich der Meinung, dass Raumvereinnahmendes Verhalten zur Genüge beschrieben wurde, so dass ich hier nicht alle Facetten solchen Verhaltens darlegen muss, meiner Beobachtung nach ist es jedoch keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Handelnde* sich dessen bewusst sind, wenn sie Raum auf eine Art und Weise beanspruchen, die anderen diesen Raum streitig macht. Deshalb will ich in aller Kürze einige gängige Ausprägungen, die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, beschreiben:

Eine sehr verbreitete Form von raumvereinnahmendem Verhalten ist die tatsächliche Beanspruchung von geometrischem Raum. Damit ist nicht gemeint, dass große Menschen dieses Verhalten grundsätzlich reproduzieren. Vielmehr geht es darum, wo Menschen sich in einem Raum positionieren, also vor allem ob sie sich eine „Ecke“ suchen, in der sie sich selbst „aufräumen“, oder ob sie sich mitten im Raum positionieren und damit notwendigerweise raumvereinnahmend wirken. Auch spielt es eine Rolle, inwiefern eine Person Wege, die eine andere Person beansprucht selbständig freigibt und inwiefern sie die Intimsphäre anderer Personen achtet.

Ebenso wie ein Handelnder* auf eine derart körperliche Weise Raum vereinnahmen kann, ist es auch möglich, akkustisch Raum einzunehmen ohne dabei körperlich besonders präsent zu sein. Besonders lautes Sprechen, vor allem aber lautes Lachen unterstreicht die Präsenz des Handelnden*. Ich persönlich fühle mich in solchen Situationen immer an Dorffeste erinnert. Mein Vater und seine Fußballfreunde* saßen bei derartigen Gelegenheiten mit ihren Frauen* [2] zusammen an einem großen Tisch. Schon nach sehr kurzer Zeit waren die Frauen* jedoch nichts weiter als Zuschauer*innen des – na ja, Gespräch kann mensch es eigentlich nicht nennen – Geschehens. Schon die Lautstärke in der sich die Männer* am Tisch etwa darüber austauschten, welche „Heldentaten“ sie beim letzten Fußballspiel vollbracht hatten, vor allem aber das alles durchdringende, lautstarke Männer*lachen, verhinderte jede Beteiligung von Personen mit einem weniger ausgeprägten Stimmorgan – das betraf auch die ein oder andere männliche* Person, vor allem aber die Frauen* – am Gespräch. Kein Wunder, dass die Frauen* als erstes von diesen Veranstaltungen flüchteten, bis die Männer* gegen Mitternacht „unter sich“ waren. Natürlich bewegt sich das Geschilderte in einer anderen Dimension, aber auch innerhalb der radikalen Linken lässt sich zum Teil wahrnehmen, dass die Beteiligung von Frauen* an Diskussionen oft nachlässt, wenn bei einigen der Gesprächsteilnehmer*innen ähnliche Verhaltensweisen feststellbar sind.

Im Zusammenhang mit dem Versuch, dominantes Redeverhalten einzubremsen, indem beispielsweise quotierte Redner*innenlisten geführt werden, ist vor allem solch akkustisches raumvereinnahmendes Verhalten seltener geworden, sobald eine Diskussion jedoch nicht mehr moderiert wird, brechen oft die alten Verhaltens-weisen wieder hervor. Aber auch bei moderierten Diskussionen ist raumvereinnahmendes Verhalten selten verschwunden. Stattdessen haben sich entsprechende Verhaltensmuster teilweise auf die Art und Weise der Argumentation verlagert. Wer als Handelnder* gegenüber seinen Ansichten keine Einwände zulässt und dabei sein Gegenüber oft sogar herabsetzt, indem er entweder statt eines Argumentes in einer Art und Weise auf seine Erfahrungen verweist, die diese stärker würdigt als die Erfahrungen anderer, oder aber für die Anwesenden absichtlich unverständliche (Schein-) Argumente verwendet, vereinnahmt zumindest methaphorisch Raum innerhalb einer Diskussion.

 

Alle diese Formen von raumvereinnahmendem Verhalten finden – zumindest in linksradikalen Kreisen – sicherlich selten bewusst und mit dem Ziel anderen Personen den Raum streitig zu machen, statt. Trotzdem lassen sie sich immer wieder beobachten und sie stehen einer Gleichberechtigung der Geschlechter entgegen. Wird ein Handelnder* jedoch mit seinem Verhalten konfrontiert, so ist seine Reaktion häufig uneinsichtig. Vor allem dann, wenn ein Handelnder* sein Verhalten verteidigt, bekommt mensch immer wieder antifeministische Versatzstücke zu hören, die ich hier als „Maskulinistischen Beißreflex“ bezeichnen möchte. Besonders Personen, die sich selbst als Antisexisten*, nicht jedoch als Feministen* bezeichnen, kennzeichnen sich häufig durch Positionen, die denen von echten Maskulinisten erschreckend nahe sind.

Die häufigste Rechtfertigung solcher Handelnder* lautet etwa: „Als Antisexist spielt Geschlecht für mich keine Rolle. Ich behandle alle Menschen, egal ob Mann* oder Frau* gleich. Deshalb handle ich auch nicht sexistisch.“ Die Bitte darum, bestimmte Verhaltensweisen zu unterlassen stößt dann meist auf Ablehnung, weil sich der Handelnde* in seiner individuellen Freiheit eingeschränkt sieht. Auch ohne den konkreten Vorwurf, dass „Feministinnen* Männer* unterdrücken“, zu äußern, verdeutlich eine solche Ansicht antifeministische Denkmuster des Handelnden*.

Natürlich ist es ein erstrebenswertes Ziel, Geschlechter zu überwinden, wer als Handelnder* jedoch Frauen* genauso wie Männer* behandelt und dabei die eigene Position ebenso wie die Position seines Gegenübers ignoriert, reproduziert genau die internalisierten Verhaltensweisen, die die momentan herrschende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern manifestieren.

Deshalb ist es notwendig, dass auch Männer* Feminismus – nicht (nur) Antisexismus – zu ihrer Angelegenheit machen: Und zwar indem sie ihre eigene Position kritisch reflektieren, den materiellen Zuständen, die in einer erheblichen Ungleichheit der Geschlechter bestehen, endlich Rechnung tragen und diese bei sich selbst nicht länger verleugnen. Ohne Empowerment von Frauen* durch Männer* kann Feminismus sonst tatsächlich nur das bedeuten, was Maskulinisten so sehr befürchten: die Unterdrückung von wenigstens all denjenigen Männern*, die sich weigern, ihre Verhaltensweisen zu überdenken, zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen*!

Anmerkungen:

[1] Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Personen diesen Vorwurf in etwa diesem Wortlaut zur Sprache bringen. Auch von Personen, die sich selbst als „Antisexisten*“ bezeichen, kenne ich diesen Vorwurf.

[2] Ich führe die Frauen* hier bewusst als eine Art Anhang auf. Das tue ich nicht, um sie zu diskriminieren, sondern weil ich glaube, dass diese Darstellung ihre Position bei diesem Ereignis unterstreicht.

 

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»Heldengedenken«. Ein totes »Volk« beschwört seine Gespenster in der Sprache

Sprache und ihr Verhältnis zu »Kultureller Identität«

Ein Beitrag des Projekts différⒶnce muc in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 1, 2017.

A Language in which one can write a »Horst Wessel Lied« is ready to give hell a native tongue.

Steiner, George. »The Hollow Miracle«. Language and Silence. Essays in Language, Literature and the Inhuman. New Haven/London: Yale University Press, 1998. S. 99.

1 Einleitung

»Der Eichmann-Prozeß hat für einen Moment den Vorhang gelüftet, der die dunklere Seite zivilisierter Menschen zu verdecken pflegt,« [1] schreibt Norbert Elias und deutet damit bereits an, dass auch der Holocaust, jene grauenerregende Epoche der deutschen Vergangenheit, die unter anderem als »Zivilisationsbruch« [2] beschrieben wurde, nicht losgelöst von der Zivilisation, nicht als unerklärbare Ausnahme, sondern als ein eingeschriebener Bestandteil der Zivilisation zu betrachten ist. Ähnlich, »als verborgene Matrix, als nómos des Politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben,« [3] betrachtet auch Agamben die Lager als eingeschrieben in unsere Gesellschaft.

Eingeschrieben in unsere Sprache, also das Ausdrucksmittel »zivilisierter« Menschen schlechthin, haben sich bis heute auch jene Termini, die Zeugnis von den menschenfeindlichen Ressentiments des Nationalsozialismus ablegen. Es ist nicht nur die LTI, die Victor Kelmperer anhand seiner Notizbücher erarbeitet hat, und die bis heute in der Alltagssprache vorkommt, sondern es sind auch Redewendungen wie »Leben und leben lassen« oder »Reden ist Silber, schweigen ist Gold«, die die Deutschen an den Eingängen der Barracken in Auschwitz angebracht hatten, [4] und die heute gar Einzug in das Parteiprogramm der CSU [5] finden konnten – und das mit beinahe ebenso zynischen Bedeutungsebenen –, die die deutsche Sprache weiterhin beherbergt, als wäre nichts geschehen.

Ist es da ein Wunder, dass die deutschen Bürger*innen, Sprecher*innen eben jener deutschen Sprache, statt eines entschlossenen »Nie Wieder!« mit breiter Zustimmung reagieren, wenn extrem Rechte auch heute wieder eine »Festung Europa« fordern? [6]

Wenn aber die vom Nationalsozialismus geprägten Begriffe in der deutschen Sprache nicht nur weiterhin vorkommen, sondern auch als Propagandabegriffe einer erneut erstarkenden rechten Bewegung verwendet werden können und dabei, zumindest in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung, geradezu positiven Anklang finden, bedeutet das doch auch, dass es, zumindest im Hinblick auf die deutsche Sprache, womöglich aber auch im Hinblick auf andere Aspekte einer »deutschen Kultur«, nicht gelungen ist, alles dafür zu tun, dass sich die Shoa nicht wiederholt. [7]

Ist es die deutsche Sprache, die jene »Kulturelle Identität« stiftet, die jenen Wunsch nach einer »totalen Erneuerung auf allen Ebenen des völkischen Lebens« [8] aufkommen lässt? Ist es der heisere, fast metallene Klang jener Sprache, in der zusammengerottete Mobs »Merkel muss weg« oder »Abschieben« [9] brüllen, die die vollständige Subsumtion des Individuums unter einen phantasievoll heraufbeschworenen »Volkskörper« verlangt? Ist es die »Deutsche Sprache«, die die Gespenster des einst für tot erklärten, womöglich aber nur unter dem Einfluss des »Wirtschaftswunders« in Vergessenheit geratenen, »Volkes«, beschwört?

Während Rechtspopulist*innen unermüdlich die Beschwörungsformeln der LTI wiederholen, steigen die Gespenster auf und ganz leise lässt sich bereits eine neue Variation des Horst Wessel Liedes vernehmen.

Ziel dieser Arbeit ist es, die Rolle der Sprache bei der Bildung von »Kulturellen Identitäten« unter besonderer Berücksichtigung des gegenwärtigen Rechtsrucks in ganz Europa, mit einem besonderen Augenmerk auf Deutschland, und vor dem Hintergrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit und der daraus entstandenen Shoa, zu untersuchen. Leitfrage dieser Voruntersuchung soll also sein, inwiefern eine bestimmte Sprache geeignet ist, jene auf Ausgrenzung, ja auf Marginalisierung »des Anderen« abzielenden, »Kulturelle Identität« wiederzuerwecken, ja inwiefern eine solche »Kulturelle Identität« überhaupt nur durch eine Sprache, die mehr ist, als ein syntaktisches Vermittlungssystem, heraufbeschworen werden kann.

1.1 Warum ist die Sprache Ausgangspunkt dieser Untersuchung?

Dass politische und weltanschauliche Ansichten im allgemeinen nicht unabhängig von einer entsprechenden (Sub-)kultur vermittelt und getragen werden, ist durchaus keine neue Erkenntnis. Nicht von ungefähr zeichnete sich Kunst und Kultur in diversen totalen Herrschaftsverhältnissen durch eine besondere Zensur und Instrumentalisierung aus.

Auch in der Weltanschauung der sogenannten Neuen Rechten spielen Sprache und Kultur eine maßgebliche Rolle. Mit dem Begriff »Metapolitik« bezeichnen die Anhänger*innen dieser Ideologie einen Eingriff in den gesellschaftlichen Diskurs mittels »kulturpolitischer« Botschaften. [10] Sie sehen sich dabei selbst als »patriotische Gegenstimme zum allgemeinen Mainstream« [11] und hoffen, mittels der Etablierung und Neubesetzung von Begriffen wie »Reconquista«, »Festung Europa«, »der große Austausch«, usw. durch – selbst so bezeichnete – »ästhetische Interventionen«, [12] bei denen es sich meist um öffentlichkeitswirksame Aktionen wie »Flashmobs«/Improvisationstheater, Transparent/Aufkleber-Installationen und symbolische Besetzungen entsprechender Orte handelt, den gesellschaftlichen Diskurs weiter nach rechts zu verschieben. Doch nicht nur die Neue Rechte bedient sich ganz bewusst sprachlicher Ausdrucksmittel, um in der Öffentlichkeit für ihre Ziele zu werben. Auch Anhänger*innen (neo)nationalsozialistischer Weltanschauungen bedienen sich einer – oft von Chiffren durchzogenen – Sprache, die nicht nur auf eine Verherrlichung des Nationalsozialismus abzielt, sondern auch dazu dienen soll, die eigenen Ideen geeignet weiterzuvermitteln.

Die extreme Rechte setzt Sprache also ganz bewusst dazu ein, um ihre Ideologie zu verbreiten, aber bedeutet das auch, dass diese Ideologie erst durch Sprache entsteht, der Sprache also ein Beschwörungscharakter innewohnt? Bernhard Giesen und Kay Junge stellen in ihrem Essay »Vom Patriotismus zum Nationalismus« fest: »Die Behauptung der eigenen Identität und Geschichte wird nicht selten zur schwierigen Aufgabe. Kollektive Identitäten müssen erst freigelegt, kenntlich gemacht und symbolisch ›ausgeflaggt‹ werden – nur so können sie Anerkennung fordern und sich gegenüber Alternativen durchsetzen.« [13] Die extreme Rechte nutzt die ihr eigene Sprache also dazu, eine kollektive Identität symbolisch auszuflaggen, also gewissermaßen zu beschwören. Will mensch dieses Beschwörungsritual verstehen, müssen nicht nur die resultierenden, kollektiven Identitäten untersucht werden, sondern auch das Beschwörungsritual selbst. Aus diesem Grund wird hier eine Analyse ausgehend von der Sprache der extremen Rechten vorgelegt.

Neben der Sprache flaggt die extreme Rechte ihre kollektive Identität auch in anderen Schriftsystemen, wie beispielsweise in Form von Bildern und Videos, aber auch in Form von Musik und meist traditionsreichen Ritualen wie Tänzen und Fackelmärschen aus. [14] Dies sind neben der Sprache ebenfalls bedeutende Beschwörungsrituale, die in dieser Arbeit jedoch aus Platzgründen vernachlässigt werden müssen. In Anmerkungen und Rendbemerkungen wird jedoch gelegentlich auch auf besonders relevante Wechselwirkungen zwischen Sprache und Beschwörungsritualen in anderen Schriftsystemen verwiesen.

1.2 Methode

In dieser Arbeit soll herausgearbeitet werden, wie eine ganz bestimmte Sprache, der sich übergreifend fast alle Anhänger*innen der unterschiedlichen extrem rechten Strömungen bedienen und die zunehmend auch im gesellschaftlichen Diskurs verankert ist, dazu geeignet ist, extrem rechte Denkmuster, die zum größten Teil aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen, zu tragen. Dazu ist es erforderlich, zahlreiche nationalsozialistische, neurechte, rechtspopulistische und andere extrem rechte Text-, Bild- und Videoquellen auf Sprache und Inhalt hin zu untersuchen, um sprachliche Überschneidungen, Abgrenzungen und Einflüsse sichtbar zu machen. Selbstverständlich kann dabei nur eine verhältnismäßig geringe Auswahl an Quellen berücksichtigt werden. Um einen möglichst repräsentativen Querschnitt über die diversen, extrem rechten Strömungen abzubilden, wurde hier versucht, jeweils Quellen des historischen Nationalsozialismus in Bezug zu Quellen aus dem klassischen Neonazi-Spektrum, der Neuen Rechten, sowie rechtspopulistischer Strömungen zu setzen, um gemeinsame Denkmuster, sowie (bewusst gewählte) Anknüpfungspunkte festzustellen.

2 Beschwörungsformeln

2.1 Totengesänge

Wunsiedel. 2016. »Heldengedenken«! [15] Rund 300 Neonazis aus dem Umfeld der Kleinstpartei »Der III. Weg« marschieren mit Fackeln und Fahnen durch die Kleinstadt. Angeführt unter anderem von Martin Wiese, [16] der ein Birkenkreuz mit einem darauf befestigten Stahlhelm mit sich trägt, bewegt sich die selbsternannte »Neonazi-Elite« Deutschlands durch die Stadt und gedenkt ihren im 2. Weltkrieg gefallenen »Helden« der Wehrmacht, der Luftwaffe, der Marine, der Jugendverbände und denjenigen »Kameraden, die nach dem Ende des Krieges durch alliierte Mörderhand getötet« worden seien. [17] Die Ästhetik dieses Fackelzuges ist unverwechselbar. Auch wenn die verfassungsfeindlichen Symbole der NSDAP, der SS und des Nationalsozialismus im Allgemeinen nicht, oder nur vereinzelt, offen getragen werden und stattdessen mit Fahnen, Bekleidung und Transparenten des »III. Wegs« vertauscht wurden, bleibt kein Zweifel daran, dass die hier anwesenden Personen ganz bewusst jene grauenerregende Epoche der deutschen Geschichte verkörpern, deren Reinkarnation zu verhindern Adorno als oberstes Gebot allen politischen Unterrichts bestimmte. [18] Das unterstreicht auch das im Anschluss an diesen Fackelzug veröffentlichte Video des »III. Wegs«. [19] Darin wird fast die gesamte zweite Strophe des 1939 im Franz-Eher-Verlag, dem Zentralverlag der NSDAP, erschienenen Gedichts »Sie leben!« von Kurt Langner zitiert:

Sie leben // In jeder Fahne, der wir folgten, // Sie leben // In jedem Stahl, in jeder Faust. // Sie leben // In allen Stürmen, die uns grau umwolkten, // Die peitschend über Deutschland hingebraust. // Sie leben // In der Mutter stillen Tränen, // Sie leben // In der Jugend heißem Dank, // Sie leben // Im Glauben, Kämpfen, Hoffen und im Sehnen, // Im deutschen Herzen als Fanfarenklang […] [20]

»Tot sind nur jene, die vergessen werden.« [21] Das ist nicht nur der Untertitel dieses Gedenkmarschs, ein Satz, den die Mitglieder des »III. Wegs« und viele andere Neonazis nie müde werden, zu wiederholen, sondern eben auch ein performativer Akt. Erinnerungskultur, »Heldengedenken«, kann eben auch die Funktion eines Beschwörungsrituals erfüllen. Wenn die gefallenen »Helden« des Nationalsozialismus in den Fahnen, die heute Neonazis tragen, weiterleben, wenn sie »[i]m deutschen Herzen« [22] fortbestehen, lebt auch der Nationalsozialismus weiter. Victor Klemperer schreibt, dass sich »[d]ie Lehre vom totalen Krieg […] fürchterlich gegen ihre Urheber [wendet],« [23] wenn mensch »in jeder Fabrik, in jedem Keller militärisches Heldentum [bewährt], […] Kinder und Frauen und Greise genau den gleichen heroischen Schlachtentod, […] wie sich das sonst nur für junge Soldaten des Feldheeres schickte oder zustande bringen ließ, [sterben].« [24] Doch was für die Urheber*innen des totalen Kriegs selbst fürchterlich gewesen sein mag, ist für die damalige und heutige Propaganda von Nationalsozialisten*innen ein echter Glücksfall, bzw. gelungenes Kalkül. Denn für eine Ideologie, die statt freier Subjekte einen starken und geeinten »Volkskörper« heraufbeschwören möchte, ist es nur folgerichtig, dass dieser »Volkskörper« geeint, oder gar nicht, untergehen wird. Gefallene »Helden« leben in diesem »Volkskörper« weiter, denn wer für eine Idee stirbt, der*die wird wiedergeboren in deren Verwirklichung. »Heldengedenken« ist mehr als nur Erinnerung, mehr als ein Totengesang. Es ist ein Beschwörungsritual, in dem die Gespenster des Nationalsozialismus wiedererweckt werden und Besitz von den Lebenden ergreifen.

2.2 Vom »anerzogenen Schuldkomplex« zum »großen Austausch«

Dass es in der neonazistischen Tagespolitik nicht beim »Heldengedenken«, jenem Totengesang auf das »Dritte Reich«, bleibt, zeigt eine weitere, jährlich stattfindende Demonstration, der sogenannte »Tag der deutschen Zukunft«. Hier tragen Neonazis aus ganz Deutschland einmal im Jahr ihre Schreckensvision eines nationalsozialistischen Deutschlands spazieren. »Wir leiden unter einem anerzogenen Schuldkomplex, womit alle kollektiven Begehren im Keim erstickt werden«, [25] heißt es in einem Mobilisierungsvideo zum »Tag der deutschen Zukunft« 2016 in Dortmund. Auch hier ist also die Aneignung der Vergangenheit zentral für die Zukunftsvision der Neonazis, doch findet der sprachliche Akt der Gespensterbeschwörung deutlich versteckter statt, als wenn die Neonazis beim »Heldengedenken« in Wunsiedel »[den dahingegangenen Söhnen und Töchtern [ihres] Volkes] über Gräber hinweg [zu]rufen […]: ›Wir vergessen euch nicht, ihr lebt in unseren Herzen weiter!‹« [26] Und doch besteht das verbindende Element im Selbstverständnis der Neonazis in der Heraufbeschwörung einer gemeinsamen Vergangenheit: Sie wollen »die Jugend ohne Migrationshintergrund« [27] sein und berufen sich damit auf eine gemeinsame Ahnenkette, auf eine geografische Verbundenheit, die sowohl als »biologische«, als auch als »kulturelle« Verwandschaft interpretiert wird. [28]

Eine Spur authentischer klingt das bei der neurechten »Identitären Bewegung«, die dank ihrer Popularität sicherlich Vorbild für die Organisator*innen des »Tags der deutschen Zukunft« war, [29] wenn das gleiche Selbstverständnis auf bayerisch vorgetragen wird: »Mia san die Jugend ohne Migrationshintergrund«. [30] Doch diese »Jugend ohne Migrationshintergrund« soll, so erzählen extrem rechte Aktivist*innen der Identitären Bewegung und andere neurechte Vordenker*innen in Endlosschleife, ersetzt werden. Sie nennen das den »großen Austausch« und haben es längst geschafft, diese extrem rechte Terminologie auch im Diskurs der sogenannten »Mainstreammedien« zu etablieren. [31] Die »Identitäre Bewegung Österreich« hat eine Webseite zur »schonungslosen […] Enthüllung« des »großen Austauschs« veröffentlicht, [32] derzufolge der »große Austausch« im – von Politiker*innen und Medien bewusst inszenierten und verschwiegenen – »Austausch« der Bevölkerung »ohne Migrationshintergrund« durch »fremde Einwanderer« besteht. [33]

Auch die »Identitäre Bewegung Deutschland« spricht vom »großen Austausch« und verbindet diese Verschwörungstheorie in einem Video mit dem Titel »Zukunft für Europa« mit extrem rechter Kapitalismuskritik: »Ihr macht Menschen zur Ware, Kinder zu Objekten und erklärt Geschlechter und Familien für überflüssig«, [34] wirft Tony Gerber, Regionalleiter der »Identitären Bewegung Sachsen« den »Regierenden« vor und schlägt damit in die gleiche Scharte, in die auch die antisemitische, nationalsozialistische Kapitalismuskritik, wie sie beispielsweise in dem NS-Propagandafilm »Jud Süß« [35] oder dem ebenso antisemitischen NS-Propagandafilm »Die Rothschilds« [36] vorgetragen wird, schlägt. An die Stelle der Jüdinnen*Juden, die das »deutsche Volk« (und die ganze Welt) in einem konspirativen, gewissenslosen und menschenverachtenden Akt der persönlichen Bereicherung ins Verderben stürzen sollen, [37] treten hier zwar »die Regierenden« – und ggf. noch deren (unbenannte) Manipulator*innen –, doch wenn im gleichen Video von einer Verbundenheit durch eine »über tausend Jahre deutsche und europäische Geschichte«, [38] sowie der angeblichen Anerziehung von »Scham und Selbsthass« durch das Bildungssystem [39] die Rede ist, fällt es schwer, hier nicht nur von strukturellem Antisemitismus zu sprechen und nicht einen positiven Bezug auf den Nationalsozialismus zu erkennen. [40]

Doch nicht nur die Neue Rechte spricht von einem »großen Austausch«, auch nationalsozialistische Vertreter*innen bedienen sich dieser Verschwörungstheorie, wenngleich mittels etwas anderen Formulierungen. Der rechtskonservative, nationalsozialistische AfD-Politiker Björn Höcke beispielsweise betonte in seiner Rede zum sogenannten »Flügeltreffen am Kyffhäuser« im Juni 2015, dass er »die forcierte Transformation unseres Volkes in eine multikulturelle Gesellschaft« [41] ablehne. Ganz ähnlich hatte das zuvor auch ein*e Neonazi-Autor*in unter dem Pseudonym »Landolf Ladig« [42] geschrieben: »die befürwortete Transformation gewachsener Völker in multikulturelle Gesellschaften« sieht Landolf Ladig als einen Beleg für die »totale Hegemonie kulturalistischer oder behavioristischer Theorien innerhalb ›grüner‹ Gesellschaftsutopien«. [43] Was Höcke bzw. Ladigs Position von der der Neuen Rechten unterscheidet, bewegt sich hauptsächlich auf ideologischer Ebene: Während die Neue Rechte mit dem Begriff Ethnopluralismus für eine »kulturelle Reinhaltung« der Gesellschaften wirbt und die durch Grenzen bestimmte, gleichberechtigte Koexistenz verschiedener »Kulturen« forciert, setzt Höcke/Ladig als Anhänger der alten Rechten auf eine größere Bedeutung von Biologismen. [44] Doch auch wenn die Neue Rechte mit dem Begriff Ethnopluralismus versucht, sich vom Vorwurf des Rassismus im rassischen Sinne reinzuwaschen, ist ihre Argumentation strukturell eng verwandt mit der biologistischeren Variante der Nationalsozialisten*innen. In beiden Fällen werden Menschen anderer Herkunft abgewertet – im Falle einer ethnopluralistischen Argumentation eben territorial beschränkt, im Falle einer nationalsozialistischen Rassenideologie grundsätzlich –, in beiden Fällen erfolgt diese Abwertung pauschalisiert, aufgrund der Abstammung eines Menschen. Während Nationalsozialisten*innen dabei mit der »Blutlinie« der Menschen argumentieren, argumentieren Ethnopluralisten*innen der Neuen Rechten mit der kulturellen Prägung der Menschen, die von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden soll. In beiden Fällen ist also der Stammbaum eines Menschen maßgeblich für seine*ihre gesellschaftliche Auf- oder Abwertung.
Mit der Rede von einem »großen Austausch« wird versucht, eine nicht existente Gefährdungslage für die Bevölkerung – also im Sprech der extremen Rechten, für das »deutsche Volk« – künstlich heraufzubeschwören. Eng damit verbunden ist die Besinnung auf eine gemeinsame Identität, wie sowohl die »Identitäre Bewegung«, als auch Höcke/Ladig immer wieder betonen. [45] Doch welche Identität soll das »deutsche Volk« annehmen? Hierfür muss der Kampf um die Vergangenheit neu ausgefochten werden, denn sich mittel- oder gar unmittelbar auf den Nationalsozialismus zu berufen ist derzeit lediglich eine in kleinen Kreisen vermittelbare Identität. Deshalb fordert Höcke eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«, [46] während andere Neonazis von einem »anerzogenen Schuldkomplex« [47] sprechen, die Neue Rechte von einer Anerziehung von »Scham und Selbsthass« durch das Bildungssystem [48] spricht und in eher rechtspopulistischen Kreisen versucht wird, die »Kollektivschuld« als »moralisch-ethische[n] Kurzschluss« [49] abzutun. »Identität« bedarf also ganz offensichtlich einer Aneignung der Vergangenheit.

Wie weitgehend diese Aneignung der Vergangenheit ist, und auf welche ideologische Grundlage sich diejenigen stellen, die von der Angst vor einem herbeiphantasierten »großen Austausch« getrieben, eine Besinnung des »deutschen Volkes« auf seine »Identität« fordern, wird im Vergleich mit einem neueren Text des Antisemiten Horst Mahlers, den dieser auf der Internetseite »Aufstand gegen die Judenheit« veröffentlicht haben soll, deutlich: [50] Auch Mahler beklagt in seinem Text einen »Identitätsverlust« aufgrund des »Verlust[s] der Heimat« der »Wutbürger«, [51] vertritt jedoch anders als Höcke, der, in seiner »Dresdner Rede« zumindest. nur eine inhaltliche, keine strukturelle Fundamentalopposition forderte, [52] auch eine strukturelle Systemopposition, bei der ein »organische[r] Staat« geschaffen werden soll, in dem »die Besten [regieren]«, [53] »Entscheidungen zur Verwirklichung der Staatszwecke […] von oben nach unten [ergehen]« und »von unten nach oben [kontrolliert wird]«. [54] Mit anderen Worten: Ein nationalsozialistischer Staat, wie er etwa von Carl Schmitt in Publikationen zwischen 1933 und 1936 beschrieben wird. [55]
Der nationalrevolutionäre Umschwung kann dabei laut Mahler nur durch einen »Skandalisierungsfeldzug« gegen die »Satanistischen Verse des Mosaismus« erreicht werden, wodurch ein den »christlichen Europäern« während ihrer Kindheit durch den »Jüdischen Geist« ausgetriebener, »ethischer Diskriminierungsaffekt« wiedererweckt werden soll, der dann in einer »reifen revolutionären Situation«, in der die »Massen […] aus einer ethisch geprägten Stimmungslage heraus [in den politischen Prozeß eingreifen]« die »Diskriminierung«, das heißt übersetzt wohl »Vernichtung« der Jüdinnen*Juden garantieren soll. [56] Durchgeführt werden soll dieser »Skandalisierungsfeldzug« lauf Mahler »mit den Methoden der ›Spaßguerilla‹ kombiniert mit Aufmerksamkeitserregungsstrategien à la Greenpeace«. [57] Ob Mahler damit auf Aktionen der Identitären Bewegung, wie die Besetzung des Brandenburger Tors anspielt? [58] Fest steht für ihr auf jeden Fall, dass der »Skandalisierungsfeldzug« »nur von sehr kleinen Kampfeinheiten, […] [die] dezentralisiert aber vernetzt via Internet […] in das allgemeine Bewusstsein wirken«, [59] zu bewerkstelligen ist. Mittels einer Strategie wie die der Identitären Bewegung will Mahler die Bevölkerung also zu Pogromen gegen Jüdinnen*Juden anstiften, um anschließend ein nationalsozialistisches Regime zu errichten.
Was Mahler offen ausspricht, versucht Höcke einigermaßen zu verbergen, doch ganz gelingt ihm das nicht. Seine sprachliche Nähe zum historischen Nationalsozialismus verrät ihn ein ums andere Mal. Andreas Kemper hat Ende 2016 die nationalsozialistischen Wurzeln von Höckes Sprache untersucht und dabei zahlreiche Parallelen zu Begrifflichkeiten der nationalsozialistischen Ideologie aufgezeigt. [60]

Doch nicht nur im Bezug auf eine allgemeine Verherrlichung des Nationalsozialismus spricht Mahler offener aus, was er sagen möchte, als Höcke, wobei die Parallelen zwischen Höckes Sprache und der des historischen Nationalsozialismus im Vergleich mit Mahler umso deutlicher zutage treten. Auch der »eliminatorische Antisemitismus«, [61] den Mahler in seinem Text vertritt, weist in seinen Ansätzen erschreckende Parallelen nicht nur zu Höcke, sondern auch zu neurechten Denkern*innen auf. Mahler, als selbst ernannter Vertreter der teleologischen Geschichtsphilosophie Hegels, [62] ist sich sicher, dass es an der Zeit ist, eine neue Epoche der Weltgeschichte einzuleiten:

Ebensowenig kann der Ausweg aus der Krise im Sinne eines systematischen Paradigmenwechsels mit Verstandeskategorien noch gedacht werden, denn was für die unmittelbare Zukunft ansteht, ist die Einhausung eines höheren Bewusstseins Gottes von sich in die Welt in der Gestalt, die der Deutsche Idealismus erkannt hat und die im historischen Nationalsozialismus einen Vorschein von sich gegeben hat. [63]

Auch Höcke, bzw. Ladig hat in der Vergangenheit ähnlich argumentiert: Im Nationalsozialismus habe sich, so Ladig in der extrem rechten Zeitschrift »Volk in Bewegung«, di erste staatlich organisierte Antiglobalisierungsbewegung entwickelt. Deshalb sei Deutschland im 2. Weltkrieg auch von fremden Mächten überfallen worden, um eine Ausbreitung dieses Modells zu verhindern. [64] Mahler legt auch dar, was der Zweck dieser neuen Epoche sein soll und wer die Feinde dieser Entwicklung sind:

Das jetzt geforderte Vernunftdenken ist ausschließlich Domaine [sic] des Deutschen Volksgeistes und auf absehbare Zeit nur in diesem Volk zu reaktivieren. Der Feind der Menschheit, der vom Deutschen Vernunftdenken zu vernichten ist, war bisher sehr erfolgreich, dieses Denken zu verschatten. Er weiß seit langem, dass ihm vom Deutschen Volksgeist die Vernichtung droht. Schon seit mehr als Tausend Jahren richtet er an JAHWE die Bitte, er möge den Anschlag des edomitischen Germaniens vereiteln, ›das, wenn es ausziehen würde, die ganze Welt zerstören würde‹. [65]

Mahlers Ziel ist also die Vernichtung der Jüdinnen*Juden, wenn es ihm darum geht, einen nationalsozialistischen Staat zu errichten. Er unterstellt diesen, »seit mehr als 200 Jahren die verlustreichsten Kriege, von denen die Menschheit weiß, herbeiintrigiert« [66] zu haben. Das klingt ähnlich der Aussagen von Ladig/Höcke, Deutschland sei im 1. und 2. Weltkrieg von fremden Mächten überfallen worden. [67] Doch die Parallelen zwischen Höcke/Ladig und Mahler gehen noch viel weiter. Mahler setzt die »Judenheit«, wie das bereits vielfach in der Propaganda des Nationalsozialismus getan wurde, mit dem »globalistische[n] Finanzsystem« [68] gleich und spricht vom »Sonderinteresse des Mammonismus, das die weltanschauliche Gedankenwelt nach seiner Facon schneidert«, [69] um einen Satz später zu statuieren, dass in der spätkapitalistischen Gesellschaft »der ›Grundkonsens‹ von der Judenheit gesetzt und verwaltet« [70] würde. Ladig/Höcke sucht in seiner Kapitalismuskritik die vermeintlich Schuldigen auffällig häufig in der Finanzwirtschaft. so beklagt Ladig 2012 in der »Eichsfeld Stimme«, dass mensch »die Gier der Hochfinanz […] großzügig« [71] befriedige. 2008 schrieb Höcke in einem Leserbrief an die Junge Freiheit, dass es sich bei der »gegenwärtigen Krise« nicht um eine »des herrschenden Wirtschafssystems, also der Marktwirtschaft, sondern eine des korrespondierenden Geldsystems, des zinsbasierten Kapitalismus« handele. [72] Diesen Gedanken griff Landolf Ladig, also vermutlich Björn Höcke, im Jahr 2011 im Artikel »Krisen, Chancen und Auftrag« in der extrem rechten Zeitschrift »Volk in Bewegung« wieder auf und schrieb:

So ist denn die gegenwärtige Krise definitiv keine des herrschenden Wirtschafssystems, sondern eine des korrespondierenden Geldsystems, des zinsbasierten Kapitalismus. Dieses die Gier schamlos belohnende System ermöglicht enorme Buchgeldschöpfungen, gigantische Kapitalakkumulationen und globale Konzentrationsprozesse. Die Hochfinanz führt die wertschöpfende Realwirtschaft und die Politik am Nasenring durch die Manege. […] Die augenscheinliche Alternativlosigkeit läßt die Gefahr bestehen, daß die Geldeliten von heute wiederum die politischen Entscheider von morgen sein könnten […] [73]

Besonders die Aufteilung der Wirtschaft in »wertschöpfende Realwirtschaft« und »Hochfinanz«, [74] die die Politik am »Nasenring durch die Manege« führen soll, zeigt erschreckende Parallelen zu der Darstellung von Jüdinnen*Juden durch nationalsozialistische Propagandafilme wie »Jud Süß«, »Die Rothschilds« oder »Der ewige Jude«, aber auch zu Horst Mahlers Verständnis der »Judenheit«.
Auch aus der neurechten Ecke bricht sich immer wieder Antisemitismus in Form einer einseitigen Kritik des »Finanzkapitals«, dem das Versagen des gesamten Wirtschaftssystems zugeschrieben wird, bahn. Jürgen Elsässer, Chefredakteur des extrem rechten Compact Magazins, gründete 2009 die »Volksinitiative gegen Finanzkapital«, in deren Rahmen er ebenfalls eine Trennung zwischen »Industrie- und […] Bankkapital« [75] propagiert. Als Antwort auf einen angeblichen Angriff des »angloamerikanischen Finanzkapitals auf den Rest der Welt« fordert Elsässer den Aufbau einer »Volksfront, die das nationale, bzw. ›alt-europäisch‹ orientierte Industriekapital einschließt«. [76] Ihre Aufgabe sei die »entschädigungslose Nationalisierung des Finanzsektors und die Abdrängung der anglo-amerikanischen Finanzaristokratie aus Europa«. [77] In der Tendenz bewegt sich auch die Globalisierungskritik der Idnetitären Bewegung – namentlich die Verschwörungstheorie vom »großen Austausch« –, wie bereits weiter oben ausgeführt, in diese Richtung.

2.3 Die Errichtung der »Festung Europa«

»Festung Europa, macht die Grenzen dicht!«, skandiert ein mehrere hundert Personen starker Mob auf der Saalbrücke zwischen Freilassing und Salzburg. Unter dem Motto »Wir sind die Grenze« demonstrieren sie für eine Schließung dieser Grenze, um die Einreise von Flüchtenden nach Deutschland zu verhindern. Das Publikum dieser Demonstration ist innerhalb des extrem rechten Spektrums sehr breit aufgestellt: Vertreter*innen der Identitären Bewegung, die Wutbürger*innen diverser PEGIDA-Ableger und Mitglieder beinahe aller Strömungen der AfD sind anwesend. Dazu kommen einzelne Neonazis, die der Demonstration ebenso selbstverständlich beiwohnen dürfen, wie alle anderen Teilnehmer*innen.

Kein Wunder, denn erfunden hat den Kampfbegriff »Festung Europa« nicht die Neue Rechte, sondern die NS-Propaganda gegen Ende des 2. Weltkriegs. [78] Doch zumindest für die Neue Rechte ist das kein Grund, eine »Festung Europa« nicht nur zu fordern, sondern sich zum Teil auch in einem Akt der Selbstjustiz an einer »Sicherung« der Grenzen Europas zu beteiligen. Die extrem rechte Tatjana Festerling, frühere Frontfrau* bei PEGIDA in Dresden, sowie Gründerin* der europäischen Bürger*innenbewegung »Festung Europa«, bzw. » Fortress Europe«, schloss sich im Juli 2016 für einige Tage einer bulgarischen Bürger*innenwehr an, die in den Wäldern Bulgariens Jagd auf Flüchtende macht, um diese an die Granzschutzbehörden zu übergeben. [79] Die Identitäre Bewegung Österreich hat mit der Seite »grenzhelfer.in« eine ähnliche, wenngleich hauptsächlich symbolische Kampagne gestartet. Hier werden Österreicher*innen dazu aufgerufen selbst Zäune an den Grenzen Österreichs zu errichten und Absperrbänder zu installieren, sich als »Grenzwache« zu versuchen und in »Krisenzonen […] die Exekutive zu unterstützen«, sowie »illegale Aktivitäten« zu dokumentieren. [80]

Diese Kampagnen entsprechen dem Gesamtbild der Neuen Rechten und insbesondere der Identitären Bewegung. Gerade letztere hat sich seit ihrer Gründung in ihrer Ästhetik und ihrem Selbstverständnis immer wieder an dem gewaltverherrlichenden, sexistischen und rassistischen Spielfilm »300« orientiert, fast so als gäbe es keine theoretisch gefestigtere Basis für ihre Ideologie. Der Film beschäftigt sich mit dem historischen Ereignis der Schlacht bei den Thermopylen um 480 v. Chr., bei der – lauf Film [81] – rund 300 Spataner einem übermächtigen Heer des Perserreichs gegenübergestanden haben sollen. [82] Diese militärische Auseinandersetzung zwischen Helenenbund und Perserreich sehen die Angehörigen der Identitären Bewegung als Beginn eines bis heute andauernden Kampfes gegen die »Invasion« Europas durch fremde (muslimische [83]) Kulturen. Aus diesem Grund ist das Logo der Identitären Bewegung auch den Schilden der Spartanischen Hopliten in dem Film »300« nachempfunden: Ein gelber Kreis, in dem ein stilisiertes Lambda angebracht ist. Doch nicht nur durch ihr Logo versucht sich die Identitäre Bewegung als Kämpfer*innen-Verband für ihre Heimat zu inszenieren. Auch sprachlich knüpfen Aktivist*innen der Identitären Bewegung an den archaischen Krieger*innenkult der Spartaner* aus dem Film »300« an. »Reih dich in die Phalanx ein«, war einige Zeit eines der Leitmottos der Identitären Bewegung. [84] Doch die Zeit der Phalanx ist vorbei. Vielleicht deshalb weil aus dem »haltet sie draußen« ein »schmeißt sie raus« [85] wurde, vielleicht aber auch nur, weil die Aktivist*innen zunehmend versuchen, sich von »300«, diesem Fundament ihrer Ideologie, loszusagen und ›seriöse‹ theoretische Grundlagen zu suchen.

Fakt ist jedoch, dass die Identitäre Bewegung mittlerweile mehr fordert, als nur die Grenzen nach Europa zu schließen. Ähnlich wie sich der Antisemitismus im 19. Jahrhundert von einem »die Juden wollen in das Haus der Deutschen eindringen« zur Methaphorik, sie hätten es bereits besetzt, [86] entwickelte, fordern Anhänger*innen der Identitären Bewegung mittlerweile auch eine Ausweisung von Geflüchteten aus Deutschland und Europa. Besonders zwei Termini haben die »Identitären« dazu geprägt: »Remigration« und »Reconquista«. »Reconquista« bezeichnet den Prozess der christlichen Ausbreitung auf der Iberischen Halbinsel in der Zeit zwischen 722 und 1492. Von einer »Rückeroberung der iberischen Halbinseln durch die westgotischen Reichsnachfolger, die zuvor durch muslimische Eroberer besetzt gehalten wurden«, [88] kann dabei nur bedingt die Rede sein. In jedem Fall handelt es sich bei der »Reconquista« aus heutiger Sicht um eine in ihrem Ergebnis rassistisch und antisemitisch motivierte Epoche, auf die sich die Identitäre Bewegung hier positiv beruft. Insgesamt ist es auffällig, dass die Identitäre Bewegung in der Wahl ihrer Kampfbegriffe bewusst militärische Begriffe wählt, die nicht selten auf von starkem Rassismus und Antisemitismus geprägte Ursprünge verweisen.

2.4 Die Gespenster steigen auf

Im November 2015 veröffentlichte der neurechte Vordenker Götz Kubitschek zusammen mit einigen anderen Angehörigen der Neuen Rechten die extrem rechte Vernetzungsplattform »Ein Prozent«. Der Leitspruch der Plattform: »Es ist an der Zeit, dass die Stimme des Volkes wieder Gehör findet. Wir vernetzen den Widerstand«. [89] Die Idee: »Ein Prozent der Deutschen« zu vernetzen, um gemeinsam die »Flüchtlingsinvasion« zu beenden. [90] Ein Prozent, das ist keine Masse, immerhin aber ein Mob.

Ein extrem rechter Mob war bereits im August 2015 in der Nacht vom 21./22. in Heidenau auffällig geworden. Insgesamt rund 1000 Personen hatten am 21. August gegen eine provisorische Unterkunft für Geflüchtete demonstriert. Aufgerufen dazu hatte unter anderem die Neonazi-Partei NPD. Als gegen Mitternacht einige Geflüchtete in der Unterkunft einquartiert werden sollten, blockierten von ca. 300 noch vor Ort anwesenden Personen mehrere die Busse, mit denen diese transportiert wurden. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Polizei und extremen Rechten, in deren Folge Flaschen, Steine und Brandsätze auf die Polizist*innen geworfen wurden. [91] Und auch im Oktober 2016 war es ein Mob, der in Chemnitz-Einsiedel gegen eine Unterkunft für Geflüchtete demonstrierte. Um die Ankunft von Geflüchteten in einer dort liegenden Unterkunft zu verhindern, hielten sich zu Spitzenzeiten mehr als 2000 Demonstrant*innen, hauptsächlich Anwohner*innen des 3500 Einwohner*innen umfassenden Ortes an einem vor der Unterkunft errichteten Infostand auf. [92] Die Organisator*innen berichten in diesem Kontext: »Das Dorf ist zusammengewachsen, die Menschen sind wieder eine Gemeinschaft. Sie sind wieder stolz aufeinander, die haben alleine durch die Aktion einen unheimlichen Stolz gewonnen, die haben Mut gewonnen, Gesicht zu zeigen, die helfen sich wieder gegeneinander [sic!], es ist einfach eine Gemeinschaft geworden, wie es sich normalerweise gehört.« [93] Im Hintergrund des rechten Propagandavideos, das die Zuschauer*innen zur Nachahmung anstiften will, werden Szenen gezeigt, die eher an eine gemütliche Lagerfeueratmosphäre erinnern, [94] als an einen aufgebrachten, extrem rechten Mob, aber vielleicht ist dies Volksfestatmosphäre ja gerade charakteristisch für dieses, auf Ausgrenzung des anderen sich gründende, Identitätsgefühl, das die Teilnehmer*innen dieser zutiefst rassistischen Veranstaltung offenbar gewonnen haben. Und dann ereignete sich der erste, internationale Aufmerksamkeit erregende pogromartige Übergriff auf einen Bus mit Geflüchteten in Clausnitz. Ein Mob von rund 100 Personen stoppte vor einer Unterkunft für Geflüchtete einen Bus mit Neuankömmlingen. Mit Rufen – nein, mit einem heiser-aggressiven Brüllen – wie »Wir sind das Volk« oder »Haut ab«, bedrängten die Clausnitzer Rassist*innen die Geflüchteten fast zwei Stunden, bis die Polizei diese dann unter Anwendung von »einfachem Zwang«, das heißt im Würgegriff, in ihre Unterkunft brachte. [95]

Doch auch wenn es in den letzten Monaten zur schlechten Angewohnheit der immer häufiger auftretenden, extrem rechten Mobs in ganz Deutschland geworden ist, sich als »Volk« zu verkennen, handelt es sich doch immer nur um »das Volk in seiner Karrikatur«. [96] Hannah Arendt bestimmt den Mob weiter als Zusammensetzung »alle[r] Deklassierten«, in dem »alle Klassen der Gesellschaft vertreten [sind]«. »[E]r kann nur akklamieren oder steinigen, [nicht wählen]«, [97] betont Hannah Arend weiter. Heute wissen wir, dass das »nicht wählen« nur mehr symbolisch zu verstehen ist. Ein Mob aus einem Prozent der deutschen Bevölkerung ist kaum in der Lage, einer politischen Kraft zur Macht zu verhelfen, doch wenn ein solcher Mob mit Heugabeln und Fackeln auszieht, um die Unterkünfte von Geflüchteten oder diese selbst anzugreifen, ist ein Prozent der Bevölkerung mehr als ausreichend.

Doch auch seit Clausnitz ist die Serie von fremdenfeindlichen Übergriffen nicht abgerissen. Im September 2016 kam es in Bautzen zu einem weiteren pogromartigen Übergriff auf Geflüchtete. Ein extrem echter Mob von rund 80 Personen hatte 15 bis 20 junge Geflüchtete angegriffen. Dabei wurden offenbar auch Steine und Glasflaschen geworfen. [98]

Dass diese Übergriffe in Zusammenhang mit der derzeitigen rechten Mobilisierung stehen, steht außer Frage, doch lassen sich diese auch auf einen entsprechenden Sprachgebrauch zurücführen? Was sich auf jeden Fall feststellen lässt, ist, dass sich solche Übergriffe im Sprachgebrauch der extremen Rechten angekündigt haben, ja dass sogar im Vorfeld inhaltlich von ihnen gesprochen wurde. Götz Kubitschek stieß Ende Oktober 2015 in einem Artikel mit der Überschrift »Widerstandsschritte« die Überlegung an, ob es legitim sei, Busse mit Geflüchteten zu blockieren, um diese daran zu hindern, ihren Zielort zu erreichen. [99] Im Februar 2016 ereigneten sich dann die pogromartigen Übergriffe in Clausnitz. »[D]er Mob [schreit] in allen Aufständen nach dem starken Mann, der ihn führen kann«, [100] schreibt Hannah Arendt. Doch Kubitschek wollte damals noch mehr: Er hatte den extrem rechten Rechtsanwalt Thor v. Waldstein damit beauftragt, zu prüfen, ob es für »die Deutschen in der jetzigen Situation ein Recht auf Widerstand geben könnte«, [101] denn auch wenn es den deutschen Mob dazu drängt, sich zu Pogromen zusammenzurotten, wohler ist ihm dabei, wenn er das Gesetz oder wenigstens die Regierung hinter sich weiß. Ungeachtet des wirren Geplänkels des extrem rechten Rechtsanwalts, der einen »vorsätzlichen Staatsstreich der Regierung gegen das Volk, einen Putsch von oben« [102] bilanziert und deshalb ein Widerstandsrecht als »letzte[s] verbleibende[s] Mittel zur Erhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung« [103] gegeben sieht, [104] lässt sich feststellen, dass Götz Kubitscheks (kaum) verstecktem Aufruf zu Blockaden – mit einiger Verspätung immerhin – nachgekommen wurde. Doch Kubitschek als den »starken Mann, der [den Mob] führen kann« [105] zu bezeichnen, hieße seine Rolle innerhalb der extremen Rechten zu überschätzen. Sicher besitzt seine Stimme einiges Gewicht, jedoch nicht mehr als die anderer extrem rechter Führungsfiguren wie Björn Höcke, Jürgen Elsässer oder die Anführer*innen von expliziten Neonazi-Organisationen. Auch war Kubitschek nicht der Einzige, der zu Blockaden von Unterkünften für Geflüchtete aufgerufen hatte, er war nur eine der bekanntesten Persönlichkeiten, die dies taten.

Verantwortich dafür, dass solche Blockaden schließlich tatsächlich stattgefunden haben, könnte eine ihnen vorangegangene, zunehmende sprachliche Enthemmung gewesen sein. [106] Gleichzeitig zu dieser Enthemmung fand auch eine zunehmende Verhetzung der Geflüchteten als Islamisten*innen, Ehrenmörder*innen, Vergewaltiger*innen und mit vielen weiteren Stereotypen statt.

Norbert Elias gibt auf die Frage, »warum die nationalsozialistische Führung zu Kriegsbeginn die Vernichtung aller Juden […] beschloss«, [107] folgende Antwort: »Sie bedeutet einfach die Erfüllung eines tief verwurzelten Glaubens, der für die nationalsozialistische Bewegung von ihren Anfängen an zentral gewesen war.« [108] »Hitler und seine Anhänger hatten aus ihrer totalen und unversöhnlichen Feindschaft gegen die Juden und aus ihrem Wunsch, sie auszurotten, nie einen Hehl gemacht«, [109] führt Elias weiter aus, um dann festzustellen, »daß sich […] eine lange Zeit nur wenige Menschen […] vorzustellen vermochten, daß die Nationalsozialisten eines Tages verwirklichen könnten, was sie verkündet hatten«. [110]

Das ist kein Problem der Vergangenheit: Es »gibt heute noch eine weitverbreitete Neigung, politische und soziale Glaubensdoktrinen zu unterschätzen: Sie gelten als bloßer Schaum – als ›Ideologien‹, denen als eigentliche Substanz die ›Interessen‹ der Trägergruppen, wie sie in deren Selbstverständnis definiert sind, zugrunde liegen«. [111] Eben jene rassistische und antisemitische Glaubensdoktrin äußert sich derzeit in der Sprache der extremen Rechten. Dabei wird häufig vergessen, dass gerade enthemmte, sprachliche Gewaltakte oft einen performativen Charakter besitzen. Wenn extrem Rechte heute also von »Widerstand«, Mord an Ausländer*innen oder einem Kampf gegen die »Hochfinanz« sprchen, sollten wir das nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen und als leere Worte abtun!

Anmerkungen

[1] Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Schröter, 2. Auflage (1989; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994) S. 396.

[2] Vgl. Dan Diener. »Zivilisationsbruch«. Zivilisationsbruch Auschwitz. Hrsg. von Pax Christi. Schriftenreihe Probleme des Friedens. Idstein: meinhardt, 1999. 13-15 S. 13 ff.

[3] Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, hrsg. von Gary Smith und Rüdiger Zill, übers. von Hubert Thüring, Erbschaft unserer Zeit Bd. 16 (1995; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002) S. 175.

[4] Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend (1992; München: dtv, 1997) S. 120.

[5] Vgl. (RE) Die Ordnung. Grundsatzprogramm der CSU vom 05.11.2016, online verfügbar unter http://csu-grundsatzprogramm.de/wp-content/uploads/CSU_Grundsatzprogramm.pdf S. 5.

[6] Der Begriff »Festung Europa« stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Besonders gegen Ende des 2. Weltkrieges wurde darunter ein Europa in dessen Mitte Deutschland als »Ordnungsmacht« liegt, verstanden. »Deutschland, die ›Ordnungsmacht‹, verteidigt die Festung Europa«, fasst Victor Klemperer diese späte nationalsozialistische Propaganda zusammen (Klemperer S. 186)

[7] Vgl. Theodor W. Adorno, »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse.« Ein philosophisches Lesebuch, hrsg. von Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997) S. 48.

[8] Vgl. (RE) Sebstverständnis der neonazistischen Partei »Der III. Weg«, online abrufbar unter http://www.der-dritte-weg.info/index.php/menue/63/Zehn_Punkte_Programm.html

[9] Beides, sowohl »Merkel muss weg«, als auch »Abschieben« sind Sprechchöre, die auf extrem rechten Demonstrationen, wie beispielsweise den PEGIDA-Demonstrationen in ganz Deutschland zum Repertoire gehören.

[10] Vgl. (RE) Artikel Metapolitik auf der Webseite der Identitären Bewegung Deutschland, online abrufbar unter http://www.identitaere-bewegung.de/metapolitik/

[11] Vgl. (RE) Artikel Metapolitik auf der Webseite der Identitären Bewegung Deutschland, online abrufbar unter http://www.identitaere-bewegung.de/metapolitik/

[12] Vgl. (RE) Pressemitteilung „Ästhetische Interverntion der Identitären Bewegung Deutschland im Berliner Maxim Gorki Theater“ der Identitären Bewegung Deutschland, online abrufbar unter http://www.identitäre-bewegung.de/presse/aesthetische-intervention-der-ibd-im-berliner-maxim-gorki-theater/

[13] Bernhard Giesen und Kay Junge. »Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der ›Deutschen Kulturnation‹«. Nationale und kulturelle Identität. Hrsg. von Bernhard Giesen. Frankfurt am Main; Suhrkamp, 1991. S. 256.

[14] Nicht zu vergessen sind hier natürlich auch die diversen Flaggen, die extrem Rechte gerade bei Demonstrationen häufig mit sich führen und mit denen sie ihre nationalen Identitäten besonders deutlich ausflaggen.

[15] Unter dem Namen »Heldengedenken« – offenbar eine Anspielung auf den sogenannten »Heldengedenktag« im Nationalsozialismus (heute »Volkstrauertag«) – veranstalten Neonazis alljährlich einen Gedenktag für die deutschen Kriegstoten des 2. Weltkriegs in der Stadt Wunsiedel, wo sich die Grabstätte von Rudolph Hess befindet.

[16] Martin Wiese ist einer der bekanntesten Neonazis Bayerns. Im Jahr 2003 hatte Wiese gemeinsam mit mehreren anderen Neonazis einen Sprengstoffanschlag auf die Grundsteinlegung des neuen jüdischen Kulturzentrums in München geplant. Noch in der Untersuchungshaft schrieb Wiese in einem Brief, dass ihm noch genug Zeit bliebe, »diese Judenrepublik [plattzumachen]« und unterzeichnete diesen mit »Heil Hitler« (vgl. Krug).

[17] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0

[18] Adorno S. 63.

[19] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0

[20] Vgl. (RE) Hans Weberstedt und Kurt Langner, Gedenkhalle für die gefallenen des Dritten Reiches, Bd. I (München: Franz-Eher, 1939) S. 7.

[21] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0

[22] (RE) Weberstedt und Lagner S. 7.

[23] Klemperer S. 13.

[24] Klemperer S. 13.

[25] Vgl. (RE) Aufruf zum Tag der deutschen Zukunft in Dortmund (2016), online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=HhpOyoCC8sY, ab min. 0:28

[26] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0, ab min. 1:02

[27] Vgl. (RE) Aufruf zum Tag der deutschen Zukunft in Dortmund (2016), online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=HhpOyoCC8sY, ab min. 0:54

[28] Konkret steht im Aufruftext zum »Tag der deutschen Zukunft« 2017: »Täglich kommen tausende art- und kulturfremde Menschen in unser Land […]«. (vgl. (RE) Aufruf zum Tag der deutschen Zukunft 2017, online abrufbar unter https://logr.org/tddz2017/aufruf/; Hervorhebung durch différⒶnce muc)

[29] Nicht nur beim »Tag der deutschen Zukunft« lassen sich neurechte Tendenzen im Gedankengut offen nationalsozialistischer Parteien und Gruppierungen beobachten. So schreibt beispielsweise die Neonazi-Partei »Der III. Weg« in ihrem 10-Punkte-Programm: »Ziel […] ist […] die Schaffung einer Europäischen Eidgenossenschaft auf Grundlage der europäischen Kulturen, sowie der gemeinsamen Geschichte und ist getragen [sic!] vom Willen und der Souveränität der europäischen Völker« (vgl. (RE) Zehn Punkte Programm des III. Wegs, online abrufbar unter http://www.der-dritte-weg.info/index.php/menue/63/Zehn_Punkte_Programm.html). Das klingt nach einer etwas rassischeren Form des neurechten Ethnopluralismus.

[30] Vgl. (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min. 2:07

[31] So übernahm beispielsweise Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer diesen extrem rechten Begriff des »großen Austauschs« im März 2017 unhinterfragt als Überschrift seiner Kolumne (vgl. Fleischhauer).

[32] Vgl. (RE) Webseite der Identitären bewegung Österreich zum »großen Austausch«, online abrufbar unter https://deraustausch.iboesterreich.at/

[33] Vgl. (RE) Webseite der Identitären bewegung Österreich zum »großen Austausch«, online abrufbar unter https://deraustausch.iboesterreich.at/

[34] Vgl. Tony Gerber in (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min. 0:22.

[35] Vgl. (RE) Veit Harlan, »Jud Süß« (1940).

[36] Vgl. (RE) Erich Waschneck, »Die Rothschilds« (1940).

[37] Vgl. Harlan und Waschneck.

[38] Vgl. (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min 0:22.

[39] Vgl. Sebastian Zeilinger in (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min 1:29.

[40] Das ist insofern kaum verwunderlich, als in dem Video mindestens zwei Personen mit einer neonazistischen Vergangenheit auftreten: Martin Sellner (Vorsitzender der Identitären Bewegung Österreich) nahm mindestens bis zum Jahr 2008 an Neonazi-Demonstrationen teil (vgl. Reuter) und der im Video auftretende Lorenz Maierhofer engagierte sich früher in der heute verbotenen Neonazi-Kameradschaft »Freies Netz Süd« (vgl. Aigner).

[41] (RE) Björn Höcke. »Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott. Rede zum Flügeltreffen am Kyffhäuser« (Juni 2015).

[42] Schon seit 2015 macht der Soziologe Andreas Kemper darauf aufmerksam, dass Björn Höcke und Landolf Ladig nicht nur sehr ähnliche, seltene Ausdrücke (»organische Marktwirtschaft«, »identitäre Systemopposition«, uvm.) verwenden, sondern, dass deren Schriften teilweise auch beinahe wortwörtlich identische Textpassagen aufweisen. Unter anderem deshalb kommt Andreas Kemper zu dem Schluss, dass es sich bei »Landolf Ladig« und Björn Höcke vermutlich um ein und dieselbe Person handelt (Kemper, »Landolf Ladig, NS-Verherrlicher«).

[43] (RE) Landolf Ladig. »Ökologie und Postwachstumsökonomie. Die Krise des Liberalismus». Volk in Bewegung 1 (2012) S. 13.

[44] In dem extrem rechten Lokalblatt »Eichsfeld Stimme« der NPD schreibt Landolf Ladig, also aller wahrscheinlichkeit nach Björn Höcke, dazu: »[…] durch das Inkrafttreten des neuen Staatsbürgerschaftsrechts [war] den statistischen Tricksereien Tür und Tor geöffnet [worden]. Denn ab dem 01.01.2000 wurden mit der Abschaffung des Abstammungsprinzips alle in der BRD geborenen Ausländer automatisch vor dem Gesetz zu Deutschen« ((RE) Ladig »Was wird aus unserer Heimat? Der demografische Wandel ist kein Naturgesetz!« S. 1). Indem Ladig/Höcke die Nationalität eines Menschen also an dessen Abstammung festmacht und eine Abschaffung dieses Prinzips beklagt, macht er deutlich, welche Rolle Biologismen bei ihm einnehmen.

[45] Sowohl Höcke, als auch Ladig sprechen immer wieder von »identitärer Systemopposition« (Kemper, »Björn Höcke (AfD) – ›prächtiger‹ Nationalsozialismus und die identitäre Revolution?«).

[46] (RE) Björn Höcke. »Dresdner Gespräche mit Björn Höcke und anderen« (Jan. 2017).

[47] Vgl. (RE) Aufruf zum Tag der Deutschen Zukunft 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=HhpOyoCC8sY, ab min. 0:28.

[48] Vgl. (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min 1:30.

[49] (RE) Pythagoreer. »Kollektiver Schuldkomplex« (Dezember 2013 (PI-News).

[50] Ob es sich bei dem dort veröffentlichten Text tatsächlich um eine Schrift Horst Mahlers handelt, ist etwas zweifelhaft. Tatsächlich trägt der Text in der PDF-Version Mahlers Unterschrift, es scheint jedoch nicht unmöglich, dass der Betreiber der Seite, der Neonazi Jörg Krautheim, ein großer Fan von Mahler (vgl. https://thueringenrechtsaussen.wordpress.com/2014/06/12/die-rechte-in-thuringen-oder-krautheims-one-man-show/), diesen Text gefälscht haben könnte. Für die Analyse des Textes und seiner ideologischen Grundlagen scheint die Echtheitsfrage jedoch einerlei zu sein.

[51] (RE) Horst Mahler. »Es kommt Bewegung in unsere Lage« (Jan. 2017). S. 1.

[52] Vgl. Compact TV: Dresdner Gespräche mit Björn Höcke, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=sti51c8abaw, ab min. 1:05:38.

[53] Ironischerweise diagnostizieren sowohl Norbert Elias, als auch Hannah Arendt, dass die nationalsozialistischen Führer »halbgebildet[e] […] Außenseiter oder Versager […] der älteren Ordnung« (Elias S. 410) waren, bzw. »die charakteristischen, uns wohlbekannten Züge des Pöbels« (Arendt S. 703) trugen.

[54] (RE) Mahler S. 5.

[55] Schmitt gilt heute noch als ein wichtiger Vordenker der Neuen Rechten.

[56] Vgl. (RE) Mahler S. 4.

[57] (RE) Mahler S. 4.

[58] Vgl. www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/nach-aktion-der-identitaeren-bewegung-senat-will-brandenburger-tor-besser-schuetzen/14463426.html

[59] (RE) Mahler S. 4.

[60] Vgl. Andreas Kemper. »Zur NS-Rhetorik des AfD-Politikers Björn Höcke«. DISS 32 (2016).

[61] Goldhagen S. 71 ff.

[62] Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. III 1830; 1986) S. 347 ff.

[63] (RE) Mahler S. 2.

[64] Vgl. Kemper, »Landolf Ladig, NS-Verherrlicher«.

[65] (RE) Mahler S. 2.

[66] (RE) Mahler S. 2.

[67] Vgl. Kemper, »Landolf Ladig, NS-Verherrlicher«.

[68] (RE) Mahler S. 2.

[69] (RE) Mahler S. 5.

[70] (RE) Mahler S. 5.

[71] (RE) Ladig, »Was wird aus unserer Heimat? Der demografische Wandel ist kein Naturgesetz!« S. 1.

[72] (RE) Björn Höcke. »Leserbrief zu ›kein Dritter Weg‹ von Hans-Olaf Henkel, JF 43/08«. Junge Freiheit 44 (2008) S. 23.

[73] (RE) Landolf Ladig. »Krisen, Chancen und Auftrag«. Volk in Bewegung 5 (2011) S. 6.

[74] Der nationalsozialistische Antisemit Gottfried Feder, der als einer der Ersten zwischen »schaffendem Industriekapital« und »raffendem Finanzkapital« unterschied – natürlich in der antisemitischen Absicht, den Jüdinnen*Juden Raffgier zu unterstellen –, veröffentlichte 1935 sein Werk »Kampf gegen die Hochfinanz« (Vgl. (RE) Feder). An diese Begrifflichkeiten knüpft Ladig/Höcke hier sehr deutlich an.

[75] (RE) Jürgen Elsässer. »›Volksinitiative‹ gegen Finanzkapital gegeründet « (2010).

[76] (RE) Elsässer.

[77] (RE) Elsässer.

[78] Vgl. Klemperer S. 186,

[79] Vgl. Matthias Meisner. »Ausreiseverbot für niederländischen Pegida-Anführer?« (6. Juli 2016).

[80] Vgl. (RE) http://www.grenzhelfer.in/?page_id=120

[81] Historische Quellen behaupten etwas anderes: Herodot berichtet in seinen Historien von insgesamt 5200 griechischen Hopliten, von denen nur etwa 300 aus Sparta stammten (Herodot S. 202 f.).

[82] Zack Snyder. »300« (2006).

[83] Selbstverständlich gab es um 480 v. Chr. weder den Islam, noch das Christentum, der Identitären Bewegung geht es jedoch um die angebliche Unvereinbarkeit der Kulturen.

[84] Christoph Schulze. »Die ›Identitären‹ in Brandenburg«. (2016). Online abrufbar unter http://www.aktionsbuendnis-brandenburg.de/sites/default/files/downloads/Identit%C3%83%C2%A4re-Brandenburg.pdf. S. 1.

[85] Goldhagen S. 90.

[86] Goldhagen S. 90.

[87] Vgl. (RE) https://www.identitaere-bewegung.de/category/politische-forderungen/.

[88] Vgl. (RE) https://www.identitaere-bewegung.de/faq/was-bedeutet-der-begriff-reconquista/.

[89] Vgl. (RE) https://einprozent.de/.

[90] Vgl. (RE) https://einprozent.de/ueber-uns/.

[91] Vgl. MDR Sachsen. »Gewaltsamer Protest gegen Neuankömmlinge« (22. Aug. 2015). Online abrufbar unter http://www.mdr.de/sachsen/dresden/demo-heidenau100.html.

[92] Vgl. (RE) Kanal Schnellroda: Ziviler Ungehorsam in Chemnitz-Einsiedel – Wir selbst, online Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Y_H5XDvS3H0.

[93] Vgl. (RE) Kanal Schnellroda: Ziviler Ungehorsam in Chemnitz-Einsiedel – Wir selbst, online Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Y_H5XDvS3H0, ab min. 4:20.

[94] Vgl. (RE) Kanal Schnellroda: Ziviler Ungehorsam in Chemnitz-Einsiedel – Wir selbst, online Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Y_H5XDvS3H0.

[95] Vgl. Christoph Titz. »Busattacke in Clausnitz. Ein Dorf wundert sich« (21. Feb. 2016). Online abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/clausnitz-und-die-attacke-auf-fluechtlinge-jetzt-will-es-keiner-gewesen-sein-a-1078492.html

[96] Arendt S. 247.

[97] Arendt S. 247.

[98] Vgl. Anna Reimann und Christian Teevs. »Rechte Gewalt in Sachsen. Immer wieder Bautzen« (15. Sep. 2016). Online Abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bautzen-was-hinter-der-gewalt-zwischen-fluechtlingen-und-rechten-steckt-a-1112458.html.

[99] Vgl. (RE) Götz Kubitschek. »Widerstandsschritte (6): Widerstandsrecht in Einsiedel?« (27. Oktober 2015). Online abrufbar unter https://sezession.de/52000.

[100] Arendt S. 247.

[101] (RE) Kubitschek.

[102] (RE) Thor v. Waldstein. »Zum politischen Widerstandsrecht der Deutschen« (25. Oktober 2015). Online abrufbar unter https://sezession.de/wp-content/uploads/2015/10/widerstandsrecht-waldstein1.pdf. S. 15.

[103] (RE) v. Waldstein S. 26.

[104] V. Waldstein geht sogar soweit, in Fallbeispielen die Umzingelung des Kanzleramtes mit Fackeln und Heugabeln (er nennt das »Lichterkette« und »Sprechchöre«) als legitimes Mittel zum Widerstand zu bezeichnen und auch eine »[Menschenkette] an der Grenze, [um] […] dadurch den Grenzübertritt Illegaler« zu verhindern, als gerechtfertigtes Mittel des Widerstands zu bezeichnen ((RE) v. Waldstein S. 33).

[105] Arendt S. 247.

[106] Besonders drastisch fand diese Enthemmung in sozialen Medien statt. Hier ist es heute keine Seltenheit, dass extrem Rechte pauschale Morddrohungen gegen Muslime*a, Antifaschisten*innen und (vermeintliche) Jüdinnen*Juden aussprechen.

[107] Elias S. 403.

[108] Elias S. 404.

[109] Elias S. 405.

[110] Elias S. 406.

[111] Elias S. 406.

Bibliographie (Auswahl)

Adorno, Theodor W. »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse.« Ein philosophisches Lesebuch. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997.

Agamben, Giorgio. Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. 1995. Hrsg. von Gary Smith und Rüdiger Zill. Übers. von Hubert Thüring. Erbschaft unserer Zeit Bd. 16. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002.

Aigner, Stefan. »AfD Regensburg: Rechte Aufmärsche sind ›Privatangelegenheit‹«. Regensburg Digital (1. Apr. 2016). <http://www.regensburg-digital.de/afd-regensburg-rechte-aufmaersche-sind-privatangelegenheit/01042016/>

Arendt, Hannah. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. 1951. München/Berlin: Piper, 1986.

Diner, Dan. »Zivilisationsbruch«. Zivilisationsbruch Auschwitz. Hrsg. von Pax Christi. Schriftenreihe Probleme des Friedens. Idstein: meinhardt, 1999. 13-15.

Elias, Norbert. Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. 1989. Hrsg. von Michael Schröter. 2. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994.

Giesen, Bernhard und Kay Junge. »Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der ›Deutschen Kulturnation‹«. Nationale und kulturelle Identität. Hrsg. von Bernhard Giesen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991.
Goldhagen, Daniel Jonah. Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. 1996. Übers. von Klaus Kochmann. Berlin: Siedler, 1998.

Kemper, Andreas. »Björn Höcke (AfD) – ›prächtiger‹ Nationalsozialismus und die identitäre Revolution?« (11. Juni 2015). <https://andreaskemper.org/2015/06/11/bjorn-hocke-afd-prachtiger-nationalsozialismus-und-die-identitare-revolution/>
–––– »Landolf Ladig, NS-Verherrlicher« (9. Jan. 2016). <https://andreaskemper.org/2016/01/09/landolf-ladig-ns-verherrlicher/>
–––– »Zur NS-Rhetorik des AfD-Politikers Björn Höcke«. DISS 32 (2016). <http://www.diss-duisburg.de/2016/11/zur-ns-rhetorik-des-afd-politikers-bjoern-hoecke/>

Klemperer, Victor. LTI. Notizbuch eines Philologen. 1957. Hrsg. von Elke Fröhlich. Stuttgart: Reclam. 2015.

Klüger, Ruth. unterwegs verloren. Erinnerungen. 2008. München: dtv, 2014.
–––– weiter leben. Eine Jugend. 1992. München: dtv, 1997.

Steiner, George. »The Hollow Miracle«. Language and Silence. Essays in Language, Literature and the Inhuman. New Haven/London: Yale University Press, 1998. 95-109.

 

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Animal Liberation war niemals genug!

Ein Beitrag des Projekts Radical Biocentrism in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 1, 2017. Der Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht.

Herrschaftsverhältnisse existieren nicht nur zwischen Menschen, sie prägen auch das Verhältnis zwischen Menschen und anderen Lebewesen, ebenso wie das Verhältnis anderer Lebewesen untereinander. Die Vorherrschaft der menschlichen Spezies über andere Lebewesen wurde in der christlichen Tradition, ebenso wie in vielen anderen Gesellschaften als eine gottgegebene Sonderstellung des Menschen, der von Natur aus zum*r Herrscher*in über „die Natur“ auserkoren sei, interpretiert. Damit wurde dieses Herrschaftsverhältnis kulturell verfestigt. Bis heute behaupten folgerichtig auch Atheist*innen der Mensch habe eine Vorrangstellung vor anderen Lebewesen und rechtfertigen damit diverse Herrschaftsverhältnisse, in denen der Mensch andere Lebewesen unterwirft.

Als Anarchist*innen jedoch dürfen wir auch Herrschaftsverhältnisse, die zwischen Lebewesen unserer Spezies und den Lebewesen anderer Spezies bestehen, nicht ignorieren. Einerseits – und das ist ein anthropozentristisches Argument – lässt sich eine herrschaftsfreie Gesellschaft, deren Mitglieder ihr (Über-)leben auf ihrer Herrschaft über andere Lebewesen gründen, nur schwer denken. Andererseits gilt es auch die Angehörigen anderer Spezies von der Unterdrückung durch andere Lebewesen, insbesondere die durch „uns Menschen“, zu befreien.

Auch wenn es durchaus sinnvolle anarchistische Kämpfe gegen derartige Herrschaftsverhältnisse gibt, ist jüngst zunehmend stärker zu beobachten, wie sich solche Bestrebungen in einer Sackgasse verlaufen, in der Herrschaftskritik zur Ideologie verkommt und sich die Mittel zur Überwindung von Herrschaft an marktwirtschaftlichen Vorstellungen orientieren. Die Rede ist von politischem Veganismus. Gemeint ist nicht etwa Veganismus an sich, wenn er als persönliche Entscheidung betrachtet und gelebt wird. Gemeint ist die Propagierung des Veganismus als politische Boykottbewegung, in der vegane Lebensweisen als wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Unterdrückung anderer Lebewesen propagiert wird und zum Teil auch Menschen, die sich nicht vegan ernähren, pauschal als ignorant gegenüber diesem Herrschaftsverhältnis, verunglimpft werden.

Wie jede Boykottbewegung gründet sich die Vorstellung, Veganismus könne das Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen und Tieren aufheben, auf die weit verbreitete, aber dennoch falsche Vorstellung, dass die Nachfrage nach einem Produkt das Angebot bestimme. Tatsächlich wird auch Fleisch, für Milch und Eier gilt das analog, heute nicht mehr der Nachfrage gemäß produziert, sondern ebenso wie andere Waren, beispielsweise Autos, wird so produziert, dass die Fixkosten möglichst gering gehalten werden können und so die Gewinne möglichst groß sind. Das bedeutet, dass durch einen Boykott von tierischen Produkten im Ausmaß der Zahl der Vegetarier*innen und Veganer*innen die Zahl der unterdrückten Tiere quasi nicht verändert wird. Eher werden die Preise aufgrund des noch größer werdenden Überangebots weiter nach unten gedrückt. Kleinere Betriebe und vor allem solche, die mehr Wert auf Haltungsbedingungen legen, können so noch weniger bestehen. Das soll natürlich auch nicht umgekehrt bedeuten, dass der „bewusste“ Konsum von tierischen Produkten zu einer Aufhebung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Tier führen kann, Zahlreiche Green-washing Labels zeugen davon, dass auch das nur eine Farce ist.

Statt sich also in den Mitteln des eigenen Protests gegen die Unterdrückung von Tieren auf die marktwirtschaftlichen Mythen des kapitalistischen Systems zu verlassen, müssen Wege gefunden werden, eben jenes System zu durchbrechen.

Und doch sind es nicht die Mittel des politischen Veganismus, die in diesem Artikel im Zentrum der Kritik stehen sollen. Vielmehr soll auf die speziesistischen Ansichten, die dem politischen Veganismus zugrunde liegen, eingegangen und die daraus entstandene Ideologie näher untersucht werden.

Die Herrschaft der menschlichen Spezies über andere Lebewesen betrifft nicht nur tierische Lebewesen, sondern ebenso auch pflanzliche Lebewesen. Ebenso wie Tiere dienen den Menschen auch Pflanzen zur Nahrung und werden zu diesem Zweck gezüchtet, in Massenaufzucht angebaut und schließlich geerntet, was in vielen Fällen den Tod der Pflanze bedeutet. Interessen von Pflanzen spielen, ebensowenig wie die der in Mastanlagen gehaltenen Tiere, keine Rolle. Es geht schlichtweg darum. Nahrungsmittel, Baustoffe oder andere Wertstoffe zu produzieren, also ausschließlich darum, Menschen nützlich zu sein.

Zunächst einmal gibt es also keinen Grund, zwischen der Herrschaft über pflanzliche Lebewesen und der Herrschaft über tierische Lebewesen zu differenzieren, wie das durch den politischen Veganismus getan wird. Dass das dennoch passiert, ist wohl den pathozentrischen und/oder utilitaristischen Einflüssen geschuldet: Während einige Anhänger*innen des politischen Veganismus argumentieren, die Tatsache, dass Tiere erwiesenermaßen als „leidensfähig“ gelten, eine „Leidensfähigkeit“ bei Pflanzen bislang jedoch nicht nachgewiesen werden konnte, argumentieren viele Veganer*innen damit, dass zur Ernährung von Tieren ebenfalls Pflanzen angebaut werden müssen. Insgesamt würden tierische Produkte daher größeres Leid auslösen, als pflanzliche Produkte.

Beide Argumente sind zumindest kritisch zu bewerten. Die Tatsache, dass wir nicht sagen können, ob Pflanzen leidensfähig sind, bedeutet schließlich nicht, dass sie es nicht sind. Die Wissenschaft war, ist und wird niemals frei von Fehlern sein. Sich also auf eine in der Wissenschaft herrschende Annahme, dass Pflanzen nämlich nicht leidensfähig seien, zu stützen und damit die Unterwerfung dieser Lebewesen zu rechtfertigen, erscheint mehr als fragwürdig. Überhaupt: Warum wird die Leidensfähigkeit eines Lebewesens so sehr ins Zentrum gerückt? Immerhin ist das eine sehr anthropozentrische Vorstellung, davon auszugehen, dass Leid und Leidensfähigkeit das zentrale Kriterium dafür ist, ob die Unterdrückung eines Lebewesens moralisch vertretbar ist, oder nicht.

Ähnlich kritisch ist auch das utilitaristische Argument zu sehen, dass zur Herstellung tierischer Produkte durch die zur Versorgung der tierischen Lebewesen mit Nahrungsmitteln notwendige Produktion pflanzlicher Produkte, insgesamt mehr Leid entstehen würde. Einerseits gilt das natürlich nur, wenn mensch davon ausgeht, dass die in Massenhaltung lebenden, tierischen Lebewesen ohne Zutun des Menschen nicht existieren würden und sich diejenigen frei lebenden Arten, die jeweils in Quoten zum Abschuss frei gegeben werden, nicht überproportional vermehren würden. Immerhin, tendenziell scheint diese Annahme realistisch zu sein. Andererseits jedoch – und das ist der hochproblematische Aspekt dieses Arguments – werden dabei die Individuen, die den vom Menschen angebauten, pflanzlichen Spezies angehören, als notwendiges Übel zugunsten einer Art Gemeinwohl unterdrückt und diskriminiert. Die Interessen bestimmter Individuuen werden damit den Interessen einer Gemeinschaft untergeordnet. Derartige Abwägungen sind nicht umsonst verpöhnt! Mit anderen Worten ließe sich hier von einem Speziesismus der politischen Veganer*innen gegenüber pflanzlichen Lebewesen sprechen.
Der ideologische Charakter des politischen Veganismus gründet sich dabei auf die Tatsache, dass selbiger diesen Speziesismus als eine Lösung oder wenigstens einen Fortschritt im Hinblick auf die Unterdrückung von anderen Lebewesen durch die Menschen vorschlägt. Worin dieser Vorschlag jedoch besteht ist weniger eine Lösung, als eine Verlagerung der Problemdimension. Statt tierischen Lebewesen sollen, wenn es nach politischen Veganer*innen geht, zukünftig nur noch pflanzliche Lebewesen unterdrückt werden.

Bei all dieser Kritik am politischen Veganismus soll dieser Text jedoch keineswegs die Unterdrückung tierischer Lebewesen verharmlosen oder als berechtigt darstellen. Vielmehr geht es darum, einen Perspektivenwechsel in der Kritik der Herrschaft der Menschen über andere Lebewesen vorzuschlagen. Die Unterdrückung anderer Lebewesen durch den Menschen muss also aus einer herrschaftskritischen Perspektive neu analysiert werden, denn während sich gegen die Unterdrückung tierischer Lebewesen durchaus Protest, der herrschaftskritisch geprägt und mit dem Ziel des Schutzes aller Individuen praktiziert wurde, entwickelt hat, ist der viel seltenere Protest gegen die Unterdrückung pflanzlicher Lebewesen zumeist mitnichten herrschaftskritisch und noch seltener mit dem Ziel des Schutzes aller Individuen organisiert. Es geht vielmehr darum, Arten zu erhalten, „Naturdenkmäler“ zu bewahren oder besonders imposante Pflanzen zu schützen, wenn die Argumentation nicht ohnehin rein anthropozentrisch geprägt ist oder eine verklärte „Natur“ zu bewahren sucht.

Mit Blick auf die sogenannte „Animal Liberation“-Bewegung ist also ein weiteres anarchistisches Aktionsfeld in der Befreiung der pflanzlichen Lebewesen vor menschlicher Unterdrückung zu suchen. Dabei gilt es eine generelle Kritik der Unterdrückung von Lebewesen zu entwickeln und mögliche Umgangsformen mit bestehenden Unterdrückungsverhältnissen gegenüber anderen Lebewesen auszuloten.

Natürlich darf dabei nicht vergessen werden, dass die Herrschaftsverhältnisse des Menschen über andere Lebewesen soweit manifestiert sind, dass eine Gewährleistung der Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln auf herrschaftsfreiem Wege derzeit nicht vorstellbar ist. Diese Einsicht sollte jedoch keineswegs dazu führen, dieses Thema in der anarchistischen Praxis zu vernachlässigen, sondern vielmehr dazu anregen, sich mit größerem Engagement den Herausforderungen herrschaftsfreier Verhältnisse zwischen Menschen und anderen Lebewesen zu widmen.

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