Die Lifestyleanarchist*in Vol. 2 ist da!

Endlich! Die Lifestyleanarchistin Vol. 2, Sommer/Herbst 2018 ist da.

Cover der Lifestyleanarchist*in Vol. 2

Die Lifestyleanarchist*in Vol. 2, Sommer/Herbst 2018 (PDF)

 

 

 

 

 

Aus dem Inhalt:

Neo Biota: Rechtsruck oder Rechtsenthemmung?

Gegen ein Europa der Abschottung, gegen den rassistischen Normalzustand!

Anna Kistin: Über kommende Aufstände (Teil 2)

kA★oS München: Die Rolle der Gefängnisse innerhalb der Gesellschaft

Max: Brief aus dem Gefängnis

Freiheit für alle Gefangenen

Kritische Prozessbegleitung München: Repressionswelle anlässlich einer Serie von Scheinbesetzungen

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Ihr könnt die gedruckte Version der Lifestyleanarchist*in in Kürze an den üblichen linken Orten in München finden. Falls ihr dort kein Exemplar mehr bekommt, nicht in München wohnt oder mehrere Exemplare zur Weiterverbreitung benötigt, schreibt uns einfach eine E-Mail an die-lifestyle-anarchistin@riseup.net (PGP-Key).

Rechtsruck oder Rechtsenthemmung?

Überlegungen zum „Rechtsruck“ und zu Rassismus in Deutschland

Von Neo Biota

In ganz Europa werden Grenzen dichtgemacht, Rechte von Asylsuchenden ausgehebelt, Schiffe mit aus der Seenot Geretteten nicht an Land gelassen oder Menschen gar nicht erst aus der Seenot gerettet, Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte attackiert, Menschen in Lagern gefangen gehalten und in der “Zeit” wird darüber diskutiert, ob es sinnvoll sei, übers Mittelmeer Flüchtende vor dem Ertrinken zu retten ((Vgl. Lobenstein, Caterina und Lau, Mariam: “Oder soll man es lassen? Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra” (2018). https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra, letzter Zugriff: 01.09.2018.)). Europa rückt nach rechts, so der Tenor, seit das mit der angeblichen “Flüchtlingskrise” begann. Und obwohl alle außerhalb von AfD und PEGIDA (und einigen aktuell weniger präsenten rechtsradikalen Organisationen) sich gegen einen “Rechtsruck” aussprechen, scheint selbiger unaufhaltsam. Wie ist das möglich?

Mit “Rassismusvirus” verseuchte Geflüchtete?

Problem, so tönt es aus allen politischen Lagern, sei die mangelnde Integrationsbereitschaft der angekommenen Geflüchteten. Die fehlende demokratische Grundbildung. Der Machismus. Die Kriminalität. Und natürlich der Islam beziehungsweise der “Islamismus”. Die deutsche Bevölkerung habe Angst, und das nicht zu Unrecht. Ihr Sicherheitsgefühl sei erschüttert. Sie hätten Angst um ihre materielle Sicherheit, Angst vor Gewalttaten und vor antidemokratischem Gedankengut. Dies führe anders gesagt zu einem “Rechtsruck” in der Bevölkerung. Die Anwesenheit der Geflüchteten führe also dazu, dass Menschen sich wieder mehr an extrem rechtem Gedankengut orientierten. Deshalb müsse mensch diese Sorgen ernst nehmen und entsprechend handeln, die “schlechten” Elemente, kriminelle, sonstwie “verhaltensauffällige” und “unberechtigterweise” hier seiende Menschen möglichst schnell und konsequent abschieben und die Integration der anderen forcieren. So forderte Regierungssprecher Steffen Seibert bereits 2010,

Ausländer[*innen] [sollten] möglichst schnell in die Wertevorstellungen, die Gesellschaft, den Arbeitsmarkt und die Sprache in Deutschland hineinfinden. Je besser uns das gelingt, desto mehr werden wir allen, die rechtsextreme oder noch schlimmere Gedanken haben, den Boden entziehen. ((Riegen, Marc-Oliver von: “Rechtsruck in Deutschland? Ausländerfeindlichkeit nimmt zu” (2010). https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/rechtsruck-in-deutschland–auslaenderfeindlichkeit-nimmt-zu-3530342.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.))

Nach dieser Argumentation tragen die noch nicht integrierten Geflüchteten also selbst die Verantwortung für die immer stärkere Ablehnung ihnen gegenüber. Ihre Anwesenheit scheint extrem rechtes, also auch rassistisches Gedankengut zu befördern. Rassismus und extrem rechtes Gedankengut kann also nach (mehrheits-)gesellschaftlichem Konsens nur bekämpft werden, indem die Menschen, die von den nach rechts gerückten Menschen als störend empfunden werden, verschwinden. Die deutsche Bevölkerung wird offenbar immer dann von rechtem Gedankengut und Rassismus befallen, wenn sie auf Leute trifft, die nicht so sind wie sie selbst. Offenbar tragen geflüchtete und sonstwie “auffällige” Menschen einen “Rassismusvirus” bei sich, der dann die deutsche Bevölkerung befällt. Könnte es da nicht alternativ so sein, dass Deutschland ein größeres Rassismusproblem hat als bisher angenommen? Und was hat Rassismus mit dem “Rechtsruck” zu tun?

Integration und Assimilation

Beleuchten wir erst einmal die Forderung nach Integration. “Integration” bedeutet im eigentlichen Sprachsinn die Aufnahme von Menschen in eine soziale Ordnung, d. h. die Gesellschaft, zu der eine Person dazustößt, hat dafür Sorge zu tragen, dass diese Person in ihrer Mitte aufgenommen wird. Die heutige Forderung nach Integration richtet sich aber nicht an die deutsche Gesellschaft, sondern an die Geflüchteten und sonstige Migrant*innen selbst, sowie zugleich – und das entbehrt jedweder Logik – auch an nicht weiße Deutsche. Wie Steffen Seibert und die meisten gesellschaftlich relevanten Akteur*innen fordern, sollten Geflüchtete möglichst schnell deutsch lernen und sich an die hier herrschende Werteordnung anpassen und zwar so sehr, dass extrem Rechten und Rassist*innen der “Boden [entzogen]” wird.

Früher wurde diese Form der Anpassung “Assimilation” genannt. Von dazustoßenden Menschen wird erwartet, dass sie dafür Sorge tragen, dass sie sich von den anderen Menschen in dieser sozialen Ordnung nicht mehr unterscheiden, also durch nichts “auffallen”. Diese Forderung ist in vielerlei Hinsicht unmöglich zu erfüllen, da sie eine Homogenität einer Mehrheit suggeriert, die es nicht gibt. Nicht nur Steffen Seibert und die Bundesregierung haben heutzutage ein solches Verständnis von Integration, sondern dieses Verständnis scheint Konsens bei den meisten gesamtgesellschaftlich relevanten Akteur*innen in Deutschland zu sein.

Laut Steffen Seibert scheint Assimilation auch die Lösung für Rassismus und Rechtsextremismus zu sein. Nach seiner Logik muss dafür gesorgt werden, dass es niemanden mehr gibt, an dem*der sich Rassist*innen stören könnten. Die Opfer von Hass und Benachteiligung ziehen laut ihm berechtigterweise den Hass anderer Menschen auf sich und sollten sich schleunigst so verändern und wie die rassistischen Menschen werden, damit es für diese Menschen keinen Grund mehr gibt, sie zu hassen. Dabei bedenken Seibert und all die anderen, die Assimilation als Lösung für Rassismus und Rechtsextremismus halten, wohl nicht, dass für eine perfekte Assimilation an deutsche weiße Rassist*innen auch weiß werden nötig wäre, strukturell eine Assimilation für viele also gar nicht möglich ist. ((Tatsächlich wird eine Assimilation ja auch nur von Menschen gefordert, denen diese nicht möglich ist. Weiße Migrant*innen beispielsweise aus den USA, Schweden, Großbritannien, Frankreich, usw. sehen sich deutlich seltener mit der Forderung nach Assimilation konfrontiert und eine öffentliche Debatte darüber, dass sie sich gefälligst assimilieren sollen, gibt es nicht! Natürlich gibt es aber auch unter weißen Migrant*innen Menschen, die sich der ständigen Forderung nach Assimiliation ausgesetzt sehen: Das sind vor allem Migrant*innen aus Osteuropa, sowie Angehörige marginalisierter Minderheiten, beispielsweise Jüd*innen oder Sinti und Rom*nija.))

Die Verbreitung von Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland

Wie sieht es denn allgemein in Deutschland mit Rassismus aus? Als 2002 zum ersten Mal die Leipziger “Mitte”-Studie ((Die “Mitte”-Studien werden seit 2002 alle zwei Jahre durchgeführt und untersuchen autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Vgl. Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger “Mitte”-Studie 2016. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016. )) durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass circa 10% der Deutschen explizit rechtsextreme Einstellungen haben und circa 30% ausländer*innenfeindlich sind ((Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 14.)). 2016 dann stellte die “Mitte”-Studie im Hinblick auf das Erstarken der AfD und die steigende Anzahl an Angriffen auf Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte fest:

Die aktuelle Studie fördert angesichts dessen einen überraschenden Befund zutage: Hinsichtlich der Verbreitung der klassischen Einstellungen, die Rechts-extremismus charakterisieren, fällt die Steigerung von Vorurteilen nur gering aus. […] Die jüngsten Veränderungen im Parteiensystem zeigen weniger einen neuerlichen Anstieg fremdenfeindlicher und autoritärer Einstellungen […] an, vielmehr findet das seit Jahren vorhandene […] Potenzial jetzt eine politisch-ideologische Heimat. ((Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 7f.))

Dabei konstatiert die “Mitte”-Studie, dass der Grad der Politisierung derjenigen, die rechtsextrem und gruppenbezogen menschenfeindlich eingestellt sind, über die letzten Jahre hinweg angestiegen ist, ebenso der Grad der Radikalisierung. Es ließe sich jedoch auch bei denen, die Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ablehnen, eine größere Politisierung und ein größeres Einmischen feststellen. ((Vgl. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 20.))

Lippenbekenntnis Antirassismus

Dennoch gibt es wenig Grund zur Freude. Die Studie legt Menschen gruppenbezogen menschenfeindliche Aussagen vor, denen diese dann mehr oder weniger zustimmen oder die sie mehr oder weniger ablehnen können. Es werden also nur Aussagen von Menschen bewertet, nicht ihre Handlungen. Zusätzlich sind die Fragen nicht so subtil gestellt, als dass die befragten Personen nicht erahnen können, was der Hintergrund der Befragung ist. Mit dieser Studie kann eher der Grad der Tabuisierung gewisser Aussagen gemessen werden als die tatsächlichen Ansichten von Personen. Eine Person kann einer bestimmten Meinung sein, aber wissen, dass diese “verboten” ist und entsprechend bei der Befragung das angeben, von dem sie ausgeht, dass es als positiv bewertet wird. So ist ein deutlich höherer Anteil an rassistisch denkenden und/oder handelnden Menschen in Deutschland möglich wenn nicht sogar wahrscheinlich.

Insbesondere die Diskrepanz zwischen Worten und Taten ist ein häufig beobachtetes Phänomen. Denn auch wenn eine pauschale Verunglimpfung von “Ausländer*innen” inzwischen weitgehend tabuisiert ist und in den Studien der letzten Jahre stark zurückgegangen ist, so ist doch eher von einem Lippenbekenntnis zu reden als von einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit Rassismus, bei der den Betroffenen ernsthaft zugehört wird. So sind die Reaktionen auf die Rassismus-Erfahrungen in Deutschland, die über den Hashtag #metwo (( #metwo ist ein Hashtag auf Twitter, über den Menschen ihre Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland erzählen.)) berichtet wurden, von scharfer Ablehnung, Unterstellungen, Verdrehen des Gesagten, Leugnung bzw. Absprechen der geschilderten Erfahrungen, rassistischen oder pauschalisierenden Gegenvorwürfen – wie sich nicht integrieren zu wollen – und dem Vorwurf von “reverse racism” ((“Reverse racism” bezeichnet die Kritik Weißer an Schwarzen antirassistischen Initiativen und Kritiken als Rassismus gegenüber Weißen. Vgl. Wikipedia: “Reverse racism”. https://en.wikipedia.org/wiki/Reverse_racism, letzter Zugriff: 01.09.2018 und Fabello, Melissa A.: “Why reverse oppression can’t exist” (2015). https://everydayfeminism.com/2015/01/reverse-oppression-cant-exist/, letzter Zugriff: 01.09.2018.. Bestes Beispiel für Positionen, die “reverse racism” unterstellen, ist der Artikel “#MeTwo-Debatte. Hauptsache, ihr favt meine Tweets” vom Rassisten Jan Fleischhauer. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/metwo-debatte-hauptsache-ihr-favt-meine-tweets-a-1221348.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) geprägt. ((Vgl. u. a. Fleischhauer, Jan: “#MeTwo-Debatte. Hauptsache, ihr favt meine Tweets” (2018). http://www.spiegel.de/politik/deutschland/metwo-debatte-hauptsache-ihr-favt-meine-tweets-a-1221348.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, und Zeit Online: “#MeTwo-Debatte. Christian Lindner findet Alltagsrassismus-Debatte zu einseitig” (2018). https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-08/metwo-rassismus-deutschland-reaktionen-christian-lindner, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Gleiches ließ sich auch bei den Rassismus-Vorwürfen des ehemaligen Nationalspielers Mesut Özil gegen den DFB und seine Fans beobachten, die Initialzündung für den #metwo-Hashtag waren. ((Vgl. u. a. Raecke, Daniel: “Die Abwehr steht. “Rassismus” in der öffentlichen Debatte” (2018). http://www.spiegel.de/sport/fussball/rassismus-keule-und-andere-sprechverbote-toni-kroos-und-mesut-oezil-a-1223549.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, Welt: “Nicht alle Deutschen sind rassistisch” (2018). https://www.welt.de/politik/deutschland/article180566414/Lady-Bitch-Ray-Nicht-alle-Deutschen-sind-rassistisch.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, Kreiszeitung: “Funkstille nach Özil-Rücktritt: Jetzt äußert sich Löw – auch zum Rassismus-Vorwurf” (2018), https://www.kreiszeitung.de/sport/fussball/mesut-oezil-jogi-loew-aeussert-sich-zu-ruecktritt-und-rassismus-vorwuerfen-zr-10143391.html, letzter Zugriff: 29.08.2018 uvm.))

Diejenigen, die am meisten Gehör bekamen und bekommen, waren und sind Weiße oder Schwarze und People of Colour, die die geäußerten Kritiken für übertrieben halten. Dabei gibt es viele andere Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen, die seit Jahren zu Rassismus in Deutschland forschen und Rassismus dokumentieren und wenig bis kein Gehör dafür bekommen. (( Eine Aufzählung von antirassistischen Inititativen und Publikationen findest du am Ende der Seite.)) Daniel Raecke spricht von einer Tabuisierung von Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die zu dem paradoxen Effekt geführt habe, dass Rassismus zu so einem schwerwiegenden Vorwurf wurde, dass die Benennung desselben in die Kritik gerät anstatt das benannte rassistische Verhalten. ((Raecke, Daniel: “Die Abwehr steht. “Rassismus” in der öffentlichen Debatte” (2018). http://www.spiegel.de/sport/fussball/rassismus-keule-und-andere-sprechverbote-toni-kroos-und-mesut-oezil-a-1223549.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Ich würde zusätzlich sagen, dass zwar Rassismus an sich verurteilt wird, aber es keine Bereitschaft gibt, sich selbstkritisch mit Rassismus tatsächlich auseinanderzusetzen und den Betroffenen zuzuhören und ihre Berichte und Vorwürfe als möglich in Betracht zu ziehen. Anders formuliert verbittet sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft Rassismusvorwürfe, da sie bereits erkannt habe, dass Rassismus doof ist. Dass sie sich weiter rassistisch verhalte, sei gar nicht möglich, schließlich sei sie ja gegen Rassismus.

Faktor Staatsbürger*innschaft und Etabliertenvorrechte

Diese Tabuisierung schlägt sich auch in diversen Studien nieder: Pauschale Abwertungen aller “Ausländer*innen” finden sich deutlich seltener als noch 2002. Dafür hat sich der Rassismus “differenziert”: einzelne Gruppen werden mit mehr Abwertung betrachtet, zum Beispiel Sinti und Rom*nija, Muslima*e oder Geflüchtete. ((Vgl. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 15f.)) Im Hinblick auf die beiden letzteren wird das häufig mit “Etabliertenvorrechten” begründet, dass also die, die “zuerst da waren”, mehr Rechte haben sollten als die, die neu dazustoßen. Dieses Phänomen gruppenbezogener Menschenfeind­lich­keit findet bei allen Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ((Vgl. Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Bd. 1-10. Frankfurt am Main, Berlin: Suhrkamp 2002-2012, Decker et al.: Die enthemmte Mitte, Zick, Andreas; Klein, Anna: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Hrsg. von Ralf Melzer. Bonn: J. H. W. Dietz 2014.)) seinen Platz, hat es aber bisher nicht als Diskriminierungsform in den Diskurs der Mehrheitsgesellschaft geschafft. Damit werden Etabliertenvorrechte nicht mit Rassismus oder Rechtsextremismus in Verbindung gebracht und sind damit nicht vom Tabu des Rechtsextremismus oder des Rassismus betroffen. ((Vgl. Melzer: Fragile Mitte – Feindselige Zustände S. 83. )) Damit einhergehend ist besonders die Diskriminierung aufgrund von Staatsbürger*innenschaft nicht als eine solche (an-)erkannt:

In modernen Gesellschaften stehen solch willkürliche Benachteiligungen [birthright lottery ((Birthright lottery: Begriff von Ayelet Shachar, “Wink des Schicksals, der den einen qua Geburt einen privilegierten Status verleiht, während er andere von Beginn an in eine benachteiligte Position bringt”, Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München: Hanser Berlin, 2016, S. 145.))] prinzipiell in der Kritik. Die angeborenen Ungleichheiten des Geschlechts etwa, der Rasse oder auch der sozialen Herkunft – die berühmten Diskriminierungskategorien gender, class und race – fordern zumindest den normativen Anspruch dieser Gesellschaften nach politischen Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung und des sozialen Ausgleichs heraus. Für den nicht weniger geburtszufälligen Ungleichheitsfaktor Staatsbürgerschaft gilt dieser Anspruch hingegen nicht. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall: Die gegebene oder aber fehlende Staatsbürgerschaft ist hier ein anerkannter und wirkmächtiger Grund für rechtliche wie soziale Besser- oder Schlechterstellung. ((Lessenich: Neben uns die Sintflut S. 145f. ))

Die Diskriminierung aufgrund von Staatsbürger*innenschaft tritt auch in einem anderen Kontext zutage: Wer keine deutsche Staatsbürger*innenschaft hat, hat in Deutschland kein politisches Mitbestimmungsrecht und keine Chance, dass Politiker*innen auf ihre*seine Sorgen und Wünsche eingehen, da Menschen ohne deutsche Staatsbürger*innenschaft sie nicht wählen können. Hier wird der Rassismus eines jeden (demokratischen) Nationalstaates, aber besonders des deutschen mit seinem Abstammungs-Prinzip deutlich: Wer nicht deutsche*r Staatsbürger*in ist, auch wenn er*sie noch so lange in Deutschland wohnt, hat kein Mitbestimmungsrecht und keine Chance, als gleichberechtigte*r Akteur*in im politischen Diskurs wahrgenommen zu werden. Das ist im Hinblick auf Geflüchtete besonders deutlich: sie werden nicht als Menschen mit einer Stimme und mit dem Recht, sich einzumischen, betrachtet. So ist es kein Wunder, dass deutsche Politiker*innen so sehr auf die “Sorgen und Nöte” der mehrheitsdeutschen Wähler*innen, auch wenn diese noch so rassistisch sind, eingehen, aber nicht auf die von Menschen, die die deutsche Staatsbürger*innenschaft nicht besitzen. Immerhin, seit 2000 ist es unter gewissen Bedingungen möglich, auch als eingewanderte Person mit nichtdeutscher Staatsbürger*innenschaft beziehungsweise solchen Eltern eine deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten. Das schlägt sich durchaus auch im politischen Diskurs nieder. Eine Randposition bleibt es aber dann doch, wie jede Position einer marginalisierten Minderheit. Zusätzlich haben Menschen, die nicht mindestens acht Jahre erlaubterweise in Deutschland leben und so keine Möglichkeit haben, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten, immer noch keine politische Stimme. Auch nehmen viele den Wechsel zur deutschen Staatsbürger*innenschaft nicht vor, weil sie dafür ihre alte Staatsbürger*innenschaft aufgeben müssten. Damit ist strukturell angelegt, dass eingewanderten Menschen die Entscheidung dazu besonders schwer gemacht wird. ((Mehr dazu in Fußnote 39.))

Zusammendenken von Rassismus und Rechtsradikalismus

Ein weiterer Faktor, der die Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft mitbestimmt, ist das Zusammendenken von Rassismus und Rechtsradikalismus. ((Vgl. Fekete, Liz: “Why the NSU case matters. Structural racism and covert policing in Europe”. Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 49-64, S. 53.)) Wer sich selbst nicht als rechtsradikal verortet oder verortet wird, sprich sich nicht in einer (neo-)nationalsozialistischen oder sonstigen rechtsradikalen Organisation oder Umfeld bewegt, versteht sich nicht als rassistisch und wird auch häufig nicht als rassistisch wahrgenommen. Damit sind gerade Formen von Rassismus außerhalb eines rechtsradikalen Spektrums, wie zum Beispiel Rassismus in staatlichen Institutionen oder Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, kaum in der öffentlichen Wahrnehmung präsent und werden auch sehr konsequent negiert, wie sich gerade auch bei den NSU-Morden und dem darauffolgenden Prozess sehr deutlich gezeigt hat. ((Vgl. Fekete, Liz: Why the NSU case matters. )) Obwohl sich im Zusammenhang mit den NSU-Morden der Rassismus der Behörden wie der Medien zweifellos und offensichtlich gezeigt hat, ist bis heute gerade dieser Aspekt von staatlicher ebenso wie ziviler Seite kaum aufgearbeitet worden. ((Zum NSU-Komplex findet sich am Ende der Seite eine Liste mit Inernetadressen und Leküreempfehlungen.))

Racial Profiling

So zeigt sich sogar gesetzlich fixierter Rassismus ((Vgl. Cremer, Hendrik: “Racial Profiling” – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz. Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte 2013.)) gerade auch in der “verdachtsunabhängigen Kontrolle”, die Polizist*innen besonders im Bereich von Bahnhöfen durchführen, meist zur Feststellung unerlaubt nach Deutschland Eingereister, aber auch auf der Suche nach illegalisierten Drogen oder Verstößen gegen die Hausordnung von Bahnhöfen, so verdachtsunabhängig nicht. Polizist*innen müssen selektiv vorgehen und dürfen selbst entscheiden, wen sie für verdächtig genug halten, um eine Person zu kontrollieren – und greifen dafür, bewusst oder unbewusst, oft auf auf rassistische und andere Stereotype und Vorurteile – gerne als “Erfahrung” verkauft – zurück. ((Vgl. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. München: Goldmann 2009. )) Gerade bei der Suche nach unerlaubt Eingereisten sucht die Polizei gezielt nach Menschen, die für sie “ausländisch” aussehen und orientiert sich da besonders an der Hautfarbe oder an sonstigen phänotypischen Merkmalen. ((Cremer, Hendrik: ““Racial Profiling”: Eine menschenrechtswidrige Praxis” (2014). https://www.boell.de/de/2014/10/22/racial-profiling-eine-menschenrechtswidrige-praxis, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Es gibt unzählige Berichte von Schwarzen und People of Color in Deutschland über die unzähligen Polizeikontrollen, die sie über sich ergehen lassen müssen.

Deutschsein ist weiß

Eine weitere spezifische Form des deutschen Rassismus, für die es keine Wahrnehmung gibt und die in der Berichterstattung immer wieder reproduziert wird, ist die Assoziation von “Deutschsein” mit weißsein. Wer in den Augen der Berichtenden nicht weiß ist, kann nicht “deutsch” sein. Sofort ist die Rede von “Migrant*innen”, von “Menschen mit Migrationshintergrund”, von Menschen “(nord-)afrikanischen Aussehens”. Wer Schwarz ist, sieht sich immer wieder mit der Frage nach der wirklichen Herkunft konfrontiert. Auch wenn die eigene Familie seit Generationen und Jahrhunderten in Deutschland – einem identitären Konstrukt, das auch erst seit 1871 besteht – lebt, ist es für die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht möglich, sie als Deutsche zu akzeptieren. ((Vgl. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß.)) Dass das weiß sein als “normal” gesetzt wird, zeigt sich auch bei Formulierungen, dass Menschen “anderer Hautfarbe” oder “anderen Aussehens” dies oder das gemacht haben oder ihnen angetan wurde. Damit sind nie Weiße gemeint. Auch bei der Berichterstattung Ende August zu den Angriffen von Neonazi-Hools in Chemnitz auf Menschen, die diese Neonazis nicht als Deutsche identifiziert hatten, wird die Kategorisierung der Nazis in der Berichterstattung unkritisch übernommen und von Angriffen auf “Migranten”, “Geflüchteten” und “Ausländern” berichtet. ((Vgl. die Berichterstattung der SZ, FAZ, Welt, Bild und anderen zu den Pogromen in Chemnitz.))

Die fortschrittliche Gesellschaft

Ein weiterer Aspekt des in Deutschland weit verbreiteten Rassismus, der diesmal aber die gesamte “westliche, freiheitliche” Welt betrifft, ist die Vorstellung einer “fortgeschrittenen, entwickelten” Gesellschaft, im Gegensatz zur “Dritten Welt”, zu den “Entwicklungsländern”. Hier setzt sich der althergebrachte weiße Kolonialismus und der weiße Überlegenheitsgedanke fort. Entsprechend werden gerade Geflüchtete, aber auch Muslima*e und damit natürlich auch muslimische Geflüchtete als gefährlich für die deutsche Demokratie betrachtet, weil sie ja aus “rückschrittlichen” Gesellschaften kämen bzw. “rückschrittliche” Werte vertreten würden. Die Forderung, dass Menschen, die in die deutsche Gesellschaft aufgenommen werden wollen, sich an die “demokratischen” und “freiheitlichen Werte” dieser Gesellschaft anzupassen haben und sonst keinen Platz hier hätten, legt bei 10% rechtsextremen deutschen Staatsbürger*innen und um die 20 % weiteren deutschen Staatsbürger*innen, deren Überzeugungen für Rechtsradikalismus anknüpfungsfähig sind, doppelte Standards an, verklärt die “eigene” “freiheitliche” Gesinnung und unterstellt allen “anderen” eine autoritäre, “rückschrittliche” Gesinnung.

Diese Überheblichkeit und Geschichtsvergessenheit ebenso wie der Rassismus zeigte sich besonders deutlich bei der 2007 vorgenommenen Einschätzung des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg zu den mutmaßlichen Täter*innen der NSU-Morde, dass

[v]or dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, abzuleiten [ist], dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.” ((Landeskriminalamt Baden-Württemberg (LKA-BW) (Autor: KHK Udo Haßmann): Gesamtanalyse der bundesweiten Serie von Tötungsdelikten an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund, o.O. (Stuttgart), o.J. (30.1.2007). Zitiert in: Tribunal ‘NSU-Komplex auflösen’: “Der instituionelle Rassismus bei den Ermittlungen und die Kriminalisierung der Betroffenenen”. http://www.nsu-tribunal.de/unsere-anklage-der-institutionelle-rassismus, letzter Zugriff: 01.09.2018. ))

Obwohl Angehörige von Anfang an darauf hinwiesen, dass Neonazis hinter den Morden stecken könnten, wollte die Polizei davon nichts wissen, rechtfertigte dies mit absurden Begründungen wie der gerade genannten und rassistischen Stereotypen gegenüber den Opfern, die die Polizei in mafiöse Verwicklungen ver-strickt vermutete. Und das 62 Jahre nach der Niederschlagung des NS-Regimes und der Verübung des Holocaustes und circa 15 Jahre nach den Pogromen gegen (vermeintlich) zugewanderte Menschen in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen, Mölln und anderen Attacken Anfang der 90er Jahre, bei denen innerhalb von vier Jahren 56 Menschen getötet wurden. Übrigens wurden ab 1990 bis heute 193 Todesopfer rechter Gewalt gezählt, sowie circa 600 weitere Mordversuche. ((Vgl. Brausam, Anna: “Todesopfer rechter Gewalt seit 1990”. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/, letzter Zugriff: 01.09.2018.))

Zuwanderungsland Deutschland wider Willen ((Folgendes Kapitel bezieht sich insbesondere aus Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: Beck 2014 und Jäger, Margarete: “Skandal und doch normal. Verschiebungen und Kontinuitäten rassistischer Deutungsmuster im deutschen Einwanderungsdiskurs.” Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 30-48.))

Auch im Umgang mit Asylsuchenden zeigt sich der Rassismus, der hier mit Etabliertenvorrechten Hand in Hand geht, sehr deutlich. Nach den Erfahrungen von Hunderttausenden aus Nazi-Deutschland geflüchteten Menschen, überwiegend Jüdinnen*Juden, die Schwierigkeiten hatten, von anderen Ländern aufgrund sehr restriktiver Asylbestimmungen aufgenommen zu werden, wurde im Grundgesetz der BRD das Recht auf Asyl bei politischer Verfolgung festgeschrieben. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens der BRD wurde dieses Asylrecht wenig in Anspruch genommen. Jedoch wurde bereits mit den Debatten über die sogenannten “Gastarbeiter*innen” ((Aufgrund von Arbeitskräftemangel wurden 1955-1973 Menschen aus dem Ausland als Arbeitskräfte angeworben, jedoch mit der Erwartung, dass diese die BRD wieder verlassen, sobald sie als Arbeitskräfte nicht mehr “gebraucht” würden. Stattdessen siedelten sich viele in der BRD an und holten ihre Familien nach.)) klar, dass es für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht möglich schien, zugezogene Menschen anderer Nationalitäten in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Hier kam zum ersten Mal die bis heute andauernde und weit verbreitete Ansicht auf, es gebe “nützliche” Ausländer*innen, die es als gute Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen gelte und die anderen, die es fernzuhalten gelte. Aufgrund dessen, dass zu diesem Zeitpunkt Arbeiter*innen gebraucht wurden. kam der Rassismus gegenüber den “Gastarbeiter*innen” nicht unverhohlen zum Ausdruck, sondern eher in Form von Paternalismus und Überheblichkeit, sowie in Debatten über die Integrierbarkeit beziehungsweise Nicht-Integrierbarkeit insbesondere von Türk*innen. 1982, circa zehn Jahre nach dem Anwerbestopp von Gastarbeiter*innen, 1982, deklarierte die Bundesregierung, “Deutschland [sei] kein Einwanderungsland” und beschloss, den Anteil an Ausländer*innen in der BRD spürbar zu reduzieren. Spätestens ab da gilt die Zuwanderung in Deutschland als problematisch, als Bedrohung für die deutsche Identität und für die soziale wie körperliche “Sicherheit” von Deutschen. ((Vgl. Jäger, Margarete: Skandal und doch normal S. 36.))

In der DDR wurden zur gleichen Zeit Vertragsarbeiter*innen insbesondere aus den “Bruderstaaten” Vietnam und Mosambik angeworben. Abgesehen von offiziellen Veranstaltungen zelebrierter Völkerfreundschaft gab es eine strenge Trennung der Vertragsarbeiter*innen von der restlichen Bevölkerung, Kontakte zu den Vertragsarbeiter*innen mussten gemeldet werden. Die Vertragsarbeiter*innen lebten in Sammelunterkünften, unter prekären sozialen und arbeitsrechtlichen Bedingungen. Schwangere Vertragsarbeiterinnen zum Beispiel mussten entweder die Schwangerschaft abbrechen oder wurden abgeschoben. Jeglicher öffentlicher Diskurs über das Zusammenleben von einheimischer Bevölkerung und Vertragsarbeiter*innen wurde unterdrückt. Insgesamt machten Ausländer*innen weniger als ein Prozent der Bevölkerung in der DDR aus. ((Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert S. 1173.))

Der Umgang mit zugewanderten Menschen in beiden deutschen Staaten zeigt den damals immer noch tief sitzenden Rassismus der Menschen, der allerdings aus unterschiedlichen Gründen noch nicht so stark zum Ausbruch kam. Ab 1989, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der daraus entstehenden Fluchtbewegung vieler Menschen auch in die neu vereinigte Bundesrepublik, zeigte sich der Rassismus immer unverhohlener. Die Union hatte seit Jahren – mit der wachsenden Zahl an Asylbewerber*innen auch schon vor 1989 – gegen “Asylbetrug” agitiert und eine Grundgesetzänderung des Asylrechtsparagra­fen gefordert. Lange Zeit hatten sich SPD und Grüne dagegen gesperrt. Parallel zu der sich zuspitzenden feindlichen Stimmung gegenüber Asylbewerber*innen kam es zu ersten Überfällen auf Asylunterkünfte, die erst kurz zuvor von der Regierung eingeführt worden waren, um die Menschen von einem Asylantrag abzuhalten.

Die rassistische Gewalt gegenüber Asylbewerber*innen, aber auch sonstigen Migrant*innen und als nicht-deutsch Wahrgenommenen gegenüber eskalierte in den folgenden Jahren. 1991 kam es zu 6 Tage andauernden Pogromen gegen ein Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen und eine Asylunterkunft in Hoyerswerda. Die von dort geretten Arbeiter*innen wurden in der Folge abgeschoben. Es folgten unzählige Angriffe auf Asylunterkünfte, Wohnheime für Vertrags- oder Gastarbeiter*innen und auf Menschen, die für die Angreifer*innen nicht deutsch genug schienen. 1992 wurde in Rostock-Lichtenhagen vier Tage lang unter Beifall von circa 3000 Menschen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen von mehreren hundert Menschen angegriffen und das danebenliegende Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen angezündet und von der Polizei im Stich gelassen. Weitere Pogrome, Brandanschläge auf Asylunterkünfte und Angriffe auf und Ermorderungen von Menschen, die für ihre Angreifer*innen nicht deutsch genug waren, folgten.

Nach dem Brandanschlag in Mölln, bei dem drei Menschen getötet und neun schwer verletzt wurden, die bereits seit Jahren in Deutschland lebten, erhob sich erstmals breiter Protest in der Bevölkerung, in Form von Demonstrationen und kilometerlangen Lichterketten, bei denen gegen “Ausländerfeindlichkeit” protestiert wurde. Jedoch zogen in diesen Jahren auch die beiden offen rechtsradikalen Parteien Die Republikaner und die DVU (Deutsche Volksunion) in den 90er Jahren in insgesamt fünf Landtage ein und erhielten circa 5-12% der Stimmen.

Zur selben Zeit, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, siedelten sich viele deutschstämmige Menschen, sogenannte “Aussiedler*innen” und besonders Russlanddeutsche in Deutschland an. Gab es 1990 noch Misstrauen gegenüber diesen Menschen, fokussierte sich dann der Hass auf die “rein ausländischen” Zugezogenen. 3 Millionen Russlanddeutsche siedelten sich im selben Zeitraum in Deutschland an und wurden vergleichsweise “wie von einem Schwamm [absorbiert]” ((Vgl. Decker et al., Die enthemmte Mitte S. 15.)). Die Geschichte der Russlanddeutschen wird – auch wenn statistisch die Angleichung an den Rest der deutschen Bevölkerung noch nicht ganz abgeschlossen ist – als Erfolgsgeschichte betrachtet. ((Vgl. Wikipedia: “Russlanddeutsche”, https://de.wikipedia.org/wiki/Russlanddeutsche, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Dass die Integration der “Russlanddeutschen” dermaßen problemlos vonstatten ging, lässt vermuten, dass materielle Befürchtungen aufgrund neuer “Konkurent*innen” eher Vorwand oder Rechtfertigung rassistischer Vorurteile sind als dass eine tatsächliche materielle Konkurrenz Rassismus verursacht. ((Vgl. Decker et al., Die enthemmte Mitte S. 15.))

In Reaktion auf die Pogrome setzte die CDU 1993 ihre Forderung nach einer Änderung des Grundgesetzartikels zum Asylrecht durch. Im sogenannten “Asylkompromiss” wurde eingeführt, dass nur Leute, die aus einem Land einreisen, indem die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht gelten, in Deutschland Asyl beantragen können. Faktisch wurde damit das Recht auf Asyl abgeschafft, denn Deutschland war als Binnenland inmitten von Ländern, für die diese Konventionen gelten, auf den allermeisten Fluchtwegen nicht mehr erreichbar. Nur wer per Flugzeug direkt nach Deutschland einreiste, konnte noch Asyl beantragen. Daraufhin – und auch weil sich die politische Lage in vielen Ländern beruhigte – ging die Zahl der Einwandernden und Asylbewerber*innen stark zurück.

Der Umgang von Politik und Medien mit Asylbewerber*innen und Zugewanderten in den 1990ern trug vermutlich dazu bei, dass sich bundesweit Neonazis organisierten und radikalisierten und Gewalt- und Terrorakte gegenüber Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten, zu einem Teil ihres Handlungsfeldes machten. So formierte sich der Nationalsozialisten Untergrund NSU Ende der 90er Jahre aus diesen Strukturen heraus ((Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert S. 1178 und “Der NSU im Netz von Blood & Honour und Combat 18”. Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 11-29.)), ebenso viele weitere weniger bekannte neonationalsozialistische Gruppen, die Bombenanschläge durchführten und Menschen ermordeten ((Vgl. Andreasch, Robert: “Vom Penzberger Rathaus bis zum Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Rechte Attentate in Bayern”. Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945. Hrsg. von Winfried Nerdinger, Mirjana Grdanjski und Ulla-Britta Vollhardt. München: NS-Dokumentationszentrum, 2017. 63-73, S. 67 ff.)).

Ende der 1990er war von der Skandalisierung von “Ausländer*innenkriminalität” geprägt. Gleichzei­tig kam mit Beginn der rot-grünen Koalition ab 1998 auch der Begriff der “multikulturellen Gesellschaft” auf und wurde heiß diskutiert. Der Kurs der Regierung änderte sich im Hinblick auf Migration und Asyl. Das Staatsbürger*innenschaftsrecht wurde so weit geändert, dass Einwander*innen die Möglichkeit bekamen, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erlangen ((Aktuell ist es auf folgendem Weg möglich, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten: 1. Wenn mindestens ein Elternteil deutsche*r Staatsbürger*in ist – diese Kinder dürfen ihr Leben lang eine doppelte Staatsbürger*innenschaft behalten–, 2. wenn Kinder von nichtdeutschen Eltern auf deutschem Boden geboren werden, solange die Eltern bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllen – diese Kinder müssen sich mit 18 für eine Nationalität entscheiden– oder 3. durch Einbürgerung, bei der einiges an Hürden wie dem Einbürgerungstest und einem Deutschtest bewältigt werden müssen und die Person weder Sozialhilfe erhalten noch vorbestraft sein darf und mindestens acht Jahre in Deutschland leben muss. Vgl. Bundesauslaenderbeauftragte.de: “Einbürgerung in Deutschland”. http://www.bundesauslaenderbeauftragte.de/einbuergerung.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.)). Damit wurde auch das bis dahin geltende nur vererbbare Staatsbürger*innenrecht (ius sanguinis), das seit 1913 mehr oder weniger unverändert war, wenn auch nicht abgeschafft, so zumindest aufgeweicht ((Vgl. VVN-BdA Kreisverband Augsburg: “Staatsbürgerschaftsrecht in Deutschland – eine Übersicht über die letzten 100 Jahre” (2007). http://vvn-augsburg.de/1a_jahrestage/texte/staatsbuergerschaftsrecht2007.pdf, letzter Zugriff: 01.09.2018.)).

Des Weiteren rief die rot-grüne Koalition in Reaktion auf den 2000 verübten Anschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf zum “Aufstand der Anständigen” auf. Zahlreiche Demonstrationen wurden organisiert und Initiativen gegen Rechtsextremismus ins Leben gerufen. 2005 wurde ein neues Zuwanderungsgesetz verabschiedet, das Zuwanderung wie auch seine Begrenzung gesetzlich festschrieb.

Auch wenn vordergründig auch durch den Kurswechsel in der Regierung sich die Lage im kommenden Jahrzehnt zu entspannen schien, so begann der NSU in dieser Zeit seine Mordserie, die lange Jahre von den Medien rassistischerweise als “Döner-Morde” bezeichnet wurde und die Aufdeckung des NSU bei Verfassungsschutz und Polizei mindestens durch rassistisch motiviertes Totalversagen, teilweise mit Sicherheit auch bewusst verhindert wurde, sodass er über zehn Jahre lang ungestört agieren konnte. Bis heute wird die Aufklärung bewusst sabotiert und verhindert, institutioneller Rassismus geleugnet, der Fokus lediglich auf Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gerichtet. Von einem ganzen Netzwerk, das sie unterstützt haben muss, wollen die ermittelnden Behörden nichts wissen.

Zudem geriet der Islam seit den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 immer mehr in den Fokus der deutschen Mehrheitsgesellschaft und steigerte sich zu antimuslimischem Rassismus. So änderte sich seit den 80er Jahren die Bezeichnung von “Ausländern” über “Menschen mit Migrationshintergrund” zu “Moslems” im Jahr 2001. Während vor 2001 Gefahr nur von denjenigen auszugehen schien, die sich nicht anpassen wollten, wurden nun auch assimilierte Menschen zur potenziellen Gefahr stilisiert, als fundamentalistische Terrorist*innen, die auf den richtigen Augenblick warteten, sich zu enttarnen. ((Vgl. Jäger, Margarete: Skandal und doch normal S. 41ff. )) Seitdem gibt es Diskussionen darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht und ob Muslime in den “demokratischen” Staat Deutschland integrierbar seien.

Back to the 90s – oder nicht?

Seit 2015 spitzt sich die Lage wieder auf eine Weise zu, die so sehr an die 90er Jahre erinnert, dass es eine*n schwindelt: Januar 2015 wurde unter einer im Bau befindlichen Asylunterkunft eine Rohrbombe gefunden mit der Aufschrift “Tod IS”, umrahmt von zwei Hakenkreuzen. ((Reinfrank, Timo; Brausam, Anna: “Rechter Terror gegen Flüchtlinge – Die Rückkehr der rechten Gewalt der 1990er Jahre”. Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger “Mitte”-Studie 2016. Hrsg. von Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016. 235-243. S. 236.)) Medienresonanz gleich null. Danach Brandanschläge auf Asylunterkünfte, Pogrome in Tröglitz, Freital und Heidenau, in Bautzen, und erst kürzlich im August 2018 in Chemnitz. Die rechte Gewalt eskaliert wieder.

Doch nicht nur das: Die CSU beschließt 2016 ein Bayerisches Integrationsgesetz, das die Anpassung an eine bayerische Leitkultur gesetzlich festschreibt, 2018 dis-kutiert sie bei einer Klausurtagung die “finale Lösung der Flüchtlingsfrage”. Es wird gegen integrationsunwillige, “kriminelle”, für die Deutschen und besonders für die “deutschen Frauen” gefährliche, das Sozialsystem ausnutzen wollende, arbeitsunwillige, muslimische und damit “rückständige”, demokratiefeindliche Geflüchtete gehetzt. Die EU beschließt die Schließung ihrer Grenzen und verhindert die private Seenotrettung für übers Mittelmeer Flüchtende.

Eine Sache, die sich von den 90ern unterscheidet: die AfD. Sie zeigt sich immer offener rechtsradikal und gewinnt dabei immer mehr an Zuspruch. Aktuell kommt sie auf ca. 15-17 % Wähler*innenstimmen und liegt damit gleichauf mit der SPD ((Vgl. Zicht, Wilkow; Cantow, Matthias: “Sonntagsfrage Bundestagswahl”. http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm, letzter Zugriff: 01.09.2018.)). Sie sitzt seit 2017 mit 12,6 % im deutschen Bundestag, als erste offen rechtsradikale Partei seit Gründung der Bundesrepublik. In den bayerischen Landtag wird sie im Oktober diesen Jahres bei der bevorstehenden Landtagswahl mit Sicherheit einziehen, erste Stimmen aus der CSU werden laut, mit der AfD zu koalieren. Damit könnte die AfD die erste offen rechsradikale Partei sein, die an einer Regierung beteiligt ist ((Wobei auch heute schon davon gesprochen werden kann, dass die CSU in Bayern die gleiche Politik betreibt, die die AfD propagiert. )). Noch nie konnte die organisierte Rechte das vorhandene rassistische, rechtsradikale und autoritäre Potenzial, das in der deutschen Bevölkerung schlummert, so gut kanalisieren, organisieren und politisieren.

Da bleibt es ein kleiner Trost, dass auch diejenigen, die sich gegen Rassismus und Rechtsradikalismus aussprechen, lauter und wacher sind als in den 90er Jahren, organisierter, politisierter, entschiedener.

Rechtsenthemmung statt Rechtsruck

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Haben wir es mit einem “Rechtsruck” zu tun? Und haben die Geflüchteten Anteil an dieser Entwicklung? Seit 2015 steigt die Gewalt gegen Geflüchtete und Menschen, die für gewisse Leute nicht “deutsch genug” zu sein scheinen, an. Seit 2015 steigen auch die Asylbewerber*innenzahlen an und erreichten im August 2015, als Angela Merkel eigenmächtig die deutschen Grenzen öffnen ließ, ihren Höhepunkt. Damals staunten viele über die deutsche “Willkommenskultur”. Von der ist heute nicht mehr viel zu sehen. Sind also doch die Asylbewerber*innen daran schuld? Haben sie es sich “verspielt”, sind sie zu schwierig, als dass es möglich sei, sie in Deutschland zu integrieren?

Wohl kaum.

Ich habe im Artikel den deutschen Rassismus in vielen seiner Facetten vorgestellt und seine Entwicklung in den letzten Jahrzehnten skizziert. Der Diskurs um “kriminelle”, integrations­unwillige, und antidemokratische Gastarbeiter*innen/Ausländer*innen/Türk*in­nen/Men­schen mit Migrationshintergrund/Muslima*e/Asylbewerber*innen/Geflüchtete/ Migrant*in­nen etc. ist Jahrzehn­te alt.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen auf, dass trotz scheinbarer Bemühungen im Kampf gegen Rechtsradikalismus besonders Anfang der 2000er Jahre, nur – wenn überhaupt – an der Oberfläche gekratzt wurde. Wir sind weit davon entfernt, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich ernsthaft mit ihren Privilegien und mit ihrem eigenen rassistischem Verhalten auseinandersetzt. In einer Gesellschaft, in der bis heute Rassismus und Rechtsradikalismus damit bekämpft werden sollen, dass die Grenzen dicht gemacht werden, eingewanderte Menschen und Menschen, die nicht ins Mehrheitsbild passen, zur Assimilation an diese Mehrheit gezwungen werden, das Asylrecht eingeschränkt oder sogar außer Kraft gesetzt wird und die Schuld bei den Menschen gesucht wird, die Opfer rechtsradikaler und rassistischer Anfeindungen werden, in einer Gesellschaft, in der nach rassistischen Pogromen wie in Chemnitz Ende August 2018 von der “Selbstjustiz besorgter Bürger” die Rede ist ((Vgl. die Berichterstattung zu den Pogromen in Chemnitz.)), kann von mehr als einem Lippenbekenntnis gegen Rassismus und Rechtsradikalismus nicht die Rede sein.

Aus diesen Ergebnissen heraus muss der Begriff “Rechtsruck” mit Vorsicht gebraucht werden. Wir erleben eine klare Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts – allerdings nicht zum ersten Mal. Tabus der letzten Jahre fallen wieder. Jedoch standen sie schon immer auf wackligem Terrain. Insbesondere im Hinblick auf den rassistisch geprägten Diskurs bezüglich nach Deutschland einwandernden Menschen ist eher von einer Kontinuität mit Ausschlägen nach oben zu sprechen, da nie ein Stand erreicht war, der antirassistisch genannt werden kann. Außerdem werden keine Menschen aufgrund ihrer materiellen Sorgen und befürchteter wirtschaftlicher Schwierigkeiten – zu tatsächlichen Einschränkungen kam es ja bisher nicht – neu zu rechten Rassist*innen, sondern nie ausgemerzte rassistische Vorbehalte und Haltungen werden angefacht, politisiert, radikalisiert und kanalisiert. Das rassistische und rechtsextreme Potenzial, das schon immer in der deutschen Bevölkerung geschlummert hat und das nie wirklich angegangen wurde, kommt so klar zum Vorschein wie lange nicht mehr.

Es kann nicht die Rede von einem “Rechtsruck” sein, sondern eher von einer “Rechtsenthemmung”, dass also unterdrücktes oder gehemmtes rechtes Gedankengut gesellschaftsfähiger wird, sich politisiert und organisiert. So wird auch klar, dass die besonders medial und (bildungs-)politisch erfolgte Arbeit gegen Aspekte von gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit mehrheitsgesellschaftlich bei vielen nur zur Hemmung menschenverachtenden Gedankenguts, nicht aber zur Selbstreflexion geführt hat. Zusätzlich wird damit weniger suggeriert, dass die Gesellschaft seit der Niederschlagung des NS-Regimes und spätestens seit den 68ern “weg von rechts” gerückt gewesen sei. Viele haben die Ereignisse der 90er Jahre vergessen. Gelernt haben wohl die wenigsten daraus. Hoffen wir, dass uns das nicht zum Verhängnis wird.

Literatur

Andreasch, Robert: “Vom Penzberger Rathaus bis zum Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Rechte Attentate in Bayern”. Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945. Hrsg. von Winfried Nerdinger, Mirjana Grdanjski und Ulla-Britta Vollhardt. München: NS-Dokumentationszentrum, 2017. 63-73.

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Zick, Andreas; Klein, Anna: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Hrsg. von Ralf Melzer. Bonn: J. H. W. Dietz 2014.

Empfehlungen

Schwarzes Empowerment und Deutscher Rassismus

Der braune Mob e.V. (https://www.derbraunemob.de/)

Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (isdonline.de)

ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland (http://www.adefra.de/)

Forschungsgesellschaft Flucht & Migration e. V. (https://ffm-online.org/)

Culture of Deportation (http://cultureofdeportation.org/)

Kampagne „Ban racial profiling. Gefährliche Orte abschaffen“ (http://www.polizei-gewalt.com)

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (https://kop-berlin.de)

Kampagne „Integration nein Danke“ (https://integrationneindanke.wordpress.com)

Materialen für rassismus- und herrschaftskritisches Handeln (www.mangoes-and-bullets.org)

Das Migazin (http://www.migazin.de/)

Anne Chebu: Anleitung zum Schwarzsein.

Noah Sow: Deutschland Schwarz-Weiß. Der alltägliche Rassismus

Katharina Oguntoye, May Opitz, Dagmar Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte.

NSU und extrem rechter Terror

NSU-Watch (www.nsu-watch.info)

Tribunal NSU-Komplex auflösen (www.nsu-tribunal.de)

Amadeu-Antonio-Stiftung (www.amadeu-antonio-stiftung.de)

Sebastian Friedrich, Regina Wamper, Jens Zimmermann (Hrsg.): Der NSU in bester Gesellschafft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat

Gegen ein Europa der Abschottung, gegen den rassistischen Normalzustand!

Anonyme Zusendung

In Deutschland und Europa vollzog und vollzieht sich während der letzten Jahre bis heute ein politischer Wandel. Extrem rechte Positionen sind in den letzten Jahren zunehmend stärker im öffentlichen Diskurs verankert worden, die gesellschaftliche Mitte hat sich bezüglich dieser Positionen zunehmend stärker enthemmt. Das hat auch institutionellen Niederschlag gefunden: Ultrarechte Parteien konnten beinahe überall in Europa Stimmen gewinnen und in die Parlamente einziehen, aber auch etablierte, gemäßigte Parteien und ihre Anhänger*innen haben sich zunehmend radikalisiert. Viele europäische Staaten befinden sich mitten in einem autoritären Umbau. Sie sind geprägt von innerer Aufrüstung, die sich beispielsweise in Deutschland durch eine Militarisierung der Polizei, eine Erweiterung polizeilicher Befugnisse um geheimdienstliche Tätigkeiten, einen Ausbau der Überwachung und Kontrollen, sowie verschärfte Strafgesetze offenbart. Zugleich schottet sich die EU nach außen ab, intensiviert den Schutz der EU-Außengrenzen und greift dabei zu drastischen Maßnahmen, die das Leben von Menschen gefährden.

Die Abschottungspolitik Deutschlands und der EU

Ertrinkende im Mittelmeer

Erinnerst du dich noch daran, als Anfang 2016 die damalige AfD-Chefin Frauke Petry den Einsatz von Schusswaffen gegen flüchtende Menschen forderte? Heute, rund 2,5 Jahre später ist Petrys damalige Provokation längst in der deutschen und europäischen Politik angekommen. Während in Deutschland eine „ergebnisoffene“ und menschenverachtende Debatte darüber geführt wird, ob es moralisch legitim ist, Flüchtende im Mittelmeer ertrinken zu lassen, ist letzteres bereits grausame Realität. Die Schiffe zahlreicher privater Seenotrettungsorganisationen werden derzeit in europäischen Häfen am Auslaufen gehindert und die, die sich noch auf offener See befinden, werden mit Flüchtenden an Board daran gehindert, europäische Häfen anzulaufen. Gegen zahlreicher Helfer*innen auf dem Mittelmeer werden Verfahren eröffnet. Sie werden wegen Schlepperei und Ähnlichem angeklagt und sollen damit wohl abgeschreckt werden. Unterdessen ist die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Menschen im Juni und Juli 2018, nachdem sich die Lage derart drastisch zugespitzt hat, dramatisch gestiegen: 629 Menschen sind alleine im Juni 2018 im Mittelmeer ertrunken. Im April und Mai 2018 waren es 109, bzw. 48 Menschen, im Januar, Februar und März 2018 waren es 234, 196 und 67 Menschen. ((Quelle: International Organization for Migration: Mixed Migration Flows in the Mediterranean vom Juni 2018, S. 47)) Das bedeutet im Juni 2018 sind mehr Menschen im Mittelmeer ertrunken, als in den fünf Monaten zuvor zusammen! Indem die EU-Länder die Schiffe der privaten Rettungsorganisationen daran hindern, auszulaufen wird der Tod dieser Menschen nicht nur in Kauf genommen. Um es juristisch nach den eigenen Gesetzen dieser Länder auszudrücken: Hier geht es um unterlassene Hilfeleistung!

Statt sich also wie von Petry 2016 vorgeschlagen der Schusswaffe zu bedienen, um unerwünschte Menschen aus Deutschland und Europa fernzuhalten, haben die EU-Staaten eine subtilere Methode gefunden. Das Resultat ist jedoch das gleiche: Massenhaft sterben Menschen im Mittelmeer, in Lagern für Flüchtende, an Hunger und in den Krisengebieten, aus denen viele zu fliehen versuchen, weil sich Europa abschottet, wohl wissend, dass das tausenden Menschen den Tod bringt.

Isolierung und Festhalten von Flüchtenden und Geflüchteten in Lagern

Natürlich ist das Sterben auf dem Mittelmeer nicht die einzige Folge deutscher und europäischer Abschottungspolitik. Innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen werden flüchtende Menschen in Lagern festgehalten, in denen menschen- und allgemein lebensfeindliche Zustände herrschen. Prominentes Beispiel für solche Lager ist Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Die Zustände dort sind mehr als prekär: Mehrere tausend Menschen, denen die Flucht in die EU gelungen ist, werden dort festgehalten, mit dem Ziel sie zu registrieren und dann zurück in die Türkei abzuschieben. Die Menschen müssen dort in Zelten leben – auch im Winter –, sie bekommen nicht genug zu Essen, die medizinische Versorgung ist katastrophal und sanitäre Einrichtungen, sowie der Zugang zu Wasser ist sind mehr als ungenügend. Kinder haben dort keinelei Zugang zu Bildungsangeboten und die in Moria festgehaltenen Menschen werden durch Stacheldrahtzäune von der dortigen Gesellschaft getrennt gehalten.

Das Lager Moria ist aber nur ein Beispiel. Mehrere solcher Lager außerhalb der EU-Grenzen sollen verhindern, dass flüchtende Menschen die EU überhaupt erreichen. So werden die Menschen förmlich dazu gezwungen, die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer anzutreten.

Und auch weit innerhalb der EU-Grenzen, beispielsweise in Deutschland, existieren hunderte, wenn nicht tausende Lager in denen Geflüchtete abseits der Mehrheitsgesellschaft und in vielen Fällen ebenfalls (optisch) durch Zäune und Stacheldraht von ihr getrennt gesammelt untergebracht werden. Ziel solcher Lager, das zeigen beispielsweise die sogenannten AnkERZentren (das steht für „Zentrum für Ankunft, Entscheidung, Rückführung“) ganz offen in der Namensgebung, ist es, Geflüchtete unter Kontrolle zu behalten, sodass diese möglichst einfach wieder zurück in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können.

Abschiebungen von Geflüchteten

Auch Abschiebungen gehören zur Abschottungspolitik der EU und Deutschlands: Die verhältnismäßig wenigen Menschen, denen es trotz aller Hindernisse gelungen ist, die EU und Deutschland zu erreichen, müssen den jeweiligen Behörden beweisen, dass sie einen „hinreichenden“ Grund für ihre Flucht haben. Was dabei als „hinreichend“ gilt ist nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Behörde zu Behörde, ja sogar von Sachbearbeiter*in zu Sachbarbeiter*in verschieden. Mit anderen Worten: Es sind völlig willkürliche Kriterien, nach denen entschieden wird, wer bleiben darf und wer nicht. Ziel der Politik ist jedenfalls, so wenige Menschen wie möglich hierzubehalten.

Wird der Antrag auf Asyl einer geflüchteten Person abgelehnt und diese weigert sich trotzdem das Land zu verlassen, kann es passieren, dass diese Person brutal abgeschoben wird. Teilweise passiert es auch, dass Menschen abgeschoben werden ohne dass über deren Asylgesuch entschieden wurde oder auch, dass einer Person die Ablehnung des Asylgesuchs mit der Abschiebung mitgeteilt wird. So wird den Menschen vielfach die Möglichkeit genommen, sich juristisch gegen die Ablehnung ihres Asylgesuchs zu wehren.

Gegen ihren Willen werden die Menschen bei einer Abschiebung in ihre (vermeintlichen) Herkunftsländer zurückgebracht, beispielsweise in eigens dafür gecharterten Flugzeugen. Zum Teil werden diese Menschen Tage zuvor festgenommen und müssen in Gefängnissen auf ihre Abschiebung warten.

Natürlich ist jede Abschiebung ein untragbarer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen! Teilweise gehen die Behörden der EU-Staaten, darunter auch deutsche Behörden aber sogar soweit, Menschen in Kriegsgebiete (beispielsweise nach Afghanistan) abzuschieben. In die gleichen Gebiete, in denen es etwa deutschen Polizist*innen nicht zuzumuten sei, sich längere Zeit aufzuhalten, weil das lebensgefährlich sein kann. Das ist eine besonders menschenverachtende Praktik!

Rassismus und Ausgrenzung auf dem Vormarsch in Deutschland und Europa

Die Abschottung Europas findet vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verschiebung des europäischen politischen Koordinatensystems nach rechts statt. In beinahe allen EU-Staaten haben sich rechte Positionen innerhalb der letzten Jahre im öffentlichen Diskurs verankert und dabei ultrarechte Parteien in die Parlamente befördert, während das gesamte etablierte Parteienspektrum ebenfalls nach rechts gerückt ist. In Deutschland beispielsweise ist es der AfD gelungen, in die Parlamente einzuziehen, während CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke zunehmend rassistischere Positionen vertreten und auch entsprechende Gesetze auf den Weg bringen. Der längst begonnene autoritäre Umbau des deutschen Staates wird von allen Parteien mit Regierungsverantwortung, meist von CDU/CSU und der SPD, aber auch von den Grünen und der Linken vorangetrieben.

Ähnlich sieht es auch in anderen Staaten der EU aus, teilweise ist die Entwicklung dort sogar weiter fortgeschritten: In Österreich ist es der FPÖ gelungen, eine Regierungsbeteiligung zu erringen, in Frankreich scheiterte die Front National zwar bei den Präsidentschaftswahlen, doch der amtierende Präsident Macron treibt den autoritären Umbau des Staates weiter voran. In Polen regiert die rassistische PiS-Partei seit 2015 alleine und in Italien ist es einem seltsamen Bündnis aus der rechtspopulistischen Lega und der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung gelungen, eine Regierung zu bilden. In Ungarn regiert die rechtspopulistische Partei Fidesz seit 2010 und hat eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament inne. In Spanien ist die rechtskonservative Partei Partido Popular derzeit stärkste parlamentarische Kraft.

Hauptagitationsfeld beinahe aller dieser Parteien sind rassistische Positionen und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Egal ob es um die angebliche „Islamisierung“ der EU geht, bei der antimuslimischer Rassismus gegen Geflüchtete agitieren soll, um antiziganistische oder antisemitische Positionen, die oft dazu dienen, Stimmung gegen Minderheiten der Bevölkerung eines Landes zu erzeugen, die Strategie der rechten Parteien geht wohl deshalb so gut auf, weil entsprechende Ressentiments und Rassismus tief in den jeweiligen Gesellschaften verwurzelt sind.

Schon deshalb kann es nicht ausreichen, die moralische Verwerflichkeit der von den Parteien vorgeschlagenen Maßnahmen zu kritisieren, um ihre Positionen zu delegitimieren. Solange der Rassismus in der Gesellschaft verwurzelt ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er in eliminatorische Formen umschlägt. Es ist notwendig, radikale Rassismuskritik zu üben und die Menschen dazu zu bringen, sich mit dem eigenen Rassismus auseinanderzusetzen, diesen zu hinterfragen und so nach und nach abzubauen.

Doch von einer solchen Rassismuskritik sind wir in Deutschland und Europa weit entfernt. Selbst weite Teile einer „radikalen Linken“ akzeptieren nicht, dass sie sich zuweilen rassistisch verhalten, geschweige denn die Mehrheitsgesellschaft. So werden rassistische Haltungen absichtlich nicht reflektiert und bestehen so weiter fort. Die Gesellschaft bleibt damit empfänglich für rechtspopulistische bis extrem rechte Positionen.

Handlungsmöglichkeiten

Antirassistischer, Antifaschistischer und Antiautoritärer Widerstand hat in den letzten Jahren viel Boden verloren. Weder ist es gelungen, die Erstarkung extrem rechter politischer Akteur*innen (etwa der AfD in Deutschland) zu verhindern, noch waren Proteste gegen autoritäre Gesetze und die rassitische Politik der Abschottung Europas besonders erfolgreich. Viele antifaschistische und antirassistische Strukturen stehen heute geschwächt da. In den letzten Monaten jedoch lässt sich ein kleiner Aufschwung beobachten: Die Proteste gegen die neuen Polizeiaufgabengesetze der Länder in Deutschland mobilisieren zahlreiche Menschen und angesichts der Festsetzung ziviler Seenotrettungsorganisationen in den EU-Häfen scheint sich gerade eine deutschland- und europaweite Massenbewegung gegen die Abschottungspolitik der EU zu etablieren.

Natürlich sind die Positionen der beteiligten Organisationen und Einzelpersonen an diesen Protesten im Allgemeinen nicht radikal und weitgehend genug. So wird zwar häufig ein Ende der Abschiebungen nach Afghanistan und in andere Kriegsgebiete gefordert, nicht aber ein sofortiger Stopp aller Abschiebungen. Der Rassismus der deutschen Gesellschaft wird nur selten und wenn doch dann nur unzureichend kritisiert und eine Abschaffung aller Lager, Grenzkontollen, Zuwanderungsbeschränkungen, usw. spielt nur innerhalb der radikalen Linken eine Rolle. Das ist kein Wunder, schließlich ist ein Großteil der Menschen, die an diesen Demonstrationen teilnehmen auf die ein oder andere Weise im klassischen Parteienspektrum verankert, das viele der Misstände überhaupt erst hervorgebracht hat.

Trotzdem sind gerade die Massenproteste ein geeigneter Ort um die eigenen, radikalen Positionen sichtbar zu machen und die Proteste entsprechend zu prägen. Dabei geht es nicht darum, Kompromisse einzugehen, sondern darum, auch in den gemäßigten „linken“ Diskurs zu intervenieren und dort antirassistische, antiautoritäre und antifaschistische Positionen sichtbar zu machen. Möglicherweise gelingt es auf diesem Weg, radikale Strukturen wieder nachhaltig zu stärken.

Deshalb wollen wir anregen, sich bei den derzeit anstehenden Massenprotesten, etwa den deutschland- und europaweiten Protesten gegen die Festsetzung ziviler Rettungsorganisationen in EU-Häfen unter dem Namen „Seebrücke“, zu beteiligen und diese um linksradikale Positionen zu erweitern. Wir glauben, dass eine solche Intervention in den Diskurs der gemäßigten „Linken“ dringend nötig ist, um möglicherweise eine der letzten Chancen wahrzunehmen, den rassistischen Konsens in Deutschland und Europa wirksam anzugreifen. Egal ob ihr einen antifaschistischen Block auf einer Großdemonstration organisiert, oder durch direkte Aktionen auf eure Positionen aufmerksam macht, wichtig ist, dass radikale Positionen gegen die rassistischen Zustände in Europa und die Politik der Abschottung endlich eine breite Zustimmung finden!

Repressionswelle anlässlich einer Serie von Scheinbesetzungen

Von Kritische Prozessbegleitung München

Die Repressionswelle gegen zwei Personen, denen vorgeworfen wird, im Zeitraum von Juli bis Dezember 2017 insgesamt sieben Hausfriedensbrüche unter dem Label “Für Lau Haus” begangen zu haben, geht in die nächste Runde: Durch das Amtsgericht München wurde am 26. April 2018 die Entnahme von DNA-Material bei den beiden Beschuldigten angeordnet. Eine darauf folgende molekulargenetische Untersuchung soll klären, ob es Übereinstimmungen mit im Rahmen der Stürmung von scheinbesetzten Häusern durch Bullen sichergestellten DNA-Spuren gibt.

Einer der beschuldigten Personen wurde bereits Mitte Juni von Beamt*innen des Staatsschutzes DNA-Material entnommen, die andere Person konnte bislang von der Polizei nicht angetroffen werden. Sie wurde für den 10. Juli 2018 zur Entnahme einer DNA-Probe auf das Polizeipräsidium München vorgeladen.

Eine Welle der Repression

Hausdurchsuchung(en) am 31. August 2017

Die Repression begann Ende August 2017: Damals ordnete das Amtsgericht München Hausdurchsuchungen gegen die beiden Beschuldigten an, die einen Tag darauf, am 31.08.2017 von Staatsschutz-Bullen und USKlern vollstreckt wurde. Allerdings hatten die Bullen dabei nur teilweise Erfolg: Bei einem der Beschuldigten standen sie nämlich vor der falschen Tür. Das bemerkten sie jedoch ganz offensichtlich erst, nachdem sie die Tür bereits aufgebrochen hatten und feststellen mussten, dass der Beschuldigte nicht mehr in dieser Wohnung wohnte. Sie verursachten dabei einen Schaden in Höhe von über 400 Euro, den sie dem Beschuldigten nun in Rechnung stellen wollen, wie sie Anfang April 2018 ihm gegenüber mitteilten.

Bei dem anderen Beschuldigten dagegen hatten die Bullen Erfolg: Sie drangen gewaltsam in die Wohnräume des Beschuldigten, sowie die Gemeinschaftsräume und die Privaträume seiner Mitbewohner*innen ein. Dabei beschlagnahmten sie nicht nur den Rechner und diverse Mobilfunkgeräte des Beschuldigten, sondern unter anderem auch einen Stapel Bettlaken. Zurück ließen die Bullen Chaos und mutwillig verursachte Schäden. ((siehe auch http://www.beobachternews.de/2017/09/02/chaos-nach-hausdurchsuchung/))

Anlass für die damaligen Hausdurchsuchungen waren bei einer Personenkontrolle am 26. August 2017 beschlagnahmten Transparente, die im Besitz eines der Beschuldigten gefunden worden waren. Auf ihnen wurde Solidarität mit dem “Für Lau Haus” ausgedrückt. Unter dem Namen “Für Lau Haus” hatte es rund einen Monat zuvor, am 22. Juli 2017, eine Hausbesetzung des sogenannten Schnitzelhauses im Münchner Westend gegeben, ((siehe auch http://fuerlauhaus.blogsport.eu/2017/07/22/aktionserklaerung-zur-besetzung-des-schnitzelhauses-im-muenchner-westend-am-22-07-2017/)) die für einige öffentliche Aufmerksam gesorgt hatte. Der Fund von Transparenten, auf denen Solidarität mit dem Für Lau Haus erklärt wurde, hatte für Polizei und Justiz offenbar ausgereicht, um einen so schwerwiegenden Eingriff in die Intimsphäre der Beschuldigten wie den einer Hausdurchsuchung zu rechtfertigen. Doch das war erst der Anfang einer ganzen Serie von Repressionsmaßnahmen, die die beiden Beschuldigten seither über sich haben ergehen lassen müssen.

Hausdurchsuchungen am 28. September 2017

Rund einen Monat später, am 28.09.2017, kam es erneut zu Hausdurchsuchungen bei den beiden Beschuldigten. Diesmal hatten die Bullen ihre Hausaufgaben gemacht und standen auch bei der zweiten beschuldigten Person vor der richtigen Tür. Während der erste Hausdurchsuchungsbeschluss vom Gericht noch mit dem Polizeiaufgabengesetz gerechtfertigt worden war, also der Abwehr einer drohenden Gefahr dienen sollte, wurden die beiden Beschuldigten dieses Mal verdächtigt, insgesamt fünf Hausfriedensbrüche begangen zu haben. Brisant dabei ist jedoch, dass nur für einen einzigen dieser Hausfriedensbrüche zu diesem Zeitpunkt ein Strafantrag gestellt wurde. Zu den übrigen vier Hausfriedensbrüchen war nur lapidar vermerkt, “Strafanträge der jeweiligen Strafantragsberechtigten” würden eingeholt. Tatsächlich handelt es sich bei einem Hausfriedensbruch um ein sogenanntes Antragsdelikt, das nur auf Antrag verfolgt wird. Dem*der zuständigen Richter*in Kugler am Amtsgericht schien es darauf jedoch nicht anzukommen. Durchgeführt wurden die Hausdurchsuchungen beide in Abwesenheit der Beschuldigten. Bei einem der Beschuldigten brachen die Bullen dabei sogar die Wohnungstür auf, obwohl ein Mitbewohner des Beschuldigten anwesend war und die Tür hätte öffnen können. Auf eine schriftliche Beschwerde des Beschuldigten darüber antwortete Oberstaatsanwältin Tilmann darauf nur: “Ein schlagartiges gewaltsames Eindringen in Ihre Wohnung […] war unvermeidbar und verhältnismäßig, um eine Beweisvernichtung insbesondere in Bezug auf vorhandene EDV zu vermeiden. Wer und wie viele Personen sich zum Zeitpunkt der Wohnungsöffnung in der Wohnung befanden, war vor der Öffnung der Wohnung nicht bekannt und nicht erkennbar”. Die Bullen hatten also allem Anschein nach nicht einmal geklingelt.

Wie auch bei der ersten Hausdurchsuchung wurden durch die Polizei Rechner und Mobilfunkgeräte bei beiden Beschuldigten beschlagnahmt. In der Wohnung des Beschuldigten, den die Bullen bei der ersten Hausdurchsuchung nicht angetroffen hatten, entleerten die Bullen verschiedene Müllbehältnisse und verteilten den Müll auf dem gesamten Fußboden. Ganz offenbar eine gezielte Schikane. Deshalb packte der betroffene Beschuldigte den Müll kurzerhand in ein Paket und übersandte ihn den zuständigen Staatsschutzbullen Meyer und Knigge zusammen mit der Aufforderung, ihn nach Wertstoffen getrennt zu entsorgen.

Observationen und Telekommunikationsüberwachungen Ende September/Anfang Oktober

Was beide Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnten: Die Hausdurchsuchung bei ihnen war damals nur eine von mehreren gegen sie und ihr Umfeld gerichteten Maßnahmen, von denen sie erst ein halbes Jahr später erfahren würden: Zu diesem Zeitpunkt wurden sowohl die beiden Beschuldigten, als auch jeweils mindestens eine*r ihrer Mitbewohner*innen observiert und ihre Telekommunikation abgehört. ((siehe auch https://kritischeprozessbegleitungmuc.blackblogs.org/repressionsfaelle/observation-und-telekommunikationsueberwachung-mehrerer-personen-ende-septemberanfang-oktober-2017/)) Für derartige Maßnahmen reichte natürlich der Tatvorwurf des Hausfriedensbruchs, selbst der in mehreren Fällen, keineswegs aus. Deshalb konstruierten sich die Bullen einfach einen neuen Tatvorwurf: Im September 2017 waren im gesamten Münchner Stadtgebiet mehrere hundert Graffiti aufgetaucht. Außerdem hatte es einen Tag vor Beginn der Graffitiserie und offenbar zufällig im selben Stadtteil in dem die Graffitiserie begann, einen Brandanschlag auf ein Wohnmobil der Bayernpartei gegeben, bei dem dieses vollständig ausbrannte. Die beiden wegen Hausfriedensbrüchen Beschuldigten wurden nun kurzerhand auch beschuldigt, das Wohnmobil angezündet und die Graffitiserie begangen zu haben. Die Begründung für diesen Verdacht: Bei der ersten Hausdurchsuchung bei einem der Beschuldigten war der Staatsschutzbulle Unglaub beteiligt. Ein oder zwei der mehreren hundert Graffiti erwähnten auch den Namen Unglaub. Eines lautete etwa: “Denning grüßt das K43, Herr Unglaub”. Das Denkkonstrukt der Bullen war also: Als Rache für die Hausdurchsuchung hätten die Beschuldigten kurzerhand mehrere hundert Graffity im gesamten Münchner Stadtgebiet gesprüht. Unter anderem, um sich an KOK Unglaub zu rächen. Da die Graffiti-Serie gleichzeitig mit dem Brandanschlag auf das Wohnmobil der Bayernpartei begann, wurde auch hier ein Zusammenhang konstruiert.

Nachvollziehbar ist, dass Menschen sich für Repression rächen. Nicht nachvollziehbar ist, dass diese Rachebotschaften beliebig in der Stadt verteilt statt an Wohn- oder Arbeitsorten der Bullen angebracht werden und dabei mal eben noch ein Wohnmobil angesteckt wird.

Aber das Amtsgericht hielt die Konstruktion der Bullen offenbar für plausibel. Die Folge dieser abstrusen Denkkonstrukte: Observations- und Telekommunikationsmaßnahmen gegen die beiden Beschuldigten und ihr betroffenes Umfeld. Abgehört wurden mehrere Mobilfunkanschlüsse des einen Beschuldigten. Ironischerweise waren all diese Geräte bei den beiden Hausdurchsuchungen zuvor durch die Polizei beschlagnahmt worden. Außerdem wurde die E-Mail-Adresse dieses Beschuldigten und der Festnetzanschluss seines Mitbewohners überwacht. Über den zweiten Beschuldigten steht in den Akten, dass er “auf technische Kommunikationsmittel verzichten” würde, um einer Überwachung zu entgehen. Deshalb wurde das Mobiltelefon seiner Mitbewohnerin abgehört. Grund dafür war ein zuvor abgehörtes Gespräch zwischen seiner Mitbewohnerin und dem anderen Beschuldigten, in dessen Verlauf sie das Gespräch an ihn übergeben hatte. Dem Gericht genügte das als Beweis dafür, dass die Mitbewohnerin eine Mittelsperson sei und es ordnete die Überwachung ihres Mobiltelefons an.

Nach rund zwei Wochen wurden die Observations- und Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen jedoch eingestellt. Die Bullen hatten sich in der Zwischenzeit zwei andere Sündenböcke für die Graffitiserie gesucht und diese festgenommen. Einer der beiden sitzt bis heute in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess. ((siehe https://freemax.noblogs.org))

DNA-Entnahme, DNA-Entnahmeversuch und Vorladung zur DNA-Entnahme

Momentan versuchen die Bullen den nächsten Streich zu vollstrecken. Einer Anordnung des Amtsgerichts vom 26. April 2018 nachkommend haben einige Staatsschutzbullen, darunter abermals Unglaub, Knigge und Meyer am Freitag den 18. Juni eine DNA-Probe bei einem der Beschuldigten entnommen. Schon am Tag davor hatten sie versucht, bei dem anderen Beschuldigten eine DNA-Probe zu entnehmen, hatten diesen jedoch wieder einmal nicht angetroffen. Er wurde für den 10. Juli 2018 zur DNA-Entnahme vorgeladen. Dieser Vorladung kam der Beschuldigte jedoch nicht nach. Stattdessen äußerte er sich zu dem Fall öffentlich und erklärte dabei, dass er seine DNA niemals freiwillig abgeben werde. Bis heute ist es den Bullen nicht gelungen, seine DNA zu bekommen. ((Erklärung des Beschuldigten:  https://kritischeprozessbegleitungmuc.blackblogs.org/2018/07/10/erklaerung-von-alex-p-anlaesslich-seiner-verweigerung-einer-dna-probe/))

Abgeglichen werden soll die DNA der Beschuldigten mit insgesamt 26 Spuren. In dem Beschluss werden den Beschuldigten sieben tatmehrheitliche Fälle des Hausfriedensbruchs vorgeworfen. Für diese Fälle liegen mittlerweile tatsächlich auch Strafanträge vor. Allerdings sind insgesamt 11 der bezeichneten Spuren aus Gebäuden sichergestellt, für die kein Strafantrag vorliegt.

Wie könnt ihr helfen?

Repression kostet vor allem Geld. Einerseits wird es früher oder später zu einer Hauptverhandlung gegen die beiden Beschuldigten kommen. Womöglich werden die Beschuldigten dort zu einer Geldstrafe verurteilt, auf jeden Fall jedoch benötigen sie anwaltliche Hilfe, die Geld kostet. Andererseits kostet auch die anwaltliche Hilfe zur Verteidigung gegen willkürliche Gerichtsbeschlüsse, etwa die zu den Hausdurchsuchungen, die zur Observation oder die Beschlüsse zur DNA-Entnahme Geld. Die Rote Hilfe unterstützt politisch Verfolgte in solchen Fällen finanziell und mit anderen Angeboten. Egal ob es in diesem Fall also zu einem Prozess oder einer Verurteilung kommt oder nicht, eure Spenden sind dort sicher gut aufgehoben und kommen ansonsten einer Person in einer ähnlichen Lage zugute.

Deshalb spendet an die Rote Hilfe OG München und unterstützt damit den Kampf gegen jede Repression des Staates:

Rote Hilfe e.V. OG München
IBAN: DE61 4306 0967 4007 2383 06
BIC: GENODEM1GLS
GLS Bank

Aber Geld ist nicht alles. Die Betroffenen von Repression benötigen auch moralische Unterstützung. Zeigt ihnen, dass ihr sie unterstützt, zum Beispiel indem ihr Solidaritäts-Aktionen organisiert, vor allem aber indem ihr diejenigen, die im Gefängnis sitzen nicht vergesst und ihnen Briefe und Postkarten schreibt.

Brief aus dem Gefängnis

Von Max

Der folgende Brief wurde zuerst auf der Seite freemax.noblogs.org veröffentlicht.

Hi, an Alle die das lesen!

Vorab vielen Dank an alle, die mir geschrieben, an mich gedacht oder mich besucht haben. Ihr seid einer der Hauptgründe warum meine aktuelle Situation mich nicht verzweifeln lässt, sondern es mir den Umständen entsprechend gut geht. Es muntert einen sehr auf, wenn Post und Anteilnahme kommt.

Leider konnte ich viele Briefe und Karten nicht lesen oder beantworten, da über 100 Stück von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurden. Doch auch die Beschlagnahmungs-Mitteilung jedes einzelnen Briefes hat mich immer aufgemuntert, denn ich wusste, dass jemand an mich gedacht hatte. Darüber hinaus wurden auch viele meiner Briefe beschlagnahmt oder sind verschollen gegangen, die ich an Mitgefangene (in das Baskenland,in die Niederlande,an Kurd*innen) oder Bekannte geschrieben habe.

Vielleicht habt ihr schon durch Mundpropaganda erfahren wie mein Alltag im Knast aussieht. Trotzdem werde ich meinen Alltag für alle Anderen schildern (Achtung…ein bisschen trocken):

Um 6:00 Uhr wird die Zellenklappe aufgesperrt und man wird durch Rufe/Taschenlampe geweckt. Dienstags, Donnerstags und Samstag wird zwischen 8:30 und 8:40 Uhr die Zellen-Türe aufgesperrt und man hat 1,5 Stunden Zeit sich zu duschen und die Zelle zu putzen. Um 10:30 Uhr ist an der Zellentür Essensausgabe und anschließend wird die Zelle bis zum Hofgang (12:15-13:15 Uhr) verschlossen.

Nach dem Hofgang ist Einschluss bis zum Abendessen ( 14:00 Uhr/ Frühstück ist im Abendessen integriert). Danach ist wieder Einschluss bis zum nächsten Morgen.

Nur per Antrag kann man Mittwochs den Stationsarzt besuchen. Medikamente werden nicht ausgehändigt, sondern müssen im Büro der Station eingenommen werden. Auch bei Personen, die z.B drei mal täglich Medikamente zu sich nehmen müssen.

Montags und Mittwochs dürfen Personen ohne Trennungsbeschluss für eine Stunde zum Sport. Dienstags und Samstags ist Wäschetausch ( 10:00-10:30 Uhr/ genau abgezählt).

Aber jetzt genug von meinen aktuellen Lebensumständen, denn ich will in diesen Brief auch ein kleines Bisschen von den aufmunternden und solidarischen Worten zurück geben.

Ein guter Bekannter von mir sagte,dass nach den Wahlergebnissen der CSU bei der Bundestagswahl, das halbe Jahr vor der Bayrischen Landtagswahl richtig schlimm wird. Aber das was wir die letzten Wochen erlebt haben, übertrifft meine schlimmsten Erwartungen.

Eigentlich wäre es ziemlich lustig mit anzusehen, wie die CSU auf Grund schlechter Umfragewerte für die Landtagswahl, aus purer Angst hohl dreht und dabei sich selbst ins eigene Fleisch schneidet. Wenn sie aber dabei nicht nur die Stimmung gegen Geflüchtete anheizt und darüber hinaus zudem auch noch aktiv Menschenleben in Lybien, der Türkei, auf dem Balkan und im Mittelmeer gefährden würde.

Trotz oder gerade wegen dieser zum Haare raufenden Umstände hoffe ich, dass ihr nicht verzweifelt, sondern weiter macht!

Denn weder der NSU Komplex, rassistische Übergriffe noch hirnrissige Aktionen Aktionen der CSU ( PAG, Polizei Kavallerie, Ankerzentren usw.) und eine wachsende AfD dürfen unkommentiert und kritiklos stehen gelassen werden!

Wie heißt es noch so gleich in einem bekannten Song? „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, sondern es wäre deine schuld, wenn sie so bleibt.“

Daher gebt die Hoffnung nicht auf, denn das was auf dem Spiel steht, ist unsere Zukunft!

Hoffende und solidarische Grüße aus dem Knast an Alle die das lesen!

-04.07.2018

Freiheit für alle Gefangenen!

anonyme Zusendung

Im Rahmen der globalen Aktionswoche in Solidarität mit anarchistischen Gefangenen haben wir heute in unmittelbarer Nähe des „Frauen“gefängnisses München sowie der JVA Stadelheim ein Transparent mit der Aufschrift „Freiheit für alle Gefangenen. Abolish Prisons. Free Max.“ aufgehängt.

Gefängnisse dienen dem Staat dazu, abweichendes Verhalten – auch als Verbrechen bezeichnet – zu bestrafen und zugleich ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Im Gegensatz zu dem gängigen Narrativ von Personen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsse, findet mensch in Gefängnissen zur überwiegenden Mehrheit hauptsächlich Menschen, die dort aufgrund ihrer Armut, ihrer Hautfarbe oder ihrer politischen Einstellung sind. Viele Menschen befinden sich nur deshalb im Gefängnis, weil sie nicht in der Lage waren, eine Geldstrafe zu bezahlen. Oft handelt es sich dabei sogar um „Delikte“, die Armut bestrafen: Zahlreiche Menschen sitzen beispielsweise deswegen im Knast, weil sie sich kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr leisten konnten, jedoch gezwungen waren, diesen trotzdem zu nutzen. Zugleich ist auch zu beobachten, dass überdurchschnittlich viele Personen of Color und Angehörige von marginalisierten Minderheiten in den deutschen Gefängnissen anzutreffen sind. Das hat ganz offensichtlich rassistische Ursachen, zum Beispiel racial profiling bei der Polizei, sowie eine oft härter ausfallende Bestrafung vor Gericht und auch rassistische Gesetze, die Menschen wegen ihrer Herkunft, Staatsbürgerschaft oder Hautfarbe diskriminieren (Stichwort: Integrationsgesetze, sowie Asylgesetze). Auch Menschen, die das erhabene Selbstbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft stören, etwa Obdachlose finden sich häufig in Gefängnissen wieder. Gründe dafür konstruieren Bullen, die sie regelmäßig mit Kontrollen schikanieren am laufenden Band. In München beispielweise findet unter der zynischen Bezeichnung „Schwerpunktkontrollen am Hauptbahnhof“ eine regelrechte Vertreibung von Obdachlosen statt. Auf diese Weise konstruierte Ordnungswidrigkeiten wie das Nicht-Nachkommen eines Platzverweises oder eines Verstoßes gegen das Alkoholverbot am Hauptbahnhof können dabei schnell zu einer Ersatzfreiheitsstrafe führen.
Aber auch wenn mensch dem Narrativ folgt, dass Gefängnisse der Unterbindung von schädlichem Verhalten gegenüber Menschen dienen, muss mensch feststellen, dass Gefängnisse diesem Anspruch keineswegs gerecht werden. Gefängnisse sind keine Orte, an denen eine transformative Täter*innenarbeit möglich ist, sondern dienen lediglich der Bestrafung.
Wir lehnen Gefängnisse aus diesen Gründen ab! Gefängnisse dienen lediglich dazu, Menschen gefügig zu machen und Herrschaft über sie auszuüben.

Mit unserer Aktion wollen wir außerdem unsere Solidarität mit dem Gefangenen Max ausdrücken. Max ist ein politischer Gefangener, der derzeit seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt und auf seinen Prozess wartet. Die Bullen werfen Max vor, mehrere hundert Graffiti im gesamten Münchner Stadtgebiet angebracht zu haben, die zum Teil staatskritische und antifaschistische Botschaften enthielten. Weil die Bullen wochenlang keine Ermittlungserfolge erzielen konnten, präsentierten sie der Öffentlichkeit die Gefangennahme von Max und einer weiteren Person, die sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß befindet, umso stolzer. Die Presse, die sich zuvor kräftig an der Hetzjagd nach den Verantwortlichen für die Graffiti beteiligt hatte, nahm das dankbar an. Seitdem ist der Fall für sie abgeschlossen. Dass Max wegen ein paar Graffiti seit nun fast einem Jahr ohne Prozess in Untersuchungshaft sitzt und dabei unter verschärften Haftbedingungen zu leiden hat, ist der Presse keinen Bericht mehr wert.
Wir haben Max nicht vergessen und wollen die Öffentlichkeit mit unserer Aktion an ihn erinnern.

Freiheit für Max!
Freiheit für alle Gefangenen!
Feuer den Knästen!

Call for Papers: Die bayerische Landtagswahl als Indikator für den gesellschaftlichen Rechtsruck

Ende September planen wir die zweite Ausgabe der Lifestyleanarchist*in herauszugeben. Darin wollen wir uns schwerpunktmäßig mit der im Oktober anstehenden Landtagswahl in Bayern beschäftigen. Natürlich sind wir weder daran interessiert, welche Partei wohl als Gewinnerin oder Verliererin aus dieser Wahl hervorgehen wird, noch interessieren wir uns für die üblichen Wahlkampf-Schmutzkampagnen der Parteien. Vielmehr glauben wir, dass die Landtagswahl in Bayern und ihre Begleiterscheinungen wichtige Indikatoren dafür sind, wie weit der gesellschaftliche Rechtsruck in Deutschland fortgeschritten ist.

Vor dem Hintergrund dass der autoritäre Umbau des deutschen Staates zunehmend schneller voran geht, finden wir uns in einer weitestgehend neuen Situation mit möglicherweise völlig veränderten Rahmenbedingungen wieder. Während wir zunehmend stärker gezwungen sind, bloße Abwehrkämpfe gegen autoritäre Veränderungen zu führen, drängen sich vor allem auch Strategiefragen in den Vordergrund: Welche Mittel eignen sich um gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck anzukämpfen? Welche Positionen sind überhaupt noch anknüpfungsfähig? Können wir uns in die von uns erkämpften Räume zurückziehen und auf bessere Zeiten warten, oder ist eine Offensive nötig?

Wenn ihr auf diese Fragen eine Antwort habt oder euch vielleicht ganz andere Themen im Zusammenhang mit der bayerischen Landtagswahl im Oktober beschäftigen freuen wir uns auf eure Artikel oder andere Beiträge. Aber natürlich dürft ihr uns für die kommende Ausgabe auch ganz andere Beiträge zu den Themen, die euch interessieren zusenden.

Wir bitten euch, uns eure Beiträge bis 01. September zuzuschicken oder wenigstens bis dahin Rücksprache mit uns zu halten, wenn ihr mehr Zeit benötigt.

»Heldengedenken«. Ein totes »Volk« beschwört seine Gespenster in der Sprache

Sprache und ihr Verhältnis zu »Kultureller Identität«

Ein Beitrag des Projekts différⒶnce muc in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 1, 2017.

A Language in which one can write a »Horst Wessel Lied« is ready to give hell a native tongue.

Steiner, George. »The Hollow Miracle«. Language and Silence. Essays in Language, Literature and the Inhuman. New Haven/London: Yale University Press, 1998. S. 99.

1 Einleitung

»Der Eichmann-Prozeß hat für einen Moment den Vorhang gelüftet, der die dunklere Seite zivilisierter Menschen zu verdecken pflegt,« [1] schreibt Norbert Elias und deutet damit bereits an, dass auch der Holocaust, jene grauenerregende Epoche der deutschen Vergangenheit, die unter anderem als »Zivilisationsbruch« [2] beschrieben wurde, nicht losgelöst von der Zivilisation, nicht als unerklärbare Ausnahme, sondern als ein eingeschriebener Bestandteil der Zivilisation zu betrachten ist. Ähnlich, »als verborgene Matrix, als nómos des Politischen Raumes, in dem wir auch heute noch leben,« [3] betrachtet auch Agamben die Lager als eingeschrieben in unsere Gesellschaft.

Eingeschrieben in unsere Sprache, also das Ausdrucksmittel »zivilisierter« Menschen schlechthin, haben sich bis heute auch jene Termini, die Zeugnis von den menschenfeindlichen Ressentiments des Nationalsozialismus ablegen. Es ist nicht nur die LTI, die Victor Kelmperer anhand seiner Notizbücher erarbeitet hat, und die bis heute in der Alltagssprache vorkommt, sondern es sind auch Redewendungen wie »Leben und leben lassen« oder »Reden ist Silber, schweigen ist Gold«, die die Deutschen an den Eingängen der Barracken in Auschwitz angebracht hatten, [4] und die heute gar Einzug in das Parteiprogramm der CSU [5] finden konnten – und das mit beinahe ebenso zynischen Bedeutungsebenen –, die die deutsche Sprache weiterhin beherbergt, als wäre nichts geschehen.

Ist es da ein Wunder, dass die deutschen Bürger*innen, Sprecher*innen eben jener deutschen Sprache, statt eines entschlossenen »Nie Wieder!« mit breiter Zustimmung reagieren, wenn extrem Rechte auch heute wieder eine »Festung Europa« fordern? [6]

Wenn aber die vom Nationalsozialismus geprägten Begriffe in der deutschen Sprache nicht nur weiterhin vorkommen, sondern auch als Propagandabegriffe einer erneut erstarkenden rechten Bewegung verwendet werden können und dabei, zumindest in weiten Teilen der deutschen Bevölkerung, geradezu positiven Anklang finden, bedeutet das doch auch, dass es, zumindest im Hinblick auf die deutsche Sprache, womöglich aber auch im Hinblick auf andere Aspekte einer »deutschen Kultur«, nicht gelungen ist, alles dafür zu tun, dass sich die Shoa nicht wiederholt. [7]

Ist es die deutsche Sprache, die jene »Kulturelle Identität« stiftet, die jenen Wunsch nach einer »totalen Erneuerung auf allen Ebenen des völkischen Lebens« [8] aufkommen lässt? Ist es der heisere, fast metallene Klang jener Sprache, in der zusammengerottete Mobs »Merkel muss weg« oder »Abschieben« [9] brüllen, die die vollständige Subsumtion des Individuums unter einen phantasievoll heraufbeschworenen »Volkskörper« verlangt? Ist es die »Deutsche Sprache«, die die Gespenster des einst für tot erklärten, womöglich aber nur unter dem Einfluss des »Wirtschaftswunders« in Vergessenheit geratenen, »Volkes«, beschwört?

Während Rechtspopulist*innen unermüdlich die Beschwörungsformeln der LTI wiederholen, steigen die Gespenster auf und ganz leise lässt sich bereits eine neue Variation des Horst Wessel Liedes vernehmen.

Ziel dieser Arbeit ist es, die Rolle der Sprache bei der Bildung von »Kulturellen Identitäten« unter besonderer Berücksichtigung des gegenwärtigen Rechtsrucks in ganz Europa, mit einem besonderen Augenmerk auf Deutschland, und vor dem Hintergrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit und der daraus entstandenen Shoa, zu untersuchen. Leitfrage dieser Voruntersuchung soll also sein, inwiefern eine bestimmte Sprache geeignet ist, jene auf Ausgrenzung, ja auf Marginalisierung »des Anderen« abzielenden, »Kulturelle Identität« wiederzuerwecken, ja inwiefern eine solche »Kulturelle Identität« überhaupt nur durch eine Sprache, die mehr ist, als ein syntaktisches Vermittlungssystem, heraufbeschworen werden kann.

1.1 Warum ist die Sprache Ausgangspunkt dieser Untersuchung?

Dass politische und weltanschauliche Ansichten im allgemeinen nicht unabhängig von einer entsprechenden (Sub-)kultur vermittelt und getragen werden, ist durchaus keine neue Erkenntnis. Nicht von ungefähr zeichnete sich Kunst und Kultur in diversen totalen Herrschaftsverhältnissen durch eine besondere Zensur und Instrumentalisierung aus.

Auch in der Weltanschauung der sogenannten Neuen Rechten spielen Sprache und Kultur eine maßgebliche Rolle. Mit dem Begriff »Metapolitik« bezeichnen die Anhänger*innen dieser Ideologie einen Eingriff in den gesellschaftlichen Diskurs mittels »kulturpolitischer« Botschaften. [10] Sie sehen sich dabei selbst als »patriotische Gegenstimme zum allgemeinen Mainstream« [11] und hoffen, mittels der Etablierung und Neubesetzung von Begriffen wie »Reconquista«, »Festung Europa«, »der große Austausch«, usw. durch – selbst so bezeichnete – »ästhetische Interventionen«, [12] bei denen es sich meist um öffentlichkeitswirksame Aktionen wie »Flashmobs«/Improvisationstheater, Transparent/Aufkleber-Installationen und symbolische Besetzungen entsprechender Orte handelt, den gesellschaftlichen Diskurs weiter nach rechts zu verschieben. Doch nicht nur die Neue Rechte bedient sich ganz bewusst sprachlicher Ausdrucksmittel, um in der Öffentlichkeit für ihre Ziele zu werben. Auch Anhänger*innen (neo)nationalsozialistischer Weltanschauungen bedienen sich einer – oft von Chiffren durchzogenen – Sprache, die nicht nur auf eine Verherrlichung des Nationalsozialismus abzielt, sondern auch dazu dienen soll, die eigenen Ideen geeignet weiterzuvermitteln.

Die extreme Rechte setzt Sprache also ganz bewusst dazu ein, um ihre Ideologie zu verbreiten, aber bedeutet das auch, dass diese Ideologie erst durch Sprache entsteht, der Sprache also ein Beschwörungscharakter innewohnt? Bernhard Giesen und Kay Junge stellen in ihrem Essay »Vom Patriotismus zum Nationalismus« fest: »Die Behauptung der eigenen Identität und Geschichte wird nicht selten zur schwierigen Aufgabe. Kollektive Identitäten müssen erst freigelegt, kenntlich gemacht und symbolisch ›ausgeflaggt‹ werden – nur so können sie Anerkennung fordern und sich gegenüber Alternativen durchsetzen.« [13] Die extreme Rechte nutzt die ihr eigene Sprache also dazu, eine kollektive Identität symbolisch auszuflaggen, also gewissermaßen zu beschwören. Will mensch dieses Beschwörungsritual verstehen, müssen nicht nur die resultierenden, kollektiven Identitäten untersucht werden, sondern auch das Beschwörungsritual selbst. Aus diesem Grund wird hier eine Analyse ausgehend von der Sprache der extremen Rechten vorgelegt.

Neben der Sprache flaggt die extreme Rechte ihre kollektive Identität auch in anderen Schriftsystemen, wie beispielsweise in Form von Bildern und Videos, aber auch in Form von Musik und meist traditionsreichen Ritualen wie Tänzen und Fackelmärschen aus. [14] Dies sind neben der Sprache ebenfalls bedeutende Beschwörungsrituale, die in dieser Arbeit jedoch aus Platzgründen vernachlässigt werden müssen. In Anmerkungen und Rendbemerkungen wird jedoch gelegentlich auch auf besonders relevante Wechselwirkungen zwischen Sprache und Beschwörungsritualen in anderen Schriftsystemen verwiesen.

1.2 Methode

In dieser Arbeit soll herausgearbeitet werden, wie eine ganz bestimmte Sprache, der sich übergreifend fast alle Anhänger*innen der unterschiedlichen extrem rechten Strömungen bedienen und die zunehmend auch im gesellschaftlichen Diskurs verankert ist, dazu geeignet ist, extrem rechte Denkmuster, die zum größten Teil aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen, zu tragen. Dazu ist es erforderlich, zahlreiche nationalsozialistische, neurechte, rechtspopulistische und andere extrem rechte Text-, Bild- und Videoquellen auf Sprache und Inhalt hin zu untersuchen, um sprachliche Überschneidungen, Abgrenzungen und Einflüsse sichtbar zu machen. Selbstverständlich kann dabei nur eine verhältnismäßig geringe Auswahl an Quellen berücksichtigt werden. Um einen möglichst repräsentativen Querschnitt über die diversen, extrem rechten Strömungen abzubilden, wurde hier versucht, jeweils Quellen des historischen Nationalsozialismus in Bezug zu Quellen aus dem klassischen Neonazi-Spektrum, der Neuen Rechten, sowie rechtspopulistischer Strömungen zu setzen, um gemeinsame Denkmuster, sowie (bewusst gewählte) Anknüpfungspunkte festzustellen.

2 Beschwörungsformeln

2.1 Totengesänge

Wunsiedel. 2016. »Heldengedenken«! [15] Rund 300 Neonazis aus dem Umfeld der Kleinstpartei »Der III. Weg« marschieren mit Fackeln und Fahnen durch die Kleinstadt. Angeführt unter anderem von Martin Wiese, [16] der ein Birkenkreuz mit einem darauf befestigten Stahlhelm mit sich trägt, bewegt sich die selbsternannte »Neonazi-Elite« Deutschlands durch die Stadt und gedenkt ihren im 2. Weltkrieg gefallenen »Helden« der Wehrmacht, der Luftwaffe, der Marine, der Jugendverbände und denjenigen »Kameraden, die nach dem Ende des Krieges durch alliierte Mörderhand getötet« worden seien. [17] Die Ästhetik dieses Fackelzuges ist unverwechselbar. Auch wenn die verfassungsfeindlichen Symbole der NSDAP, der SS und des Nationalsozialismus im Allgemeinen nicht, oder nur vereinzelt, offen getragen werden und stattdessen mit Fahnen, Bekleidung und Transparenten des »III. Wegs« vertauscht wurden, bleibt kein Zweifel daran, dass die hier anwesenden Personen ganz bewusst jene grauenerregende Epoche der deutschen Geschichte verkörpern, deren Reinkarnation zu verhindern Adorno als oberstes Gebot allen politischen Unterrichts bestimmte. [18] Das unterstreicht auch das im Anschluss an diesen Fackelzug veröffentlichte Video des »III. Wegs«. [19] Darin wird fast die gesamte zweite Strophe des 1939 im Franz-Eher-Verlag, dem Zentralverlag der NSDAP, erschienenen Gedichts »Sie leben!« von Kurt Langner zitiert:

Sie leben // In jeder Fahne, der wir folgten, // Sie leben // In jedem Stahl, in jeder Faust. // Sie leben // In allen Stürmen, die uns grau umwolkten, // Die peitschend über Deutschland hingebraust. // Sie leben // In der Mutter stillen Tränen, // Sie leben // In der Jugend heißem Dank, // Sie leben // Im Glauben, Kämpfen, Hoffen und im Sehnen, // Im deutschen Herzen als Fanfarenklang […] [20]

»Tot sind nur jene, die vergessen werden.« [21] Das ist nicht nur der Untertitel dieses Gedenkmarschs, ein Satz, den die Mitglieder des »III. Wegs« und viele andere Neonazis nie müde werden, zu wiederholen, sondern eben auch ein performativer Akt. Erinnerungskultur, »Heldengedenken«, kann eben auch die Funktion eines Beschwörungsrituals erfüllen. Wenn die gefallenen »Helden« des Nationalsozialismus in den Fahnen, die heute Neonazis tragen, weiterleben, wenn sie »[i]m deutschen Herzen« [22] fortbestehen, lebt auch der Nationalsozialismus weiter. Victor Klemperer schreibt, dass sich »[d]ie Lehre vom totalen Krieg […] fürchterlich gegen ihre Urheber [wendet],« [23] wenn mensch »in jeder Fabrik, in jedem Keller militärisches Heldentum [bewährt], […] Kinder und Frauen und Greise genau den gleichen heroischen Schlachtentod, […] wie sich das sonst nur für junge Soldaten des Feldheeres schickte oder zustande bringen ließ, [sterben].« [24] Doch was für die Urheber*innen des totalen Kriegs selbst fürchterlich gewesen sein mag, ist für die damalige und heutige Propaganda von Nationalsozialisten*innen ein echter Glücksfall, bzw. gelungenes Kalkül. Denn für eine Ideologie, die statt freier Subjekte einen starken und geeinten »Volkskörper« heraufbeschwören möchte, ist es nur folgerichtig, dass dieser »Volkskörper« geeint, oder gar nicht, untergehen wird. Gefallene »Helden« leben in diesem »Volkskörper« weiter, denn wer für eine Idee stirbt, der*die wird wiedergeboren in deren Verwirklichung. »Heldengedenken« ist mehr als nur Erinnerung, mehr als ein Totengesang. Es ist ein Beschwörungsritual, in dem die Gespenster des Nationalsozialismus wiedererweckt werden und Besitz von den Lebenden ergreifen.

2.2 Vom »anerzogenen Schuldkomplex« zum »großen Austausch«

Dass es in der neonazistischen Tagespolitik nicht beim »Heldengedenken«, jenem Totengesang auf das »Dritte Reich«, bleibt, zeigt eine weitere, jährlich stattfindende Demonstration, der sogenannte »Tag der deutschen Zukunft«. Hier tragen Neonazis aus ganz Deutschland einmal im Jahr ihre Schreckensvision eines nationalsozialistischen Deutschlands spazieren. »Wir leiden unter einem anerzogenen Schuldkomplex, womit alle kollektiven Begehren im Keim erstickt werden«, [25] heißt es in einem Mobilisierungsvideo zum »Tag der deutschen Zukunft« 2016 in Dortmund. Auch hier ist also die Aneignung der Vergangenheit zentral für die Zukunftsvision der Neonazis, doch findet der sprachliche Akt der Gespensterbeschwörung deutlich versteckter statt, als wenn die Neonazis beim »Heldengedenken« in Wunsiedel »[den dahingegangenen Söhnen und Töchtern [ihres] Volkes] über Gräber hinweg [zu]rufen […]: ›Wir vergessen euch nicht, ihr lebt in unseren Herzen weiter!‹« [26] Und doch besteht das verbindende Element im Selbstverständnis der Neonazis in der Heraufbeschwörung einer gemeinsamen Vergangenheit: Sie wollen »die Jugend ohne Migrationshintergrund« [27] sein und berufen sich damit auf eine gemeinsame Ahnenkette, auf eine geografische Verbundenheit, die sowohl als »biologische«, als auch als »kulturelle« Verwandschaft interpretiert wird. [28]

Eine Spur authentischer klingt das bei der neurechten »Identitären Bewegung«, die dank ihrer Popularität sicherlich Vorbild für die Organisator*innen des »Tags der deutschen Zukunft« war, [29] wenn das gleiche Selbstverständnis auf bayerisch vorgetragen wird: »Mia san die Jugend ohne Migrationshintergrund«. [30] Doch diese »Jugend ohne Migrationshintergrund« soll, so erzählen extrem rechte Aktivist*innen der Identitären Bewegung und andere neurechte Vordenker*innen in Endlosschleife, ersetzt werden. Sie nennen das den »großen Austausch« und haben es längst geschafft, diese extrem rechte Terminologie auch im Diskurs der sogenannten »Mainstreammedien« zu etablieren. [31] Die »Identitäre Bewegung Österreich« hat eine Webseite zur »schonungslosen […] Enthüllung« des »großen Austauschs« veröffentlicht, [32] derzufolge der »große Austausch« im – von Politiker*innen und Medien bewusst inszenierten und verschwiegenen – »Austausch« der Bevölkerung »ohne Migrationshintergrund« durch »fremde Einwanderer« besteht. [33]

Auch die »Identitäre Bewegung Deutschland« spricht vom »großen Austausch« und verbindet diese Verschwörungstheorie in einem Video mit dem Titel »Zukunft für Europa« mit extrem rechter Kapitalismuskritik: »Ihr macht Menschen zur Ware, Kinder zu Objekten und erklärt Geschlechter und Familien für überflüssig«, [34] wirft Tony Gerber, Regionalleiter der »Identitären Bewegung Sachsen« den »Regierenden« vor und schlägt damit in die gleiche Scharte, in die auch die antisemitische, nationalsozialistische Kapitalismuskritik, wie sie beispielsweise in dem NS-Propagandafilm »Jud Süß« [35] oder dem ebenso antisemitischen NS-Propagandafilm »Die Rothschilds« [36] vorgetragen wird, schlägt. An die Stelle der Jüdinnen*Juden, die das »deutsche Volk« (und die ganze Welt) in einem konspirativen, gewissenslosen und menschenverachtenden Akt der persönlichen Bereicherung ins Verderben stürzen sollen, [37] treten hier zwar »die Regierenden« – und ggf. noch deren (unbenannte) Manipulator*innen –, doch wenn im gleichen Video von einer Verbundenheit durch eine »über tausend Jahre deutsche und europäische Geschichte«, [38] sowie der angeblichen Anerziehung von »Scham und Selbsthass« durch das Bildungssystem [39] die Rede ist, fällt es schwer, hier nicht nur von strukturellem Antisemitismus zu sprechen und nicht einen positiven Bezug auf den Nationalsozialismus zu erkennen. [40]

Doch nicht nur die Neue Rechte spricht von einem »großen Austausch«, auch nationalsozialistische Vertreter*innen bedienen sich dieser Verschwörungstheorie, wenngleich mittels etwas anderen Formulierungen. Der rechtskonservative, nationalsozialistische AfD-Politiker Björn Höcke beispielsweise betonte in seiner Rede zum sogenannten »Flügeltreffen am Kyffhäuser« im Juni 2015, dass er »die forcierte Transformation unseres Volkes in eine multikulturelle Gesellschaft« [41] ablehne. Ganz ähnlich hatte das zuvor auch ein*e Neonazi-Autor*in unter dem Pseudonym »Landolf Ladig« [42] geschrieben: »die befürwortete Transformation gewachsener Völker in multikulturelle Gesellschaften« sieht Landolf Ladig als einen Beleg für die »totale Hegemonie kulturalistischer oder behavioristischer Theorien innerhalb ›grüner‹ Gesellschaftsutopien«. [43] Was Höcke bzw. Ladigs Position von der der Neuen Rechten unterscheidet, bewegt sich hauptsächlich auf ideologischer Ebene: Während die Neue Rechte mit dem Begriff Ethnopluralismus für eine »kulturelle Reinhaltung« der Gesellschaften wirbt und die durch Grenzen bestimmte, gleichberechtigte Koexistenz verschiedener »Kulturen« forciert, setzt Höcke/Ladig als Anhänger der alten Rechten auf eine größere Bedeutung von Biologismen. [44] Doch auch wenn die Neue Rechte mit dem Begriff Ethnopluralismus versucht, sich vom Vorwurf des Rassismus im rassischen Sinne reinzuwaschen, ist ihre Argumentation strukturell eng verwandt mit der biologistischeren Variante der Nationalsozialisten*innen. In beiden Fällen werden Menschen anderer Herkunft abgewertet – im Falle einer ethnopluralistischen Argumentation eben territorial beschränkt, im Falle einer nationalsozialistischen Rassenideologie grundsätzlich –, in beiden Fällen erfolgt diese Abwertung pauschalisiert, aufgrund der Abstammung eines Menschen. Während Nationalsozialisten*innen dabei mit der »Blutlinie« der Menschen argumentieren, argumentieren Ethnopluralisten*innen der Neuen Rechten mit der kulturellen Prägung der Menschen, die von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden soll. In beiden Fällen ist also der Stammbaum eines Menschen maßgeblich für seine*ihre gesellschaftliche Auf- oder Abwertung.
Mit der Rede von einem »großen Austausch« wird versucht, eine nicht existente Gefährdungslage für die Bevölkerung – also im Sprech der extremen Rechten, für das »deutsche Volk« – künstlich heraufzubeschwören. Eng damit verbunden ist die Besinnung auf eine gemeinsame Identität, wie sowohl die »Identitäre Bewegung«, als auch Höcke/Ladig immer wieder betonen. [45] Doch welche Identität soll das »deutsche Volk« annehmen? Hierfür muss der Kampf um die Vergangenheit neu ausgefochten werden, denn sich mittel- oder gar unmittelbar auf den Nationalsozialismus zu berufen ist derzeit lediglich eine in kleinen Kreisen vermittelbare Identität. Deshalb fordert Höcke eine »erinnerungspolitische Wende um 180 Grad«, [46] während andere Neonazis von einem »anerzogenen Schuldkomplex« [47] sprechen, die Neue Rechte von einer Anerziehung von »Scham und Selbsthass« durch das Bildungssystem [48] spricht und in eher rechtspopulistischen Kreisen versucht wird, die »Kollektivschuld« als »moralisch-ethische[n] Kurzschluss« [49] abzutun. »Identität« bedarf also ganz offensichtlich einer Aneignung der Vergangenheit.

Wie weitgehend diese Aneignung der Vergangenheit ist, und auf welche ideologische Grundlage sich diejenigen stellen, die von der Angst vor einem herbeiphantasierten »großen Austausch« getrieben, eine Besinnung des »deutschen Volkes« auf seine »Identität« fordern, wird im Vergleich mit einem neueren Text des Antisemiten Horst Mahlers, den dieser auf der Internetseite »Aufstand gegen die Judenheit« veröffentlicht haben soll, deutlich: [50] Auch Mahler beklagt in seinem Text einen »Identitätsverlust« aufgrund des »Verlust[s] der Heimat« der »Wutbürger«, [51] vertritt jedoch anders als Höcke, der, in seiner »Dresdner Rede« zumindest. nur eine inhaltliche, keine strukturelle Fundamentalopposition forderte, [52] auch eine strukturelle Systemopposition, bei der ein »organische[r] Staat« geschaffen werden soll, in dem »die Besten [regieren]«, [53] »Entscheidungen zur Verwirklichung der Staatszwecke […] von oben nach unten [ergehen]« und »von unten nach oben [kontrolliert wird]«. [54] Mit anderen Worten: Ein nationalsozialistischer Staat, wie er etwa von Carl Schmitt in Publikationen zwischen 1933 und 1936 beschrieben wird. [55]
Der nationalrevolutionäre Umschwung kann dabei laut Mahler nur durch einen »Skandalisierungsfeldzug« gegen die »Satanistischen Verse des Mosaismus« erreicht werden, wodurch ein den »christlichen Europäern« während ihrer Kindheit durch den »Jüdischen Geist« ausgetriebener, »ethischer Diskriminierungsaffekt« wiedererweckt werden soll, der dann in einer »reifen revolutionären Situation«, in der die »Massen […] aus einer ethisch geprägten Stimmungslage heraus [in den politischen Prozeß eingreifen]« die »Diskriminierung«, das heißt übersetzt wohl »Vernichtung« der Jüdinnen*Juden garantieren soll. [56] Durchgeführt werden soll dieser »Skandalisierungsfeldzug« lauf Mahler »mit den Methoden der ›Spaßguerilla‹ kombiniert mit Aufmerksamkeitserregungsstrategien à la Greenpeace«. [57] Ob Mahler damit auf Aktionen der Identitären Bewegung, wie die Besetzung des Brandenburger Tors anspielt? [58] Fest steht für ihr auf jeden Fall, dass der »Skandalisierungsfeldzug« »nur von sehr kleinen Kampfeinheiten, […] [die] dezentralisiert aber vernetzt via Internet […] in das allgemeine Bewusstsein wirken«, [59] zu bewerkstelligen ist. Mittels einer Strategie wie die der Identitären Bewegung will Mahler die Bevölkerung also zu Pogromen gegen Jüdinnen*Juden anstiften, um anschließend ein nationalsozialistisches Regime zu errichten.
Was Mahler offen ausspricht, versucht Höcke einigermaßen zu verbergen, doch ganz gelingt ihm das nicht. Seine sprachliche Nähe zum historischen Nationalsozialismus verrät ihn ein ums andere Mal. Andreas Kemper hat Ende 2016 die nationalsozialistischen Wurzeln von Höckes Sprache untersucht und dabei zahlreiche Parallelen zu Begrifflichkeiten der nationalsozialistischen Ideologie aufgezeigt. [60]

Doch nicht nur im Bezug auf eine allgemeine Verherrlichung des Nationalsozialismus spricht Mahler offener aus, was er sagen möchte, als Höcke, wobei die Parallelen zwischen Höckes Sprache und der des historischen Nationalsozialismus im Vergleich mit Mahler umso deutlicher zutage treten. Auch der »eliminatorische Antisemitismus«, [61] den Mahler in seinem Text vertritt, weist in seinen Ansätzen erschreckende Parallelen nicht nur zu Höcke, sondern auch zu neurechten Denkern*innen auf. Mahler, als selbst ernannter Vertreter der teleologischen Geschichtsphilosophie Hegels, [62] ist sich sicher, dass es an der Zeit ist, eine neue Epoche der Weltgeschichte einzuleiten:

Ebensowenig kann der Ausweg aus der Krise im Sinne eines systematischen Paradigmenwechsels mit Verstandeskategorien noch gedacht werden, denn was für die unmittelbare Zukunft ansteht, ist die Einhausung eines höheren Bewusstseins Gottes von sich in die Welt in der Gestalt, die der Deutsche Idealismus erkannt hat und die im historischen Nationalsozialismus einen Vorschein von sich gegeben hat. [63]

Auch Höcke, bzw. Ladig hat in der Vergangenheit ähnlich argumentiert: Im Nationalsozialismus habe sich, so Ladig in der extrem rechten Zeitschrift »Volk in Bewegung«, di erste staatlich organisierte Antiglobalisierungsbewegung entwickelt. Deshalb sei Deutschland im 2. Weltkrieg auch von fremden Mächten überfallen worden, um eine Ausbreitung dieses Modells zu verhindern. [64] Mahler legt auch dar, was der Zweck dieser neuen Epoche sein soll und wer die Feinde dieser Entwicklung sind:

Das jetzt geforderte Vernunftdenken ist ausschließlich Domaine [sic] des Deutschen Volksgeistes und auf absehbare Zeit nur in diesem Volk zu reaktivieren. Der Feind der Menschheit, der vom Deutschen Vernunftdenken zu vernichten ist, war bisher sehr erfolgreich, dieses Denken zu verschatten. Er weiß seit langem, dass ihm vom Deutschen Volksgeist die Vernichtung droht. Schon seit mehr als Tausend Jahren richtet er an JAHWE die Bitte, er möge den Anschlag des edomitischen Germaniens vereiteln, ›das, wenn es ausziehen würde, die ganze Welt zerstören würde‹. [65]

Mahlers Ziel ist also die Vernichtung der Jüdinnen*Juden, wenn es ihm darum geht, einen nationalsozialistischen Staat zu errichten. Er unterstellt diesen, »seit mehr als 200 Jahren die verlustreichsten Kriege, von denen die Menschheit weiß, herbeiintrigiert« [66] zu haben. Das klingt ähnlich der Aussagen von Ladig/Höcke, Deutschland sei im 1. und 2. Weltkrieg von fremden Mächten überfallen worden. [67] Doch die Parallelen zwischen Höcke/Ladig und Mahler gehen noch viel weiter. Mahler setzt die »Judenheit«, wie das bereits vielfach in der Propaganda des Nationalsozialismus getan wurde, mit dem »globalistische[n] Finanzsystem« [68] gleich und spricht vom »Sonderinteresse des Mammonismus, das die weltanschauliche Gedankenwelt nach seiner Facon schneidert«, [69] um einen Satz später zu statuieren, dass in der spätkapitalistischen Gesellschaft »der ›Grundkonsens‹ von der Judenheit gesetzt und verwaltet« [70] würde. Ladig/Höcke sucht in seiner Kapitalismuskritik die vermeintlich Schuldigen auffällig häufig in der Finanzwirtschaft. so beklagt Ladig 2012 in der »Eichsfeld Stimme«, dass mensch »die Gier der Hochfinanz […] großzügig« [71] befriedige. 2008 schrieb Höcke in einem Leserbrief an die Junge Freiheit, dass es sich bei der »gegenwärtigen Krise« nicht um eine »des herrschenden Wirtschafssystems, also der Marktwirtschaft, sondern eine des korrespondierenden Geldsystems, des zinsbasierten Kapitalismus« handele. [72] Diesen Gedanken griff Landolf Ladig, also vermutlich Björn Höcke, im Jahr 2011 im Artikel »Krisen, Chancen und Auftrag« in der extrem rechten Zeitschrift »Volk in Bewegung« wieder auf und schrieb:

So ist denn die gegenwärtige Krise definitiv keine des herrschenden Wirtschafssystems, sondern eine des korrespondierenden Geldsystems, des zinsbasierten Kapitalismus. Dieses die Gier schamlos belohnende System ermöglicht enorme Buchgeldschöpfungen, gigantische Kapitalakkumulationen und globale Konzentrationsprozesse. Die Hochfinanz führt die wertschöpfende Realwirtschaft und die Politik am Nasenring durch die Manege. […] Die augenscheinliche Alternativlosigkeit läßt die Gefahr bestehen, daß die Geldeliten von heute wiederum die politischen Entscheider von morgen sein könnten […] [73]

Besonders die Aufteilung der Wirtschaft in »wertschöpfende Realwirtschaft« und »Hochfinanz«, [74] die die Politik am »Nasenring durch die Manege« führen soll, zeigt erschreckende Parallelen zu der Darstellung von Jüdinnen*Juden durch nationalsozialistische Propagandafilme wie »Jud Süß«, »Die Rothschilds« oder »Der ewige Jude«, aber auch zu Horst Mahlers Verständnis der »Judenheit«.
Auch aus der neurechten Ecke bricht sich immer wieder Antisemitismus in Form einer einseitigen Kritik des »Finanzkapitals«, dem das Versagen des gesamten Wirtschaftssystems zugeschrieben wird, bahn. Jürgen Elsässer, Chefredakteur des extrem rechten Compact Magazins, gründete 2009 die »Volksinitiative gegen Finanzkapital«, in deren Rahmen er ebenfalls eine Trennung zwischen »Industrie- und […] Bankkapital« [75] propagiert. Als Antwort auf einen angeblichen Angriff des »angloamerikanischen Finanzkapitals auf den Rest der Welt« fordert Elsässer den Aufbau einer »Volksfront, die das nationale, bzw. ›alt-europäisch‹ orientierte Industriekapital einschließt«. [76] Ihre Aufgabe sei die »entschädigungslose Nationalisierung des Finanzsektors und die Abdrängung der anglo-amerikanischen Finanzaristokratie aus Europa«. [77] In der Tendenz bewegt sich auch die Globalisierungskritik der Idnetitären Bewegung – namentlich die Verschwörungstheorie vom »großen Austausch« –, wie bereits weiter oben ausgeführt, in diese Richtung.

2.3 Die Errichtung der »Festung Europa«

»Festung Europa, macht die Grenzen dicht!«, skandiert ein mehrere hundert Personen starker Mob auf der Saalbrücke zwischen Freilassing und Salzburg. Unter dem Motto »Wir sind die Grenze« demonstrieren sie für eine Schließung dieser Grenze, um die Einreise von Flüchtenden nach Deutschland zu verhindern. Das Publikum dieser Demonstration ist innerhalb des extrem rechten Spektrums sehr breit aufgestellt: Vertreter*innen der Identitären Bewegung, die Wutbürger*innen diverser PEGIDA-Ableger und Mitglieder beinahe aller Strömungen der AfD sind anwesend. Dazu kommen einzelne Neonazis, die der Demonstration ebenso selbstverständlich beiwohnen dürfen, wie alle anderen Teilnehmer*innen.

Kein Wunder, denn erfunden hat den Kampfbegriff »Festung Europa« nicht die Neue Rechte, sondern die NS-Propaganda gegen Ende des 2. Weltkriegs. [78] Doch zumindest für die Neue Rechte ist das kein Grund, eine »Festung Europa« nicht nur zu fordern, sondern sich zum Teil auch in einem Akt der Selbstjustiz an einer »Sicherung« der Grenzen Europas zu beteiligen. Die extrem rechte Tatjana Festerling, frühere Frontfrau* bei PEGIDA in Dresden, sowie Gründerin* der europäischen Bürger*innenbewegung »Festung Europa«, bzw. » Fortress Europe«, schloss sich im Juli 2016 für einige Tage einer bulgarischen Bürger*innenwehr an, die in den Wäldern Bulgariens Jagd auf Flüchtende macht, um diese an die Granzschutzbehörden zu übergeben. [79] Die Identitäre Bewegung Österreich hat mit der Seite »grenzhelfer.in« eine ähnliche, wenngleich hauptsächlich symbolische Kampagne gestartet. Hier werden Österreicher*innen dazu aufgerufen selbst Zäune an den Grenzen Österreichs zu errichten und Absperrbänder zu installieren, sich als »Grenzwache« zu versuchen und in »Krisenzonen […] die Exekutive zu unterstützen«, sowie »illegale Aktivitäten« zu dokumentieren. [80]

Diese Kampagnen entsprechen dem Gesamtbild der Neuen Rechten und insbesondere der Identitären Bewegung. Gerade letztere hat sich seit ihrer Gründung in ihrer Ästhetik und ihrem Selbstverständnis immer wieder an dem gewaltverherrlichenden, sexistischen und rassistischen Spielfilm »300« orientiert, fast so als gäbe es keine theoretisch gefestigtere Basis für ihre Ideologie. Der Film beschäftigt sich mit dem historischen Ereignis der Schlacht bei den Thermopylen um 480 v. Chr., bei der – lauf Film [81] – rund 300 Spataner einem übermächtigen Heer des Perserreichs gegenübergestanden haben sollen. [82] Diese militärische Auseinandersetzung zwischen Helenenbund und Perserreich sehen die Angehörigen der Identitären Bewegung als Beginn eines bis heute andauernden Kampfes gegen die »Invasion« Europas durch fremde (muslimische [83]) Kulturen. Aus diesem Grund ist das Logo der Identitären Bewegung auch den Schilden der Spartanischen Hopliten in dem Film »300« nachempfunden: Ein gelber Kreis, in dem ein stilisiertes Lambda angebracht ist. Doch nicht nur durch ihr Logo versucht sich die Identitäre Bewegung als Kämpfer*innen-Verband für ihre Heimat zu inszenieren. Auch sprachlich knüpfen Aktivist*innen der Identitären Bewegung an den archaischen Krieger*innenkult der Spartaner* aus dem Film »300« an. »Reih dich in die Phalanx ein«, war einige Zeit eines der Leitmottos der Identitären Bewegung. [84] Doch die Zeit der Phalanx ist vorbei. Vielleicht deshalb weil aus dem »haltet sie draußen« ein »schmeißt sie raus« [85] wurde, vielleicht aber auch nur, weil die Aktivist*innen zunehmend versuchen, sich von »300«, diesem Fundament ihrer Ideologie, loszusagen und ›seriöse‹ theoretische Grundlagen zu suchen.

Fakt ist jedoch, dass die Identitäre Bewegung mittlerweile mehr fordert, als nur die Grenzen nach Europa zu schließen. Ähnlich wie sich der Antisemitismus im 19. Jahrhundert von einem »die Juden wollen in das Haus der Deutschen eindringen« zur Methaphorik, sie hätten es bereits besetzt, [86] entwickelte, fordern Anhänger*innen der Identitären Bewegung mittlerweile auch eine Ausweisung von Geflüchteten aus Deutschland und Europa. Besonders zwei Termini haben die »Identitären« dazu geprägt: »Remigration« und »Reconquista«. »Reconquista« bezeichnet den Prozess der christlichen Ausbreitung auf der Iberischen Halbinsel in der Zeit zwischen 722 und 1492. Von einer »Rückeroberung der iberischen Halbinseln durch die westgotischen Reichsnachfolger, die zuvor durch muslimische Eroberer besetzt gehalten wurden«, [88] kann dabei nur bedingt die Rede sein. In jedem Fall handelt es sich bei der »Reconquista« aus heutiger Sicht um eine in ihrem Ergebnis rassistisch und antisemitisch motivierte Epoche, auf die sich die Identitäre Bewegung hier positiv beruft. Insgesamt ist es auffällig, dass die Identitäre Bewegung in der Wahl ihrer Kampfbegriffe bewusst militärische Begriffe wählt, die nicht selten auf von starkem Rassismus und Antisemitismus geprägte Ursprünge verweisen.

2.4 Die Gespenster steigen auf

Im November 2015 veröffentlichte der neurechte Vordenker Götz Kubitschek zusammen mit einigen anderen Angehörigen der Neuen Rechten die extrem rechte Vernetzungsplattform »Ein Prozent«. Der Leitspruch der Plattform: »Es ist an der Zeit, dass die Stimme des Volkes wieder Gehör findet. Wir vernetzen den Widerstand«. [89] Die Idee: »Ein Prozent der Deutschen« zu vernetzen, um gemeinsam die »Flüchtlingsinvasion« zu beenden. [90] Ein Prozent, das ist keine Masse, immerhin aber ein Mob.

Ein extrem rechter Mob war bereits im August 2015 in der Nacht vom 21./22. in Heidenau auffällig geworden. Insgesamt rund 1000 Personen hatten am 21. August gegen eine provisorische Unterkunft für Geflüchtete demonstriert. Aufgerufen dazu hatte unter anderem die Neonazi-Partei NPD. Als gegen Mitternacht einige Geflüchtete in der Unterkunft einquartiert werden sollten, blockierten von ca. 300 noch vor Ort anwesenden Personen mehrere die Busse, mit denen diese transportiert wurden. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen zwischen Polizei und extremen Rechten, in deren Folge Flaschen, Steine und Brandsätze auf die Polizist*innen geworfen wurden. [91] Und auch im Oktober 2016 war es ein Mob, der in Chemnitz-Einsiedel gegen eine Unterkunft für Geflüchtete demonstrierte. Um die Ankunft von Geflüchteten in einer dort liegenden Unterkunft zu verhindern, hielten sich zu Spitzenzeiten mehr als 2000 Demonstrant*innen, hauptsächlich Anwohner*innen des 3500 Einwohner*innen umfassenden Ortes an einem vor der Unterkunft errichteten Infostand auf. [92] Die Organisator*innen berichten in diesem Kontext: »Das Dorf ist zusammengewachsen, die Menschen sind wieder eine Gemeinschaft. Sie sind wieder stolz aufeinander, die haben alleine durch die Aktion einen unheimlichen Stolz gewonnen, die haben Mut gewonnen, Gesicht zu zeigen, die helfen sich wieder gegeneinander [sic!], es ist einfach eine Gemeinschaft geworden, wie es sich normalerweise gehört.« [93] Im Hintergrund des rechten Propagandavideos, das die Zuschauer*innen zur Nachahmung anstiften will, werden Szenen gezeigt, die eher an eine gemütliche Lagerfeueratmosphäre erinnern, [94] als an einen aufgebrachten, extrem rechten Mob, aber vielleicht ist dies Volksfestatmosphäre ja gerade charakteristisch für dieses, auf Ausgrenzung des anderen sich gründende, Identitätsgefühl, das die Teilnehmer*innen dieser zutiefst rassistischen Veranstaltung offenbar gewonnen haben. Und dann ereignete sich der erste, internationale Aufmerksamkeit erregende pogromartige Übergriff auf einen Bus mit Geflüchteten in Clausnitz. Ein Mob von rund 100 Personen stoppte vor einer Unterkunft für Geflüchtete einen Bus mit Neuankömmlingen. Mit Rufen – nein, mit einem heiser-aggressiven Brüllen – wie »Wir sind das Volk« oder »Haut ab«, bedrängten die Clausnitzer Rassist*innen die Geflüchteten fast zwei Stunden, bis die Polizei diese dann unter Anwendung von »einfachem Zwang«, das heißt im Würgegriff, in ihre Unterkunft brachte. [95]

Doch auch wenn es in den letzten Monaten zur schlechten Angewohnheit der immer häufiger auftretenden, extrem rechten Mobs in ganz Deutschland geworden ist, sich als »Volk« zu verkennen, handelt es sich doch immer nur um »das Volk in seiner Karrikatur«. [96] Hannah Arendt bestimmt den Mob weiter als Zusammensetzung »alle[r] Deklassierten«, in dem »alle Klassen der Gesellschaft vertreten [sind]«. »[E]r kann nur akklamieren oder steinigen, [nicht wählen]«, [97] betont Hannah Arend weiter. Heute wissen wir, dass das »nicht wählen« nur mehr symbolisch zu verstehen ist. Ein Mob aus einem Prozent der deutschen Bevölkerung ist kaum in der Lage, einer politischen Kraft zur Macht zu verhelfen, doch wenn ein solcher Mob mit Heugabeln und Fackeln auszieht, um die Unterkünfte von Geflüchteten oder diese selbst anzugreifen, ist ein Prozent der Bevölkerung mehr als ausreichend.

Doch auch seit Clausnitz ist die Serie von fremdenfeindlichen Übergriffen nicht abgerissen. Im September 2016 kam es in Bautzen zu einem weiteren pogromartigen Übergriff auf Geflüchtete. Ein extrem echter Mob von rund 80 Personen hatte 15 bis 20 junge Geflüchtete angegriffen. Dabei wurden offenbar auch Steine und Glasflaschen geworfen. [98]

Dass diese Übergriffe in Zusammenhang mit der derzeitigen rechten Mobilisierung stehen, steht außer Frage, doch lassen sich diese auch auf einen entsprechenden Sprachgebrauch zurücführen? Was sich auf jeden Fall feststellen lässt, ist, dass sich solche Übergriffe im Sprachgebrauch der extremen Rechten angekündigt haben, ja dass sogar im Vorfeld inhaltlich von ihnen gesprochen wurde. Götz Kubitschek stieß Ende Oktober 2015 in einem Artikel mit der Überschrift »Widerstandsschritte« die Überlegung an, ob es legitim sei, Busse mit Geflüchteten zu blockieren, um diese daran zu hindern, ihren Zielort zu erreichen. [99] Im Februar 2016 ereigneten sich dann die pogromartigen Übergriffe in Clausnitz. »[D]er Mob [schreit] in allen Aufständen nach dem starken Mann, der ihn führen kann«, [100] schreibt Hannah Arendt. Doch Kubitschek wollte damals noch mehr: Er hatte den extrem rechten Rechtsanwalt Thor v. Waldstein damit beauftragt, zu prüfen, ob es für »die Deutschen in der jetzigen Situation ein Recht auf Widerstand geben könnte«, [101] denn auch wenn es den deutschen Mob dazu drängt, sich zu Pogromen zusammenzurotten, wohler ist ihm dabei, wenn er das Gesetz oder wenigstens die Regierung hinter sich weiß. Ungeachtet des wirren Geplänkels des extrem rechten Rechtsanwalts, der einen »vorsätzlichen Staatsstreich der Regierung gegen das Volk, einen Putsch von oben« [102] bilanziert und deshalb ein Widerstandsrecht als »letzte[s] verbleibende[s] Mittel zur Erhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung« [103] gegeben sieht, [104] lässt sich feststellen, dass Götz Kubitscheks (kaum) verstecktem Aufruf zu Blockaden – mit einiger Verspätung immerhin – nachgekommen wurde. Doch Kubitschek als den »starken Mann, der [den Mob] führen kann« [105] zu bezeichnen, hieße seine Rolle innerhalb der extremen Rechten zu überschätzen. Sicher besitzt seine Stimme einiges Gewicht, jedoch nicht mehr als die anderer extrem rechter Führungsfiguren wie Björn Höcke, Jürgen Elsässer oder die Anführer*innen von expliziten Neonazi-Organisationen. Auch war Kubitschek nicht der Einzige, der zu Blockaden von Unterkünften für Geflüchtete aufgerufen hatte, er war nur eine der bekanntesten Persönlichkeiten, die dies taten.

Verantwortich dafür, dass solche Blockaden schließlich tatsächlich stattgefunden haben, könnte eine ihnen vorangegangene, zunehmende sprachliche Enthemmung gewesen sein. [106] Gleichzeitig zu dieser Enthemmung fand auch eine zunehmende Verhetzung der Geflüchteten als Islamisten*innen, Ehrenmörder*innen, Vergewaltiger*innen und mit vielen weiteren Stereotypen statt.

Norbert Elias gibt auf die Frage, »warum die nationalsozialistische Führung zu Kriegsbeginn die Vernichtung aller Juden […] beschloss«, [107] folgende Antwort: »Sie bedeutet einfach die Erfüllung eines tief verwurzelten Glaubens, der für die nationalsozialistische Bewegung von ihren Anfängen an zentral gewesen war.« [108] »Hitler und seine Anhänger hatten aus ihrer totalen und unversöhnlichen Feindschaft gegen die Juden und aus ihrem Wunsch, sie auszurotten, nie einen Hehl gemacht«, [109] führt Elias weiter aus, um dann festzustellen, »daß sich […] eine lange Zeit nur wenige Menschen […] vorzustellen vermochten, daß die Nationalsozialisten eines Tages verwirklichen könnten, was sie verkündet hatten«. [110]

Das ist kein Problem der Vergangenheit: Es »gibt heute noch eine weitverbreitete Neigung, politische und soziale Glaubensdoktrinen zu unterschätzen: Sie gelten als bloßer Schaum – als ›Ideologien‹, denen als eigentliche Substanz die ›Interessen‹ der Trägergruppen, wie sie in deren Selbstverständnis definiert sind, zugrunde liegen«. [111] Eben jene rassistische und antisemitische Glaubensdoktrin äußert sich derzeit in der Sprache der extremen Rechten. Dabei wird häufig vergessen, dass gerade enthemmte, sprachliche Gewaltakte oft einen performativen Charakter besitzen. Wenn extrem Rechte heute also von »Widerstand«, Mord an Ausländer*innen oder einem Kampf gegen die »Hochfinanz« sprchen, sollten wir das nicht einfach auf die leichte Schulter nehmen und als leere Worte abtun!

Anmerkungen

[1] Norbert Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Michael Schröter, 2. Auflage (1989; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994) S. 396.

[2] Vgl. Dan Diener. »Zivilisationsbruch«. Zivilisationsbruch Auschwitz. Hrsg. von Pax Christi. Schriftenreihe Probleme des Friedens. Idstein: meinhardt, 1999. 13-15 S. 13 ff.

[3] Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben, hrsg. von Gary Smith und Rüdiger Zill, übers. von Hubert Thüring, Erbschaft unserer Zeit Bd. 16 (1995; Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002) S. 175.

[4] Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend (1992; München: dtv, 1997) S. 120.

[5] Vgl. (RE) Die Ordnung. Grundsatzprogramm der CSU vom 05.11.2016, online verfügbar unter http://csu-grundsatzprogramm.de/wp-content/uploads/CSU_Grundsatzprogramm.pdf S. 5.

[6] Der Begriff »Festung Europa« stammt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Besonders gegen Ende des 2. Weltkrieges wurde darunter ein Europa in dessen Mitte Deutschland als »Ordnungsmacht« liegt, verstanden. »Deutschland, die ›Ordnungsmacht‹, verteidigt die Festung Europa«, fasst Victor Klemperer diese späte nationalsozialistische Propaganda zusammen (Klemperer S. 186)

[7] Vgl. Theodor W. Adorno, »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse.« Ein philosophisches Lesebuch, hrsg. von Rolf Tiedemann (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997) S. 48.

[8] Vgl. (RE) Sebstverständnis der neonazistischen Partei »Der III. Weg«, online abrufbar unter http://www.der-dritte-weg.info/index.php/menue/63/Zehn_Punkte_Programm.html

[9] Beides, sowohl »Merkel muss weg«, als auch »Abschieben« sind Sprechchöre, die auf extrem rechten Demonstrationen, wie beispielsweise den PEGIDA-Demonstrationen in ganz Deutschland zum Repertoire gehören.

[10] Vgl. (RE) Artikel Metapolitik auf der Webseite der Identitären Bewegung Deutschland, online abrufbar unter http://www.identitaere-bewegung.de/metapolitik/

[11] Vgl. (RE) Artikel Metapolitik auf der Webseite der Identitären Bewegung Deutschland, online abrufbar unter http://www.identitaere-bewegung.de/metapolitik/

[12] Vgl. (RE) Pressemitteilung „Ästhetische Interverntion der Identitären Bewegung Deutschland im Berliner Maxim Gorki Theater“ der Identitären Bewegung Deutschland, online abrufbar unter http://www.identitäre-bewegung.de/presse/aesthetische-intervention-der-ibd-im-berliner-maxim-gorki-theater/

[13] Bernhard Giesen und Kay Junge. »Vom Patriotismus zum Nationalismus. Zur Evolution der ›Deutschen Kulturnation‹«. Nationale und kulturelle Identität. Hrsg. von Bernhard Giesen. Frankfurt am Main; Suhrkamp, 1991. S. 256.

[14] Nicht zu vergessen sind hier natürlich auch die diversen Flaggen, die extrem Rechte gerade bei Demonstrationen häufig mit sich führen und mit denen sie ihre nationalen Identitäten besonders deutlich ausflaggen.

[15] Unter dem Namen »Heldengedenken« – offenbar eine Anspielung auf den sogenannten »Heldengedenktag« im Nationalsozialismus (heute »Volkstrauertag«) – veranstalten Neonazis alljährlich einen Gedenktag für die deutschen Kriegstoten des 2. Weltkriegs in der Stadt Wunsiedel, wo sich die Grabstätte von Rudolph Hess befindet.

[16] Martin Wiese ist einer der bekanntesten Neonazis Bayerns. Im Jahr 2003 hatte Wiese gemeinsam mit mehreren anderen Neonazis einen Sprengstoffanschlag auf die Grundsteinlegung des neuen jüdischen Kulturzentrums in München geplant. Noch in der Untersuchungshaft schrieb Wiese in einem Brief, dass ihm noch genug Zeit bliebe, »diese Judenrepublik [plattzumachen]« und unterzeichnete diesen mit »Heil Hitler« (vgl. Krug).

[17] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0

[18] Adorno S. 63.

[19] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0

[20] Vgl. (RE) Hans Weberstedt und Kurt Langner, Gedenkhalle für die gefallenen des Dritten Reiches, Bd. I (München: Franz-Eher, 1939) S. 7.

[21] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0

[22] (RE) Weberstedt und Lagner S. 7.

[23] Klemperer S. 13.

[24] Klemperer S. 13.

[25] Vgl. (RE) Aufruf zum Tag der deutschen Zukunft in Dortmund (2016), online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=HhpOyoCC8sY, ab min. 0:28

[26] Vgl. (RE) Der III. Weg. Heldengedenken in Wunsiedel 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=-uYWsvEW2_0, ab min. 1:02

[27] Vgl. (RE) Aufruf zum Tag der deutschen Zukunft in Dortmund (2016), online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=HhpOyoCC8sY, ab min. 0:54

[28] Konkret steht im Aufruftext zum »Tag der deutschen Zukunft« 2017: »Täglich kommen tausende art- und kulturfremde Menschen in unser Land […]«. (vgl. (RE) Aufruf zum Tag der deutschen Zukunft 2017, online abrufbar unter https://logr.org/tddz2017/aufruf/; Hervorhebung durch différⒶnce muc)

[29] Nicht nur beim »Tag der deutschen Zukunft« lassen sich neurechte Tendenzen im Gedankengut offen nationalsozialistischer Parteien und Gruppierungen beobachten. So schreibt beispielsweise die Neonazi-Partei »Der III. Weg« in ihrem 10-Punkte-Programm: »Ziel […] ist […] die Schaffung einer Europäischen Eidgenossenschaft auf Grundlage der europäischen Kulturen, sowie der gemeinsamen Geschichte und ist getragen [sic!] vom Willen und der Souveränität der europäischen Völker« (vgl. (RE) Zehn Punkte Programm des III. Wegs, online abrufbar unter http://www.der-dritte-weg.info/index.php/menue/63/Zehn_Punkte_Programm.html). Das klingt nach einer etwas rassischeren Form des neurechten Ethnopluralismus.

[30] Vgl. (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min. 2:07

[31] So übernahm beispielsweise Spiegel-Kolumnist Jan Fleischhauer diesen extrem rechten Begriff des »großen Austauschs« im März 2017 unhinterfragt als Überschrift seiner Kolumne (vgl. Fleischhauer).

[32] Vgl. (RE) Webseite der Identitären bewegung Österreich zum »großen Austausch«, online abrufbar unter https://deraustausch.iboesterreich.at/

[33] Vgl. (RE) Webseite der Identitären bewegung Österreich zum »großen Austausch«, online abrufbar unter https://deraustausch.iboesterreich.at/

[34] Vgl. Tony Gerber in (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min. 0:22.

[35] Vgl. (RE) Veit Harlan, »Jud Süß« (1940).

[36] Vgl. (RE) Erich Waschneck, »Die Rothschilds« (1940).

[37] Vgl. Harlan und Waschneck.

[38] Vgl. (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min 0:22.

[39] Vgl. Sebastian Zeilinger in (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min 1:29.

[40] Das ist insofern kaum verwunderlich, als in dem Video mindestens zwei Personen mit einer neonazistischen Vergangenheit auftreten: Martin Sellner (Vorsitzender der Identitären Bewegung Österreich) nahm mindestens bis zum Jahr 2008 an Neonazi-Demonstrationen teil (vgl. Reuter) und der im Video auftretende Lorenz Maierhofer engagierte sich früher in der heute verbotenen Neonazi-Kameradschaft »Freies Netz Süd« (vgl. Aigner).

[41] (RE) Björn Höcke. »Hilf Dir selbst, dann hilft Dir Gott. Rede zum Flügeltreffen am Kyffhäuser« (Juni 2015).

[42] Schon seit 2015 macht der Soziologe Andreas Kemper darauf aufmerksam, dass Björn Höcke und Landolf Ladig nicht nur sehr ähnliche, seltene Ausdrücke (»organische Marktwirtschaft«, »identitäre Systemopposition«, uvm.) verwenden, sondern, dass deren Schriften teilweise auch beinahe wortwörtlich identische Textpassagen aufweisen. Unter anderem deshalb kommt Andreas Kemper zu dem Schluss, dass es sich bei »Landolf Ladig« und Björn Höcke vermutlich um ein und dieselbe Person handelt (Kemper, »Landolf Ladig, NS-Verherrlicher«).

[43] (RE) Landolf Ladig. »Ökologie und Postwachstumsökonomie. Die Krise des Liberalismus». Volk in Bewegung 1 (2012) S. 13.

[44] In dem extrem rechten Lokalblatt »Eichsfeld Stimme« der NPD schreibt Landolf Ladig, also aller wahrscheinlichkeit nach Björn Höcke, dazu: »[…] durch das Inkrafttreten des neuen Staatsbürgerschaftsrechts [war] den statistischen Tricksereien Tür und Tor geöffnet [worden]. Denn ab dem 01.01.2000 wurden mit der Abschaffung des Abstammungsprinzips alle in der BRD geborenen Ausländer automatisch vor dem Gesetz zu Deutschen« ((RE) Ladig »Was wird aus unserer Heimat? Der demografische Wandel ist kein Naturgesetz!« S. 1). Indem Ladig/Höcke die Nationalität eines Menschen also an dessen Abstammung festmacht und eine Abschaffung dieses Prinzips beklagt, macht er deutlich, welche Rolle Biologismen bei ihm einnehmen.

[45] Sowohl Höcke, als auch Ladig sprechen immer wieder von »identitärer Systemopposition« (Kemper, »Björn Höcke (AfD) – ›prächtiger‹ Nationalsozialismus und die identitäre Revolution?«).

[46] (RE) Björn Höcke. »Dresdner Gespräche mit Björn Höcke und anderen« (Jan. 2017).

[47] Vgl. (RE) Aufruf zum Tag der Deutschen Zukunft 2016, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=HhpOyoCC8sY, ab min. 0:28.

[48] Vgl. (RE) Identitäre Bewegung Deutschland: Zukunft für Europa, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=rPXI6tA31yI, ab min 1:30.

[49] (RE) Pythagoreer. »Kollektiver Schuldkomplex« (Dezember 2013 (PI-News).

[50] Ob es sich bei dem dort veröffentlichten Text tatsächlich um eine Schrift Horst Mahlers handelt, ist etwas zweifelhaft. Tatsächlich trägt der Text in der PDF-Version Mahlers Unterschrift, es scheint jedoch nicht unmöglich, dass der Betreiber der Seite, der Neonazi Jörg Krautheim, ein großer Fan von Mahler (vgl. https://thueringenrechtsaussen.wordpress.com/2014/06/12/die-rechte-in-thuringen-oder-krautheims-one-man-show/), diesen Text gefälscht haben könnte. Für die Analyse des Textes und seiner ideologischen Grundlagen scheint die Echtheitsfrage jedoch einerlei zu sein.

[51] (RE) Horst Mahler. »Es kommt Bewegung in unsere Lage« (Jan. 2017). S. 1.

[52] Vgl. Compact TV: Dresdner Gespräche mit Björn Höcke, online abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=sti51c8abaw, ab min. 1:05:38.

[53] Ironischerweise diagnostizieren sowohl Norbert Elias, als auch Hannah Arendt, dass die nationalsozialistischen Führer »halbgebildet[e] […] Außenseiter oder Versager […] der älteren Ordnung« (Elias S. 410) waren, bzw. »die charakteristischen, uns wohlbekannten Züge des Pöbels« (Arendt S. 703) trugen.

[54] (RE) Mahler S. 5.

[55] Schmitt gilt heute noch als ein wichtiger Vordenker der Neuen Rechten.

[56] Vgl. (RE) Mahler S. 4.

[57] (RE) Mahler S. 4.

[58] Vgl. www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/nach-aktion-der-identitaeren-bewegung-senat-will-brandenburger-tor-besser-schuetzen/14463426.html

[59] (RE) Mahler S. 4.

[60] Vgl. Andreas Kemper. »Zur NS-Rhetorik des AfD-Politikers Björn Höcke«. DISS 32 (2016).

[61] Goldhagen S. 71 ff.

[62] Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. III 1830; 1986) S. 347 ff.

[63] (RE) Mahler S. 2.

[64] Vgl. Kemper, »Landolf Ladig, NS-Verherrlicher«.

[65] (RE) Mahler S. 2.

[66] (RE) Mahler S. 2.

[67] Vgl. Kemper, »Landolf Ladig, NS-Verherrlicher«.

[68] (RE) Mahler S. 2.

[69] (RE) Mahler S. 5.

[70] (RE) Mahler S. 5.

[71] (RE) Ladig, »Was wird aus unserer Heimat? Der demografische Wandel ist kein Naturgesetz!« S. 1.

[72] (RE) Björn Höcke. »Leserbrief zu ›kein Dritter Weg‹ von Hans-Olaf Henkel, JF 43/08«. Junge Freiheit 44 (2008) S. 23.

[73] (RE) Landolf Ladig. »Krisen, Chancen und Auftrag«. Volk in Bewegung 5 (2011) S. 6.

[74] Der nationalsozialistische Antisemit Gottfried Feder, der als einer der Ersten zwischen »schaffendem Industriekapital« und »raffendem Finanzkapital« unterschied – natürlich in der antisemitischen Absicht, den Jüdinnen*Juden Raffgier zu unterstellen –, veröffentlichte 1935 sein Werk »Kampf gegen die Hochfinanz« (Vgl. (RE) Feder). An diese Begrifflichkeiten knüpft Ladig/Höcke hier sehr deutlich an.

[75] (RE) Jürgen Elsässer. »›Volksinitiative‹ gegen Finanzkapital gegeründet « (2010).

[76] (RE) Elsässer.

[77] (RE) Elsässer.

[78] Vgl. Klemperer S. 186,

[79] Vgl. Matthias Meisner. »Ausreiseverbot für niederländischen Pegida-Anführer?« (6. Juli 2016).

[80] Vgl. (RE) http://www.grenzhelfer.in/?page_id=120

[81] Historische Quellen behaupten etwas anderes: Herodot berichtet in seinen Historien von insgesamt 5200 griechischen Hopliten, von denen nur etwa 300 aus Sparta stammten (Herodot S. 202 f.).

[82] Zack Snyder. »300« (2006).

[83] Selbstverständlich gab es um 480 v. Chr. weder den Islam, noch das Christentum, der Identitären Bewegung geht es jedoch um die angebliche Unvereinbarkeit der Kulturen.

[84] Christoph Schulze. »Die ›Identitären‹ in Brandenburg«. (2016). Online abrufbar unter http://www.aktionsbuendnis-brandenburg.de/sites/default/files/downloads/Identit%C3%83%C2%A4re-Brandenburg.pdf. S. 1.

[85] Goldhagen S. 90.

[86] Goldhagen S. 90.

[87] Vgl. (RE) https://www.identitaere-bewegung.de/category/politische-forderungen/.

[88] Vgl. (RE) https://www.identitaere-bewegung.de/faq/was-bedeutet-der-begriff-reconquista/.

[89] Vgl. (RE) https://einprozent.de/.

[90] Vgl. (RE) https://einprozent.de/ueber-uns/.

[91] Vgl. MDR Sachsen. »Gewaltsamer Protest gegen Neuankömmlinge« (22. Aug. 2015). Online abrufbar unter http://www.mdr.de/sachsen/dresden/demo-heidenau100.html.

[92] Vgl. (RE) Kanal Schnellroda: Ziviler Ungehorsam in Chemnitz-Einsiedel – Wir selbst, online Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Y_H5XDvS3H0.

[93] Vgl. (RE) Kanal Schnellroda: Ziviler Ungehorsam in Chemnitz-Einsiedel – Wir selbst, online Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Y_H5XDvS3H0, ab min. 4:20.

[94] Vgl. (RE) Kanal Schnellroda: Ziviler Ungehorsam in Chemnitz-Einsiedel – Wir selbst, online Abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Y_H5XDvS3H0.

[95] Vgl. Christoph Titz. »Busattacke in Clausnitz. Ein Dorf wundert sich« (21. Feb. 2016). Online abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/clausnitz-und-die-attacke-auf-fluechtlinge-jetzt-will-es-keiner-gewesen-sein-a-1078492.html

[96] Arendt S. 247.

[97] Arendt S. 247.

[98] Vgl. Anna Reimann und Christian Teevs. »Rechte Gewalt in Sachsen. Immer wieder Bautzen« (15. Sep. 2016). Online Abrufbar unter http://www.spiegel.de/politik/deutschland/bautzen-was-hinter-der-gewalt-zwischen-fluechtlingen-und-rechten-steckt-a-1112458.html.

[99] Vgl. (RE) Götz Kubitschek. »Widerstandsschritte (6): Widerstandsrecht in Einsiedel?« (27. Oktober 2015). Online abrufbar unter https://sezession.de/52000.

[100] Arendt S. 247.

[101] (RE) Kubitschek.

[102] (RE) Thor v. Waldstein. »Zum politischen Widerstandsrecht der Deutschen« (25. Oktober 2015). Online abrufbar unter https://sezession.de/wp-content/uploads/2015/10/widerstandsrecht-waldstein1.pdf. S. 15.

[103] (RE) v. Waldstein S. 26.

[104] V. Waldstein geht sogar soweit, in Fallbeispielen die Umzingelung des Kanzleramtes mit Fackeln und Heugabeln (er nennt das »Lichterkette« und »Sprechchöre«) als legitimes Mittel zum Widerstand zu bezeichnen und auch eine »[Menschenkette] an der Grenze, [um] […] dadurch den Grenzübertritt Illegaler« zu verhindern, als gerechtfertigtes Mittel des Widerstands zu bezeichnen ((RE) v. Waldstein S. 33).

[105] Arendt S. 247.

[106] Besonders drastisch fand diese Enthemmung in sozialen Medien statt. Hier ist es heute keine Seltenheit, dass extrem Rechte pauschale Morddrohungen gegen Muslime*a, Antifaschisten*innen und (vermeintliche) Jüdinnen*Juden aussprechen.

[107] Elias S. 403.

[108] Elias S. 404.

[109] Elias S. 405.

[110] Elias S. 406.

[111] Elias S. 406.

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