Vielfalt und Projektion

Replik auf Robert Kriegs Artikel „Besonders, nicht krank“ in GWR # 440

von Hyman Roth

Robert Krieg meint es gut. Er meint ein gutes Argument gegen Trisomie-Bluttest und darauf häufig folgende Abtreibung gefunden zu haben. „Neulich in der Stadthalle einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Auf der Bühne spielt eine Coverband einen Kult-Song von „The Police“. Neben mir stampft ein junger Mann mit Down-Syndrom zum Punk-Rhythmus und reckt die geballte Faust in Richtung Bühne. Den Text kennt er auswendig. Er geht in der wogenden Menschenmenge auf. Individuell und integriert zugleich bildet er einen lebendigen, lebensbejahenden Aspekt der Vielfalt menschlichen Daseins ab.“

Wie rührend diese Szene auf einige GWR-Leser zuerst einmal wirken mag, so fragwürdig ist die Vorstellungswelt, aus der sich die Rührung speist. Zunächst ist es die Ähnlichkeit zu einem Selbst, was für den Autor gegen die Diskriminierung der Menschen mit dem Down-Syndrom spricht. Kaum sind die anderen einem ähnlich, schon bilden sie „einen lebensbejahenden Aspekt der Vielfalt menschlichen Daseins ab“. Die Rührung kommt doch daher, dass man von einem Down-Syndrom-Patienten verbreiteten Zuschreibungen folgend eher selten „erwachsene“ Vorlieben erwartet und daher überrascht sei.

Wer jetzt einwenden wird, es liege Überinterpretation, Haarspalterei oder bösartige Unterstellung vor, sei auf das nächste markante Zitat aus dem Text verwiesen: „Wir leben in einer vom Diktat der Ökonomie durchformatierten Welt, in der Eigenständiges und Widerständiges keinen Platz haben darf, denn sie beeinträchtigen die erwarteten Renditen. Wenn wir heute über Eugenik sprechen, müssen wir uns zugleich mit dem zerstörerischen Primat des Ökonomischen beschäftigen.“

Das ist auf ganz vielen Ebenen falsch. Erstens ist „Eigenständiges“ im Kapitalismus dauerhaft gefragt und wird immer wieder von der Ökonomie verwertet. Individuelle Rebellionen schaffen neue Absatzmärkte, Outsider von gestern werden zum Trendsetter von heute, „diversity management“ und Erschließung neuer Zielgruppen durch Werbung gehören zum Grundwissen der modernen Unternehmensführung.

Robert Krieg will aber „Vielfalt“ als einen Wert an sich gegen den Kapitalismus wenden und deutet das Down-Syndrom zu etwas Widerständigem über die Kopfe der Betroffenen um. Unabhängig davon, wie sich die Menschen und ihre Angehörigen zu diesem „Anderes-Sein“ stellen, sind sie jetzt zu Rebellen honoris causa ernannt, weil sie sich – noch – nicht (so gut) verwerten lassen. Obwohl die vom Autor selbst angeführten Beispiele gerade auf das Gegenteil deuten – immer mehr Menschen mit dem Down-Syndrom schaffen es sich für den Arbeitsmarkt als nützlich zu erweisen.

Wenn Robert Krieg die Tests und die Abtreibungen von „kostenverursachenden“ und „unrentablen“ Menschen anprangert, dann macht er im selben Atemzug eine Gegenrechnung auf:

Dass Menschen mit Down-Syndrom unseren gesellschaftlichen Alltag durch menschliches Glück und die Verbreitung von Empathie wertvoll machen, wie ich es am Anfang dieses Textes zu skizzieren versucht habe, taucht in dieser Rechnung nicht auf.“

Die Down-Patienten sind für ihn eben keine Subjekte, sie sind dazu bestimmt Empathie zu verbreiten und durch ihr Glück „unseren“ Alltag wertvoll zu machen – während den „normalen“ Menschen gerade zugestanden wird nicht dauerhaft empathisch oder glücklich zu sein. So werden sie zur Projektionsfläche für die Vorstellungen der „Gutmeinenden“, die in ihnen kindliche, aber gerade deswegen unschuldige und dauerglückliche Wesen sehen. Damit transportiert Robert Krieg die ableistischen Vorstellungen, gegen die er sich eigentlich wenden will.

 

Dieser Artikel wurde uns mit der Bitte um Veröffentlichung zugesandt. Da derzeit nicht absehbar ist, wann und ob die nächste Ausgabe der Lifestyleanarchist*in erscheinen wird, veröffentlichen wir diesen Artikel bereits vorab online.

Call for Papers – Vol. 03

Im Sommer 2019 soll die Lifestyleanarchist*in zum dritten Mal erscheinen.

In der dritten Ausgabe wollen wir uns schwerpunktmäßig mit dem Thema Arbeit und Faulheit auseinandersetzen:

In jeder Gesellschaft fallen Arbeiten an, die zur Befriedigung individueller und kollektiver Bedürfnisse erforderlich sind. Diese Arbeiten werden in aller Regel arbeitsteilig – wobei die Verteilung in aller Regel geprägt von den Hierarchien der Gesellschaft ist – von den Mitgliedern der Gesellschaft erledigt, wobei viele Gesellschaften einen Teil ihrer Arbeiten auch von menschlichen wie nichtmenschlichen Individuen, die nicht (vollwertiger) Teil der Gesellschaft sind, erledigen lassen. Die Verteilung der zum Erhalt einer Gesellschaft erforderlichen Arbeiten und auch deren Definition war in vergangenen Epochen ebenso wie heute ein bedeutendes Herrschaftsinstrument. Menschen wurden und werden – mal mehr subtil, mal weniger – dazu gezwungen, ihre Arbeitskraft in die Dienste anderer Menschen zu stellen, die dann über den damit erzeugten Mehrwert verfügen. Insofern ähneln sich ansonsten ganz und gar unterschiedliche Unterdrückungsmodelle im Zusammenhang mit Arbeit, von Sklaverei und Lehnsherrschaft über frühe Fabrikarbeit, Arbeitslager bis zu moderner Knastarbeit, Zeitarbeit oder auch sogenannter „freier Mitarbeit“.

Dabei sind es keineswegs ausschließlich materielle (ökonomische) Zwänge, die die Menschen dazu verleiten, Teil dieses Systems zu sein. Gerade in modernen Gesellschaften, in denen der Zwang zur Arbeit deutlich subtiler ausfällt, als noch vor einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten, kommt den verbreiteten Arbeitsideologien eine zunehmend bedeutendere Rolle zu. Diese dienen unter anderem dazu, Mitglieder der Gesellschaft, die sich der Arbeit (scheinbar) verweigern, zu stigmatisieren, sie sollen Hoffnung auf Besserung des eigenen Lebens durch Arbeit (reich werden) machen und sie werten bestimmte Arbeiten, vornehmlich reproduktive, ab und bürden diese bestimmten Mitgliedern der Gesellschaft (z.B. Frauen) auf, die diese in der Konsequenz nicht nur ohne Entlohnung verrichten, sondern dafür auch noch eine gesellschaftliche Abwertung erfahren.

Nicht nur, aber ganz besonders in Deutschland herrscht seit einiger Zeit eine ganz besonders absurde Arbeitsideologie. Diejenigen, deren Arbeitskraft in verhältnismäßig großem Maße ausgebeutet wird, fordern nicht etwa ein Ende dieser Ausbeutung, nein sie fordern noch mehr! „Sozial ist, was arbeit schafft“ (CDU/CSU, FDP, INSM), „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (Müntefering, SPD) sind inzwischen gängige politische Parolen der Mehrheitsgesellschaft. Kein Wunder, dass mensch sich da davor ängstigt, dass „Ausländer“ einem die „Arbeitsplätze klauen“.

Trotz der offensichtlichen Existenz einer solchen, von der gesamten Mehrheitsgesellschaft getragenen, Arbeitsideologie verklären auch viele linken Kritiken an Arbeit und Kapitalismus im Allgemeinen die Verhältnisse: Auf der Suche nach klaren Feindbildern müssen entweder einige unbestimmte „Kapitalist*innen“ oder gar das (personifizierte oder auch nicht personifizierte) „Kapital“ als Verursacher*innen herhalten, manchmal sind es gar ganz bestimmte Berufsgruppen – etwa Banker und Manager –, die als Sündenböcke herhalten sollen. Gerade letzteres erinnert – ob gewollt oder ungewollt – an die Federsche Unterscheidung von „schaffendem“ und „raffendem Kapital“ und bedient nicht selten auch andere klassische antisemitische Klischees.

Wir wollen in der kommenden Ausgabe der Lifestyleanarchist*in nach anarchistischen Analysen von Arbeitsideologien und deren Rolle im kapitalistischen System suchen. Dabei wollen wir uns nicht auf ein statisches und aus der Zeit gefallenes Herrscher*innen-Beherrschte-Schema beschränken, sondern versuchen, der hohen Komplexität der (heutigen) Verhältnisse Rechnung zu tragen. Zugleich möchten wir natürlich auch nach Ansätzen suchen, adäquaten Widerstand zu leisten: Wie lassen sich gängige Arbeitsideologien aufbrechen? Wie können wir den Ablauf der Produktivität stören und welchen Erfolg können wir uns davon versprechen?

Wir sind gespannt auf eure Beiträge zu diesem Thema.

Wie immer freuen wir uns aber auch über alle anderen anarchistischen Beiträge. Schickt sie uns per E-Mail an die-lifestyle-anarchistin@riseup.net (vorzugsweise verschlüsselt – PGP Key) oder nutzt unser Kontaktformular.

Einsendeschluss für Beiträge der dritten Ausgabe ist der 26. Mai 2019.

Die Konstitution des demokratischen Staates durch den Akt des Zur-Wahl-Gehens

Anlässlich der anstehenden Landtagswahlen in Bayern veröffentlichen wir hier einen Artikel von différⒶnce muc, der in unserer letzten Ausgabe leider keinen Platz mehr gefunden hat, den wir aber dennoch für beachtenswert halten:

Von différⒶnce muc

Der Akt des Zur-Wahl-Gehens ist ein ganz besonders Ereignis in der Beziehung der demokratischen Bürger*innen zu ihrem Staat. Das gängige Narrativ der Demokrat*innen sieht in diesem Ritual nichts geringeres als eine Heraufbeschwörung der Staatsmacht, denn mit der Abgabe seiner*ihrer Stimme überträgt der*die Bürger*in seine verfassungsrechtlich verbriefte Macht [1] auf eine*n Vertreter*in, der*die daraufhin als Teil des Staates jene Macht gegenüber der Bevölkerung mittelbar wieder ausübt. Dieser Vorstellung zufolge nimmt der Akt des Zur-Wahl-Gehens die besondere Funktion der regelmäßigen Re-Legitimierung oder auch Re-Konstitution des Staates durch seine „mündigen“ Bürger*innen [2] ein.

Vor diesem Hintergrund soll in diesem Text untersucht werden, inwiefern die bloße Teilnahme an einer Wahl dazu geeignet ist, die Macht des dahinter stehenden Staates zu festigen, beziehungsweise inwiefern sich aus einer Praxis des bewussten Nicht-wählens bereits aufständische Perspektiven ergeben.

Die Tatsache, dass im folgenden hauptsächlich von zentraleuropäischen Staaten die Rede ist, ist der Tatsache geschuldet, dass ich bisher eine intensivere Beschäftigung mit Staaten in anderen Teilen der Welt versäumt habe. Ich gehe davon aus, dass es sich mit demokratischen – oder auch scheinbar demokratischen Staaten – in anderen Teilen der Welt grundsätzlich ähnlich verhält, denke aber dass es spezifische Unterschiede gibt, wie es sie ja auch im Vergleich der zentraleuropäischen Staaten untereinander gibt. Möglicherweise gelingt es mir in Zukunft dieses Defizit auszugleichen.

Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren

Ein schon in den deutschen Schulen vermitteltes Paradoxon der demokratischen Ideologie drückt sich in dem gängigen Ausspruch „Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren“ aus. Einerseits spiegelt sich in diesem Satz natürlich die Borniertheit der Wahlberechtigten wider, die ihr Privileg „wählen zu dürfen“ gar nicht als solches erkennen und damit alle nicht wahlberechtigten Gruppen marginalisieren, andererseits verklärt dieser Ausspruch den Ursprung der demokratischen Staatsmacht, der sogar gemäß des Grundgesetzes in den Wahlen selbst liegt, zu einer durch den Staat vermittelten Möglichkeit der Teilhabe an Wahlen. Anders ausgedrückt: Der*die Bürger*in, der*die die Möglichkeit des Zur-Wahl-Gehens nicht wahrnimmt, vergibt die ihr*ihm durch den Staat vermittelte Macht. Der Staat selbst wird dabei zu einer geschichtslosen und vor allem zu einer  apriorischen Institution, dessen Existenz innerhalb der demokratischen Ideologie nicht in Frage gestellt werden kann. Umgekehrt entpuppt sich die grundgesetzliche Behauptung „Alle Macht geht vom Volke aus“ dabei als Mythos, als ein oft beschworenes, aber niemals existentes Ideal. Werden Wahlen in der demokratischen Ideologie also überbewertet?

Auf jeden Fall! Die bei Wahlen gewählten Abgeordneten, die später eine Regierung bilden und als solche mittelbar Staatsmacht gegenüber der Bevölkerung ausüben werden, sind weder an ihre Wahlversprechen noch an ihre Grundsatzpositionen rückgebunden. Zugleich ist mitnichten gewährleistet, dass die Positionen einer*eines Abgeordneten in Parlament oder Regierung Beachtung finden. Der*die wählende Bürger*in übt durch das Zur-Wahl-Gehen also keine Macht aus, er überträgt vielmehr die mit seiner Stimme verbundene Macht an eine*n Abgeordnete*n und damit mittelbar an den Staat. Hier offenbart sich der phänomenale Irrtum eines Ausspruchs wie „Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren“, denn gerade diejenigen, die „wählen gehen“ übertragen ihre Macht ja an den Staat im Vertrauen darauf, dass dieser in ihrem Sinne handelt, während diejenigen, die an der Wahl nicht teilnehmen, sich zumindest der rituellen Ermächtigung des Staates verweigern. Wollte mensch dem Ausspruch also überhaupt eine Wahrheit abgewinnen, müsste er schon eher lauten „Wer wählen geht, darf sich nicht beschweren“.

Zur-Wahl-Gehen: Rituelle Re-Konstitution des Staates oder Mythos

Doch wenn es sich bei dem Statut „Alle Macht geht vom Volke aus“ nur um einen Mythos handelt, lässt sich dann überhaupt die These einer Re-Konstitution des Staates durch den Akt des Zur-Wahl-Gehens halten?

Einerseits lässt sich ein sichtbarer Machtverlust des Staates in den Fällen, in denen nur sehr wenige der in ihm lebenden Menschen Zur-Wahl-Gehen kaum feststellen: Die Re-Konstituierung des Staates findet also auch in diesen Fällen in einer Art und Weise statt, die die Macht des Staates erhält. Andererseits ist klar, dass der Staat einer beständigen Re-Konstituierung bedarf, das zeigen zahlreiche Beispiele herrschaftsfreier Zonen im Großen und im Kleinen, in denen der Staat seine Macht erst wieder gewaltsam herstellen muss. [3] Mit anderen Worten: Ein Staat dem sich die Menschen nicht freiwillig unterwerfen verliert seine Macht in dem Maße, dass es plausibel erscheint, dass er aufhört zu existieren, sobald sich ihm nur noch sehr wenige Menschen unterwerfen.

Eine Re-Konstitution des Staates findet also nicht nur anlässlich von Wahlen statt, sondern es handelt sich hier um einen kontinuierlichen Prozess. Jedes Mal, wenn wir die Staatsmacht (beispielsweise die Polizei) um Hilfe anrufen ist das ein performativer Akt, der zu einer Re-Konstituion des Staates beiträgt. Jeder Behördengang, jede politische Forderung an den Staat, jedes Mal, wenn wir wider unseren Willen Gesetze befolgen oder aufgrund von Gesetzen gegen andere Menschen vorgehen, indem wir ihnen mit Anzeige drohen oder sie gar tatsächlich anzeigen, ist Teil einer permanenten Re-Konstitution des Staates, denn bei all diesen Handlungen räumen wir dem Staat und seinen Institutionen implizit wie explizit Macht über uns und andere Menschen ein.

Und dennoch haftet der spezifischen Re-Konstitution des Staates bei Wahlen etwas besonderes an, möglicherweise gerade deswegen, weil den Menschen dann (zumindest unterbewusst) klar ist, dass hier eine Re-Konstitution des Staates stattfindet. Das verhilft den Wahlen vermutlich auch zu ihrem typischen rituellen Charakter mit Vorhersagen, Hochrechnungen, abendfüllenden Wahlsendungen im Fernsehen, aber auch Wahlplakaten, Wahlkampfveranstaltungen und schließlich Wahlparties. Von allen performativen Akten, die in ihrer Gesamtheit eine permanente Re-Konstitution des Staates bedeuten ist der Akt des Zur-Wahl-Gehens wohl der am meisten sichtbare und wahrgenommene, wenngleich kaum mehr bedeutend als andere re-konstitutive Handlungen.

Das Spektakel stören?

Diese herausragende Bedeutung des Zur-Wahl-Gehens, auch wenn sie nur in der Wahrnehmung herausragend ist, scheint auch für staatskritische Interventionen besonders geeignet zu sein. Die Tatsache, dass den Menschen anlässlich von Wahlen (zumindest unterbewusst) klarer denn je zu sein scheint, dass der Staat nur solange existiert, wie wir an ihn „glauben“ und ihm folgen, scheint ein geeigneter Anlass zu sein, um den Menschen diesen Charakter noch bewusster zu machen.

Mensch stelle sich vor, der Staat verlöre anlässlich von Wahlen tatsächlich kurzzeitig die Kontrolle. Was wäre anders? Die radikale Opposition der Menschen zum Staat wäre sichtbarer denn je, denn es wäre unmissverständlich klar, dass sich hier nicht das Nichteinverständnis der Menschen mit einer bestimmten Politik ausdrückt, sondern die Ablehnung jeder Politik im demokratisch-bürgerlichen Sinne. Die massive Gewalt derer der Staat bedürfte, um seine Ordnung wiederherzustellen würde unmissverständlich deutlich machen, dass es sich hier um einen Angriff auf die Souveränität des Staates handelt, aber auch, dass viele solche Angriffe geeignet sind, um selbst einen Staat mit all seinen (materiell existenten) Repressionsbehörden aus den Angeln zu heben.

Es könnte sich also lohnen, zukünftig auch durch intensive Kampagnenarbeit in das Spektakel einer Land- oder Bundestagswahl zu intervenieren und dabei gerade die Symbolkraft, die der Staat den Wahlen selbst verliehen hat, für sich zu nutzen.

Anmerkungen

[1] Vgl. Art. 20 Satz 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt. “

[2] Dabei sind die „mündigen“ Bürger*innen eines Staates keineswegs mit der in ihm lebenden Bevölkerung zu verwechseln. Menschen, die etwa in Deutschland leben und dementsprechend den Regeln dieses Staates unterworfen sind, haben nur dann ein Wahlrecht, wenn sie einen deutschen Pass besitzen, zum Zeitpunkt der Wahl 18 Jahre oder älter sind und nicht aus anderen Gründen (Beispiele dafür sind ableistische Gründe, bei denen Menschen aufgrund einer vermeintlichen Be_hinderung das Wahlrecht aberkannt wird oder auch repressive, bei denen ein Gericht Menschen als Teil ihrer Strafe für eine Gesetzesübertretung das Wahlrecht aberkennt) von der Wahl ausgeschlossen sind. Wahlberechtigt sind in den meisten Staaten also nur einige der in ihnen lebenden Menschen.

[3] Einige aktuelle Beispiele für solche herrschaftsfreien Zonen in Zentraleuropa sind etwa la ZAD, der Hambacher Forst, diverse Hausbesetzungen, uvm. Daneben gibt es immer wieder entstehende temporäre autonome oder herrschaftsfreie Zonen, etwa wenn sich Menschen ohne Erlaubnis des Staates die Straßen nehmen.

Die Lifestyleanarchist*in Vol. 2 ist da!

Endlich! Die Lifestyleanarchistin Vol. 2, Sommer/Herbst 2018 ist da.

Cover der Lifestyleanarchist*in Vol. 2

Die Lifestyleanarchist*in Vol. 2, Sommer/Herbst 2018 (PDF)

 

 

 

 

 

Aus dem Inhalt:

Neo Biota: Rechtsruck oder Rechtsenthemmung?

Gegen ein Europa der Abschottung, gegen den rassistischen Normalzustand!

Anna Kistin: Über kommende Aufstände (Teil 2)

kA★oS München: Die Rolle der Gefängnisse innerhalb der Gesellschaft

Max: Brief aus dem Gefängnis

Freiheit für alle Gefangenen

Kritische Prozessbegleitung München: Repressionswelle anlässlich einer Serie von Scheinbesetzungen

Bestellen

Ihr könnt die gedruckte Version der Lifestyleanarchist*in in Kürze an den üblichen linken Orten in München finden. Falls ihr dort kein Exemplar mehr bekommt, nicht in München wohnt oder mehrere Exemplare zur Weiterverbreitung benötigt, schreibt uns einfach eine E-Mail an die-lifestyle-anarchistin@riseup.net (PGP-Key).

Rechtsruck oder Rechtsenthemmung?

Überlegungen zum „Rechtsruck“ und zu Rassismus in Deutschland

Von Neo Biota

In ganz Europa werden Grenzen dichtgemacht, Rechte von Asylsuchenden ausgehebelt, Schiffe mit aus der Seenot Geretteten nicht an Land gelassen oder Menschen gar nicht erst aus der Seenot gerettet, Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte attackiert, Menschen in Lagern gefangen gehalten und in der “Zeit” wird darüber diskutiert, ob es sinnvoll sei, übers Mittelmeer Flüchtende vor dem Ertrinken zu retten ((Vgl. Lobenstein, Caterina und Lau, Mariam: “Oder soll man es lassen? Private Helfer retten Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer aus Seenot. Ist das legitim? Ein Pro und Contra” (2018). https://www.zeit.de/2018/29/seenotrettung-fluechtlinge-privat-mittelmeer-pro-contra, letzter Zugriff: 01.09.2018.)). Europa rückt nach rechts, so der Tenor, seit das mit der angeblichen “Flüchtlingskrise” begann. Und obwohl alle außerhalb von AfD und PEGIDA (und einigen aktuell weniger präsenten rechtsradikalen Organisationen) sich gegen einen “Rechtsruck” aussprechen, scheint selbiger unaufhaltsam. Wie ist das möglich?

Mit “Rassismusvirus” verseuchte Geflüchtete?

Problem, so tönt es aus allen politischen Lagern, sei die mangelnde Integrationsbereitschaft der angekommenen Geflüchteten. Die fehlende demokratische Grundbildung. Der Machismus. Die Kriminalität. Und natürlich der Islam beziehungsweise der “Islamismus”. Die deutsche Bevölkerung habe Angst, und das nicht zu Unrecht. Ihr Sicherheitsgefühl sei erschüttert. Sie hätten Angst um ihre materielle Sicherheit, Angst vor Gewalttaten und vor antidemokratischem Gedankengut. Dies führe anders gesagt zu einem “Rechtsruck” in der Bevölkerung. Die Anwesenheit der Geflüchteten führe also dazu, dass Menschen sich wieder mehr an extrem rechtem Gedankengut orientierten. Deshalb müsse mensch diese Sorgen ernst nehmen und entsprechend handeln, die “schlechten” Elemente, kriminelle, sonstwie “verhaltensauffällige” und “unberechtigterweise” hier seiende Menschen möglichst schnell und konsequent abschieben und die Integration der anderen forcieren. So forderte Regierungssprecher Steffen Seibert bereits 2010,

Ausländer[*innen] [sollten] möglichst schnell in die Wertevorstellungen, die Gesellschaft, den Arbeitsmarkt und die Sprache in Deutschland hineinfinden. Je besser uns das gelingt, desto mehr werden wir allen, die rechtsextreme oder noch schlimmere Gedanken haben, den Boden entziehen. ((Riegen, Marc-Oliver von: “Rechtsruck in Deutschland? Ausländerfeindlichkeit nimmt zu” (2010). https://www.stern.de/panorama/gesellschaft/rechtsruck-in-deutschland–auslaenderfeindlichkeit-nimmt-zu-3530342.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.))

Nach dieser Argumentation tragen die noch nicht integrierten Geflüchteten also selbst die Verantwortung für die immer stärkere Ablehnung ihnen gegenüber. Ihre Anwesenheit scheint extrem rechtes, also auch rassistisches Gedankengut zu befördern. Rassismus und extrem rechtes Gedankengut kann also nach (mehrheits-)gesellschaftlichem Konsens nur bekämpft werden, indem die Menschen, die von den nach rechts gerückten Menschen als störend empfunden werden, verschwinden. Die deutsche Bevölkerung wird offenbar immer dann von rechtem Gedankengut und Rassismus befallen, wenn sie auf Leute trifft, die nicht so sind wie sie selbst. Offenbar tragen geflüchtete und sonstwie “auffällige” Menschen einen “Rassismusvirus” bei sich, der dann die deutsche Bevölkerung befällt. Könnte es da nicht alternativ so sein, dass Deutschland ein größeres Rassismusproblem hat als bisher angenommen? Und was hat Rassismus mit dem “Rechtsruck” zu tun?

Integration und Assimilation

Beleuchten wir erst einmal die Forderung nach Integration. “Integration” bedeutet im eigentlichen Sprachsinn die Aufnahme von Menschen in eine soziale Ordnung, d. h. die Gesellschaft, zu der eine Person dazustößt, hat dafür Sorge zu tragen, dass diese Person in ihrer Mitte aufgenommen wird. Die heutige Forderung nach Integration richtet sich aber nicht an die deutsche Gesellschaft, sondern an die Geflüchteten und sonstige Migrant*innen selbst, sowie zugleich – und das entbehrt jedweder Logik – auch an nicht weiße Deutsche. Wie Steffen Seibert und die meisten gesellschaftlich relevanten Akteur*innen fordern, sollten Geflüchtete möglichst schnell deutsch lernen und sich an die hier herrschende Werteordnung anpassen und zwar so sehr, dass extrem Rechten und Rassist*innen der “Boden [entzogen]” wird.

Früher wurde diese Form der Anpassung “Assimilation” genannt. Von dazustoßenden Menschen wird erwartet, dass sie dafür Sorge tragen, dass sie sich von den anderen Menschen in dieser sozialen Ordnung nicht mehr unterscheiden, also durch nichts “auffallen”. Diese Forderung ist in vielerlei Hinsicht unmöglich zu erfüllen, da sie eine Homogenität einer Mehrheit suggeriert, die es nicht gibt. Nicht nur Steffen Seibert und die Bundesregierung haben heutzutage ein solches Verständnis von Integration, sondern dieses Verständnis scheint Konsens bei den meisten gesamtgesellschaftlich relevanten Akteur*innen in Deutschland zu sein.

Laut Steffen Seibert scheint Assimilation auch die Lösung für Rassismus und Rechtsextremismus zu sein. Nach seiner Logik muss dafür gesorgt werden, dass es niemanden mehr gibt, an dem*der sich Rassist*innen stören könnten. Die Opfer von Hass und Benachteiligung ziehen laut ihm berechtigterweise den Hass anderer Menschen auf sich und sollten sich schleunigst so verändern und wie die rassistischen Menschen werden, damit es für diese Menschen keinen Grund mehr gibt, sie zu hassen. Dabei bedenken Seibert und all die anderen, die Assimilation als Lösung für Rassismus und Rechtsextremismus halten, wohl nicht, dass für eine perfekte Assimilation an deutsche weiße Rassist*innen auch weiß werden nötig wäre, strukturell eine Assimilation für viele also gar nicht möglich ist. ((Tatsächlich wird eine Assimilation ja auch nur von Menschen gefordert, denen diese nicht möglich ist. Weiße Migrant*innen beispielsweise aus den USA, Schweden, Großbritannien, Frankreich, usw. sehen sich deutlich seltener mit der Forderung nach Assimilation konfrontiert und eine öffentliche Debatte darüber, dass sie sich gefälligst assimilieren sollen, gibt es nicht! Natürlich gibt es aber auch unter weißen Migrant*innen Menschen, die sich der ständigen Forderung nach Assimiliation ausgesetzt sehen: Das sind vor allem Migrant*innen aus Osteuropa, sowie Angehörige marginalisierter Minderheiten, beispielsweise Jüd*innen oder Sinti und Rom*nija.))

Die Verbreitung von Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland

Wie sieht es denn allgemein in Deutschland mit Rassismus aus? Als 2002 zum ersten Mal die Leipziger “Mitte”-Studie ((Die “Mitte”-Studien werden seit 2002 alle zwei Jahre durchgeführt und untersuchen autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland. Vgl. Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger “Mitte”-Studie 2016. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016. )) durchgeführt wurde, stellte sich heraus, dass circa 10% der Deutschen explizit rechtsextreme Einstellungen haben und circa 30% ausländer*innenfeindlich sind ((Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 14.)). 2016 dann stellte die “Mitte”-Studie im Hinblick auf das Erstarken der AfD und die steigende Anzahl an Angriffen auf Geflüchtete und Geflüchtetenunterkünfte fest:

Die aktuelle Studie fördert angesichts dessen einen überraschenden Befund zutage: Hinsichtlich der Verbreitung der klassischen Einstellungen, die Rechts-extremismus charakterisieren, fällt die Steigerung von Vorurteilen nur gering aus. […] Die jüngsten Veränderungen im Parteiensystem zeigen weniger einen neuerlichen Anstieg fremdenfeindlicher und autoritärer Einstellungen […] an, vielmehr findet das seit Jahren vorhandene […] Potenzial jetzt eine politisch-ideologische Heimat. ((Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 7f.))

Dabei konstatiert die “Mitte”-Studie, dass der Grad der Politisierung derjenigen, die rechtsextrem und gruppenbezogen menschenfeindlich eingestellt sind, über die letzten Jahre hinweg angestiegen ist, ebenso der Grad der Radikalisierung. Es ließe sich jedoch auch bei denen, die Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ablehnen, eine größere Politisierung und ein größeres Einmischen feststellen. ((Vgl. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 20.))

Lippenbekenntnis Antirassismus

Dennoch gibt es wenig Grund zur Freude. Die Studie legt Menschen gruppenbezogen menschenfeindliche Aussagen vor, denen diese dann mehr oder weniger zustimmen oder die sie mehr oder weniger ablehnen können. Es werden also nur Aussagen von Menschen bewertet, nicht ihre Handlungen. Zusätzlich sind die Fragen nicht so subtil gestellt, als dass die befragten Personen nicht erahnen können, was der Hintergrund der Befragung ist. Mit dieser Studie kann eher der Grad der Tabuisierung gewisser Aussagen gemessen werden als die tatsächlichen Ansichten von Personen. Eine Person kann einer bestimmten Meinung sein, aber wissen, dass diese “verboten” ist und entsprechend bei der Befragung das angeben, von dem sie ausgeht, dass es als positiv bewertet wird. So ist ein deutlich höherer Anteil an rassistisch denkenden und/oder handelnden Menschen in Deutschland möglich wenn nicht sogar wahrscheinlich.

Insbesondere die Diskrepanz zwischen Worten und Taten ist ein häufig beobachtetes Phänomen. Denn auch wenn eine pauschale Verunglimpfung von “Ausländer*innen” inzwischen weitgehend tabuisiert ist und in den Studien der letzten Jahre stark zurückgegangen ist, so ist doch eher von einem Lippenbekenntnis zu reden als von einer selbstkritischen Auseinandersetzung mit Rassismus, bei der den Betroffenen ernsthaft zugehört wird. So sind die Reaktionen auf die Rassismus-Erfahrungen in Deutschland, die über den Hashtag #metwo (( #metwo ist ein Hashtag auf Twitter, über den Menschen ihre Erfahrungen mit Rassismus in Deutschland erzählen.)) berichtet wurden, von scharfer Ablehnung, Unterstellungen, Verdrehen des Gesagten, Leugnung bzw. Absprechen der geschilderten Erfahrungen, rassistischen oder pauschalisierenden Gegenvorwürfen – wie sich nicht integrieren zu wollen – und dem Vorwurf von “reverse racism” ((“Reverse racism” bezeichnet die Kritik Weißer an Schwarzen antirassistischen Initiativen und Kritiken als Rassismus gegenüber Weißen. Vgl. Wikipedia: “Reverse racism”. https://en.wikipedia.org/wiki/Reverse_racism, letzter Zugriff: 01.09.2018 und Fabello, Melissa A.: “Why reverse oppression can’t exist” (2015). https://everydayfeminism.com/2015/01/reverse-oppression-cant-exist/, letzter Zugriff: 01.09.2018.. Bestes Beispiel für Positionen, die “reverse racism” unterstellen, ist der Artikel “#MeTwo-Debatte. Hauptsache, ihr favt meine Tweets” vom Rassisten Jan Fleischhauer. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/metwo-debatte-hauptsache-ihr-favt-meine-tweets-a-1221348.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) geprägt. ((Vgl. u. a. Fleischhauer, Jan: “#MeTwo-Debatte. Hauptsache, ihr favt meine Tweets” (2018). http://www.spiegel.de/politik/deutschland/metwo-debatte-hauptsache-ihr-favt-meine-tweets-a-1221348.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, und Zeit Online: “#MeTwo-Debatte. Christian Lindner findet Alltagsrassismus-Debatte zu einseitig” (2018). https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-08/metwo-rassismus-deutschland-reaktionen-christian-lindner, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Gleiches ließ sich auch bei den Rassismus-Vorwürfen des ehemaligen Nationalspielers Mesut Özil gegen den DFB und seine Fans beobachten, die Initialzündung für den #metwo-Hashtag waren. ((Vgl. u. a. Raecke, Daniel: “Die Abwehr steht. “Rassismus” in der öffentlichen Debatte” (2018). http://www.spiegel.de/sport/fussball/rassismus-keule-und-andere-sprechverbote-toni-kroos-und-mesut-oezil-a-1223549.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, Welt: “Nicht alle Deutschen sind rassistisch” (2018). https://www.welt.de/politik/deutschland/article180566414/Lady-Bitch-Ray-Nicht-alle-Deutschen-sind-rassistisch.html, letzter Zugriff: 01.09.2018, Kreiszeitung: “Funkstille nach Özil-Rücktritt: Jetzt äußert sich Löw – auch zum Rassismus-Vorwurf” (2018), https://www.kreiszeitung.de/sport/fussball/mesut-oezil-jogi-loew-aeussert-sich-zu-ruecktritt-und-rassismus-vorwuerfen-zr-10143391.html, letzter Zugriff: 29.08.2018 uvm.))

Diejenigen, die am meisten Gehör bekamen und bekommen, waren und sind Weiße oder Schwarze und People of Colour, die die geäußerten Kritiken für übertrieben halten. Dabei gibt es viele andere Initiativen, Organisationen und Einzelpersonen, die seit Jahren zu Rassismus in Deutschland forschen und Rassismus dokumentieren und wenig bis kein Gehör dafür bekommen. (( Eine Aufzählung von antirassistischen Inititativen und Publikationen findest du am Ende der Seite.)) Daniel Raecke spricht von einer Tabuisierung von Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die zu dem paradoxen Effekt geführt habe, dass Rassismus zu so einem schwerwiegenden Vorwurf wurde, dass die Benennung desselben in die Kritik gerät anstatt das benannte rassistische Verhalten. ((Raecke, Daniel: “Die Abwehr steht. “Rassismus” in der öffentlichen Debatte” (2018). http://www.spiegel.de/sport/fussball/rassismus-keule-und-andere-sprechverbote-toni-kroos-und-mesut-oezil-a-1223549.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Ich würde zusätzlich sagen, dass zwar Rassismus an sich verurteilt wird, aber es keine Bereitschaft gibt, sich selbstkritisch mit Rassismus tatsächlich auseinanderzusetzen und den Betroffenen zuzuhören und ihre Berichte und Vorwürfe als möglich in Betracht zu ziehen. Anders formuliert verbittet sich die deutsche Mehrheitsgesellschaft Rassismusvorwürfe, da sie bereits erkannt habe, dass Rassismus doof ist. Dass sie sich weiter rassistisch verhalte, sei gar nicht möglich, schließlich sei sie ja gegen Rassismus.

Faktor Staatsbürger*innschaft und Etabliertenvorrechte

Diese Tabuisierung schlägt sich auch in diversen Studien nieder: Pauschale Abwertungen aller “Ausländer*innen” finden sich deutlich seltener als noch 2002. Dafür hat sich der Rassismus “differenziert”: einzelne Gruppen werden mit mehr Abwertung betrachtet, zum Beispiel Sinti und Rom*nija, Muslima*e oder Geflüchtete. ((Vgl. Decker et al.: Die enthemmte Mitte S. 15f.)) Im Hinblick auf die beiden letzteren wird das häufig mit “Etabliertenvorrechten” begründet, dass also die, die “zuerst da waren”, mehr Rechte haben sollten als die, die neu dazustoßen. Dieses Phänomen gruppenbezogener Menschenfeind­lich­keit findet bei allen Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ((Vgl. Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Deutsche Zustände. Bd. 1-10. Frankfurt am Main, Berlin: Suhrkamp 2002-2012, Decker et al.: Die enthemmte Mitte, Zick, Andreas; Klein, Anna: Fragile Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014. Hrsg. von Ralf Melzer. Bonn: J. H. W. Dietz 2014.)) seinen Platz, hat es aber bisher nicht als Diskriminierungsform in den Diskurs der Mehrheitsgesellschaft geschafft. Damit werden Etabliertenvorrechte nicht mit Rassismus oder Rechtsextremismus in Verbindung gebracht und sind damit nicht vom Tabu des Rechtsextremismus oder des Rassismus betroffen. ((Vgl. Melzer: Fragile Mitte – Feindselige Zustände S. 83. )) Damit einhergehend ist besonders die Diskriminierung aufgrund von Staatsbürger*innenschaft nicht als eine solche (an-)erkannt:

In modernen Gesellschaften stehen solch willkürliche Benachteiligungen [birthright lottery ((Birthright lottery: Begriff von Ayelet Shachar, “Wink des Schicksals, der den einen qua Geburt einen privilegierten Status verleiht, während er andere von Beginn an in eine benachteiligte Position bringt”, Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München: Hanser Berlin, 2016, S. 145.))] prinzipiell in der Kritik. Die angeborenen Ungleichheiten des Geschlechts etwa, der Rasse oder auch der sozialen Herkunft – die berühmten Diskriminierungskategorien gender, class und race – fordern zumindest den normativen Anspruch dieser Gesellschaften nach politischen Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung und des sozialen Ausgleichs heraus. Für den nicht weniger geburtszufälligen Ungleichheitsfaktor Staatsbürgerschaft gilt dieser Anspruch hingegen nicht. Vielmehr ist das genaue Gegenteil der Fall: Die gegebene oder aber fehlende Staatsbürgerschaft ist hier ein anerkannter und wirkmächtiger Grund für rechtliche wie soziale Besser- oder Schlechterstellung. ((Lessenich: Neben uns die Sintflut S. 145f. ))

Die Diskriminierung aufgrund von Staatsbürger*innenschaft tritt auch in einem anderen Kontext zutage: Wer keine deutsche Staatsbürger*innenschaft hat, hat in Deutschland kein politisches Mitbestimmungsrecht und keine Chance, dass Politiker*innen auf ihre*seine Sorgen und Wünsche eingehen, da Menschen ohne deutsche Staatsbürger*innenschaft sie nicht wählen können. Hier wird der Rassismus eines jeden (demokratischen) Nationalstaates, aber besonders des deutschen mit seinem Abstammungs-Prinzip deutlich: Wer nicht deutsche*r Staatsbürger*in ist, auch wenn er*sie noch so lange in Deutschland wohnt, hat kein Mitbestimmungsrecht und keine Chance, als gleichberechtigte*r Akteur*in im politischen Diskurs wahrgenommen zu werden. Das ist im Hinblick auf Geflüchtete besonders deutlich: sie werden nicht als Menschen mit einer Stimme und mit dem Recht, sich einzumischen, betrachtet. So ist es kein Wunder, dass deutsche Politiker*innen so sehr auf die “Sorgen und Nöte” der mehrheitsdeutschen Wähler*innen, auch wenn diese noch so rassistisch sind, eingehen, aber nicht auf die von Menschen, die die deutsche Staatsbürger*innenschaft nicht besitzen. Immerhin, seit 2000 ist es unter gewissen Bedingungen möglich, auch als eingewanderte Person mit nichtdeutscher Staatsbürger*innenschaft beziehungsweise solchen Eltern eine deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten. Das schlägt sich durchaus auch im politischen Diskurs nieder. Eine Randposition bleibt es aber dann doch, wie jede Position einer marginalisierten Minderheit. Zusätzlich haben Menschen, die nicht mindestens acht Jahre erlaubterweise in Deutschland leben und so keine Möglichkeit haben, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten, immer noch keine politische Stimme. Auch nehmen viele den Wechsel zur deutschen Staatsbürger*innenschaft nicht vor, weil sie dafür ihre alte Staatsbürger*innenschaft aufgeben müssten. Damit ist strukturell angelegt, dass eingewanderten Menschen die Entscheidung dazu besonders schwer gemacht wird. ((Mehr dazu in Fußnote 39.))

Zusammendenken von Rassismus und Rechtsradikalismus

Ein weiterer Faktor, der die Haltung der deutschen Mehrheitsgesellschaft mitbestimmt, ist das Zusammendenken von Rassismus und Rechtsradikalismus. ((Vgl. Fekete, Liz: “Why the NSU case matters. Structural racism and covert policing in Europe”. Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 49-64, S. 53.)) Wer sich selbst nicht als rechtsradikal verortet oder verortet wird, sprich sich nicht in einer (neo-)nationalsozialistischen oder sonstigen rechtsradikalen Organisation oder Umfeld bewegt, versteht sich nicht als rassistisch und wird auch häufig nicht als rassistisch wahrgenommen. Damit sind gerade Formen von Rassismus außerhalb eines rechtsradikalen Spektrums, wie zum Beispiel Rassismus in staatlichen Institutionen oder Rassismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, kaum in der öffentlichen Wahrnehmung präsent und werden auch sehr konsequent negiert, wie sich gerade auch bei den NSU-Morden und dem darauffolgenden Prozess sehr deutlich gezeigt hat. ((Vgl. Fekete, Liz: Why the NSU case matters. )) Obwohl sich im Zusammenhang mit den NSU-Morden der Rassismus der Behörden wie der Medien zweifellos und offensichtlich gezeigt hat, ist bis heute gerade dieser Aspekt von staatlicher ebenso wie ziviler Seite kaum aufgearbeitet worden. ((Zum NSU-Komplex findet sich am Ende der Seite eine Liste mit Inernetadressen und Leküreempfehlungen.))

Racial Profiling

So zeigt sich sogar gesetzlich fixierter Rassismus ((Vgl. Cremer, Hendrik: “Racial Profiling” – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz. Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte 2013.)) gerade auch in der “verdachtsunabhängigen Kontrolle”, die Polizist*innen besonders im Bereich von Bahnhöfen durchführen, meist zur Feststellung unerlaubt nach Deutschland Eingereister, aber auch auf der Suche nach illegalisierten Drogen oder Verstößen gegen die Hausordnung von Bahnhöfen, so verdachtsunabhängig nicht. Polizist*innen müssen selektiv vorgehen und dürfen selbst entscheiden, wen sie für verdächtig genug halten, um eine Person zu kontrollieren – und greifen dafür, bewusst oder unbewusst, oft auf auf rassistische und andere Stereotype und Vorurteile – gerne als “Erfahrung” verkauft – zurück. ((Vgl. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. München: Goldmann 2009. )) Gerade bei der Suche nach unerlaubt Eingereisten sucht die Polizei gezielt nach Menschen, die für sie “ausländisch” aussehen und orientiert sich da besonders an der Hautfarbe oder an sonstigen phänotypischen Merkmalen. ((Cremer, Hendrik: ““Racial Profiling”: Eine menschenrechtswidrige Praxis” (2014). https://www.boell.de/de/2014/10/22/racial-profiling-eine-menschenrechtswidrige-praxis, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Es gibt unzählige Berichte von Schwarzen und People of Color in Deutschland über die unzähligen Polizeikontrollen, die sie über sich ergehen lassen müssen.

Deutschsein ist weiß

Eine weitere spezifische Form des deutschen Rassismus, für die es keine Wahrnehmung gibt und die in der Berichterstattung immer wieder reproduziert wird, ist die Assoziation von “Deutschsein” mit weißsein. Wer in den Augen der Berichtenden nicht weiß ist, kann nicht “deutsch” sein. Sofort ist die Rede von “Migrant*innen”, von “Menschen mit Migrationshintergrund”, von Menschen “(nord-)afrikanischen Aussehens”. Wer Schwarz ist, sieht sich immer wieder mit der Frage nach der wirklichen Herkunft konfrontiert. Auch wenn die eigene Familie seit Generationen und Jahrhunderten in Deutschland – einem identitären Konstrukt, das auch erst seit 1871 besteht – lebt, ist es für die deutsche Mehrheitsgesellschaft nicht möglich, sie als Deutsche zu akzeptieren. ((Vgl. Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß.)) Dass das weiß sein als “normal” gesetzt wird, zeigt sich auch bei Formulierungen, dass Menschen “anderer Hautfarbe” oder “anderen Aussehens” dies oder das gemacht haben oder ihnen angetan wurde. Damit sind nie Weiße gemeint. Auch bei der Berichterstattung Ende August zu den Angriffen von Neonazi-Hools in Chemnitz auf Menschen, die diese Neonazis nicht als Deutsche identifiziert hatten, wird die Kategorisierung der Nazis in der Berichterstattung unkritisch übernommen und von Angriffen auf “Migranten”, “Geflüchteten” und “Ausländern” berichtet. ((Vgl. die Berichterstattung der SZ, FAZ, Welt, Bild und anderen zu den Pogromen in Chemnitz.))

Die fortschrittliche Gesellschaft

Ein weiterer Aspekt des in Deutschland weit verbreiteten Rassismus, der diesmal aber die gesamte “westliche, freiheitliche” Welt betrifft, ist die Vorstellung einer “fortgeschrittenen, entwickelten” Gesellschaft, im Gegensatz zur “Dritten Welt”, zu den “Entwicklungsländern”. Hier setzt sich der althergebrachte weiße Kolonialismus und der weiße Überlegenheitsgedanke fort. Entsprechend werden gerade Geflüchtete, aber auch Muslima*e und damit natürlich auch muslimische Geflüchtete als gefährlich für die deutsche Demokratie betrachtet, weil sie ja aus “rückschrittlichen” Gesellschaften kämen bzw. “rückschrittliche” Werte vertreten würden. Die Forderung, dass Menschen, die in die deutsche Gesellschaft aufgenommen werden wollen, sich an die “demokratischen” und “freiheitlichen Werte” dieser Gesellschaft anzupassen haben und sonst keinen Platz hier hätten, legt bei 10% rechtsextremen deutschen Staatsbürger*innen und um die 20 % weiteren deutschen Staatsbürger*innen, deren Überzeugungen für Rechtsradikalismus anknüpfungsfähig sind, doppelte Standards an, verklärt die “eigene” “freiheitliche” Gesinnung und unterstellt allen “anderen” eine autoritäre, “rückschrittliche” Gesinnung.

Diese Überheblichkeit und Geschichtsvergessenheit ebenso wie der Rassismus zeigte sich besonders deutlich bei der 2007 vorgenommenen Einschätzung des Landeskriminalamtes Baden-Württemberg zu den mutmaßlichen Täter*innen der NSU-Morde, dass

[v]or dem Hintergrund, dass die Tötung von Menschen in unserem Kulturraum mit einem hohen Tabu belegt ist, abzuleiten [ist], dass der Täter hinsichtlich seines Verhaltenssystems weit außerhalb des hiesigen Normen- und Wertesystems verortet ist.” ((Landeskriminalamt Baden-Württemberg (LKA-BW) (Autor: KHK Udo Haßmann): Gesamtanalyse der bundesweiten Serie von Tötungsdelikten an Kleingewerbetreibenden mit Migrationshintergrund, o.O. (Stuttgart), o.J. (30.1.2007). Zitiert in: Tribunal ‘NSU-Komplex auflösen’: “Der instituionelle Rassismus bei den Ermittlungen und die Kriminalisierung der Betroffenenen”. http://www.nsu-tribunal.de/unsere-anklage-der-institutionelle-rassismus, letzter Zugriff: 01.09.2018. ))

Obwohl Angehörige von Anfang an darauf hinwiesen, dass Neonazis hinter den Morden stecken könnten, wollte die Polizei davon nichts wissen, rechtfertigte dies mit absurden Begründungen wie der gerade genannten und rassistischen Stereotypen gegenüber den Opfern, die die Polizei in mafiöse Verwicklungen ver-strickt vermutete. Und das 62 Jahre nach der Niederschlagung des NS-Regimes und der Verübung des Holocaustes und circa 15 Jahre nach den Pogromen gegen (vermeintlich) zugewanderte Menschen in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen, Mölln und anderen Attacken Anfang der 90er Jahre, bei denen innerhalb von vier Jahren 56 Menschen getötet wurden. Übrigens wurden ab 1990 bis heute 193 Todesopfer rechter Gewalt gezählt, sowie circa 600 weitere Mordversuche. ((Vgl. Brausam, Anna: “Todesopfer rechter Gewalt seit 1990”. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/, letzter Zugriff: 01.09.2018.))

Zuwanderungsland Deutschland wider Willen ((Folgendes Kapitel bezieht sich insbesondere aus Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. München: Beck 2014 und Jäger, Margarete: “Skandal und doch normal. Verschiebungen und Kontinuitäten rassistischer Deutungsmuster im deutschen Einwanderungsdiskurs.” Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 30-48.))

Auch im Umgang mit Asylsuchenden zeigt sich der Rassismus, der hier mit Etabliertenvorrechten Hand in Hand geht, sehr deutlich. Nach den Erfahrungen von Hunderttausenden aus Nazi-Deutschland geflüchteten Menschen, überwiegend Jüdinnen*Juden, die Schwierigkeiten hatten, von anderen Ländern aufgrund sehr restriktiver Asylbestimmungen aufgenommen zu werden, wurde im Grundgesetz der BRD das Recht auf Asyl bei politischer Verfolgung festgeschrieben. In den ersten Jahrzehnten des Bestehens der BRD wurde dieses Asylrecht wenig in Anspruch genommen. Jedoch wurde bereits mit den Debatten über die sogenannten “Gastarbeiter*innen” ((Aufgrund von Arbeitskräftemangel wurden 1955-1973 Menschen aus dem Ausland als Arbeitskräfte angeworben, jedoch mit der Erwartung, dass diese die BRD wieder verlassen, sobald sie als Arbeitskräfte nicht mehr “gebraucht” würden. Stattdessen siedelten sich viele in der BRD an und holten ihre Familien nach.)) klar, dass es für die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht möglich schien, zugezogene Menschen anderer Nationalitäten in ihre Gemeinschaft aufzunehmen. Hier kam zum ersten Mal die bis heute andauernde und weit verbreitete Ansicht auf, es gebe “nützliche” Ausländer*innen, die es als gute Arbeitskräfte nach Deutschland zu holen gelte und die anderen, die es fernzuhalten gelte. Aufgrund dessen, dass zu diesem Zeitpunkt Arbeiter*innen gebraucht wurden. kam der Rassismus gegenüber den “Gastarbeiter*innen” nicht unverhohlen zum Ausdruck, sondern eher in Form von Paternalismus und Überheblichkeit, sowie in Debatten über die Integrierbarkeit beziehungsweise Nicht-Integrierbarkeit insbesondere von Türk*innen. 1982, circa zehn Jahre nach dem Anwerbestopp von Gastarbeiter*innen, 1982, deklarierte die Bundesregierung, “Deutschland [sei] kein Einwanderungsland” und beschloss, den Anteil an Ausländer*innen in der BRD spürbar zu reduzieren. Spätestens ab da gilt die Zuwanderung in Deutschland als problematisch, als Bedrohung für die deutsche Identität und für die soziale wie körperliche “Sicherheit” von Deutschen. ((Vgl. Jäger, Margarete: Skandal und doch normal S. 36.))

In der DDR wurden zur gleichen Zeit Vertragsarbeiter*innen insbesondere aus den “Bruderstaaten” Vietnam und Mosambik angeworben. Abgesehen von offiziellen Veranstaltungen zelebrierter Völkerfreundschaft gab es eine strenge Trennung der Vertragsarbeiter*innen von der restlichen Bevölkerung, Kontakte zu den Vertragsarbeiter*innen mussten gemeldet werden. Die Vertragsarbeiter*innen lebten in Sammelunterkünften, unter prekären sozialen und arbeitsrechtlichen Bedingungen. Schwangere Vertragsarbeiterinnen zum Beispiel mussten entweder die Schwangerschaft abbrechen oder wurden abgeschoben. Jeglicher öffentlicher Diskurs über das Zusammenleben von einheimischer Bevölkerung und Vertragsarbeiter*innen wurde unterdrückt. Insgesamt machten Ausländer*innen weniger als ein Prozent der Bevölkerung in der DDR aus. ((Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert S. 1173.))

Der Umgang mit zugewanderten Menschen in beiden deutschen Staaten zeigt den damals immer noch tief sitzenden Rassismus der Menschen, der allerdings aus unterschiedlichen Gründen noch nicht so stark zum Ausbruch kam. Ab 1989, mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der daraus entstehenden Fluchtbewegung vieler Menschen auch in die neu vereinigte Bundesrepublik, zeigte sich der Rassismus immer unverhohlener. Die Union hatte seit Jahren – mit der wachsenden Zahl an Asylbewerber*innen auch schon vor 1989 – gegen “Asylbetrug” agitiert und eine Grundgesetzänderung des Asylrechtsparagra­fen gefordert. Lange Zeit hatten sich SPD und Grüne dagegen gesperrt. Parallel zu der sich zuspitzenden feindlichen Stimmung gegenüber Asylbewerber*innen kam es zu ersten Überfällen auf Asylunterkünfte, die erst kurz zuvor von der Regierung eingeführt worden waren, um die Menschen von einem Asylantrag abzuhalten.

Die rassistische Gewalt gegenüber Asylbewerber*innen, aber auch sonstigen Migrant*innen und als nicht-deutsch Wahrgenommenen gegenüber eskalierte in den folgenden Jahren. 1991 kam es zu 6 Tage andauernden Pogromen gegen ein Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen und eine Asylunterkunft in Hoyerswerda. Die von dort geretten Arbeiter*innen wurden in der Folge abgeschoben. Es folgten unzählige Angriffe auf Asylunterkünfte, Wohnheime für Vertrags- oder Gastarbeiter*innen und auf Menschen, die für die Angreifer*innen nicht deutsch genug schienen. 1992 wurde in Rostock-Lichtenhagen vier Tage lang unter Beifall von circa 3000 Menschen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innen von mehreren hundert Menschen angegriffen und das danebenliegende Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter*innen angezündet und von der Polizei im Stich gelassen. Weitere Pogrome, Brandanschläge auf Asylunterkünfte und Angriffe auf und Ermorderungen von Menschen, die für ihre Angreifer*innen nicht deutsch genug waren, folgten.

Nach dem Brandanschlag in Mölln, bei dem drei Menschen getötet und neun schwer verletzt wurden, die bereits seit Jahren in Deutschland lebten, erhob sich erstmals breiter Protest in der Bevölkerung, in Form von Demonstrationen und kilometerlangen Lichterketten, bei denen gegen “Ausländerfeindlichkeit” protestiert wurde. Jedoch zogen in diesen Jahren auch die beiden offen rechtsradikalen Parteien Die Republikaner und die DVU (Deutsche Volksunion) in den 90er Jahren in insgesamt fünf Landtage ein und erhielten circa 5-12% der Stimmen.

Zur selben Zeit, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, siedelten sich viele deutschstämmige Menschen, sogenannte “Aussiedler*innen” und besonders Russlanddeutsche in Deutschland an. Gab es 1990 noch Misstrauen gegenüber diesen Menschen, fokussierte sich dann der Hass auf die “rein ausländischen” Zugezogenen. 3 Millionen Russlanddeutsche siedelten sich im selben Zeitraum in Deutschland an und wurden vergleichsweise “wie von einem Schwamm [absorbiert]” ((Vgl. Decker et al., Die enthemmte Mitte S. 15.)). Die Geschichte der Russlanddeutschen wird – auch wenn statistisch die Angleichung an den Rest der deutschen Bevölkerung noch nicht ganz abgeschlossen ist – als Erfolgsgeschichte betrachtet. ((Vgl. Wikipedia: “Russlanddeutsche”, https://de.wikipedia.org/wiki/Russlanddeutsche, letzter Zugriff: 01.09.2018.)) Dass die Integration der “Russlanddeutschen” dermaßen problemlos vonstatten ging, lässt vermuten, dass materielle Befürchtungen aufgrund neuer “Konkurent*innen” eher Vorwand oder Rechtfertigung rassistischer Vorurteile sind als dass eine tatsächliche materielle Konkurrenz Rassismus verursacht. ((Vgl. Decker et al., Die enthemmte Mitte S. 15.))

In Reaktion auf die Pogrome setzte die CDU 1993 ihre Forderung nach einer Änderung des Grundgesetzartikels zum Asylrecht durch. Im sogenannten “Asylkompromiss” wurde eingeführt, dass nur Leute, die aus einem Land einreisen, indem die Grundsätze der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention nicht gelten, in Deutschland Asyl beantragen können. Faktisch wurde damit das Recht auf Asyl abgeschafft, denn Deutschland war als Binnenland inmitten von Ländern, für die diese Konventionen gelten, auf den allermeisten Fluchtwegen nicht mehr erreichbar. Nur wer per Flugzeug direkt nach Deutschland einreiste, konnte noch Asyl beantragen. Daraufhin – und auch weil sich die politische Lage in vielen Ländern beruhigte – ging die Zahl der Einwandernden und Asylbewerber*innen stark zurück.

Der Umgang von Politik und Medien mit Asylbewerber*innen und Zugewanderten in den 1990ern trug vermutlich dazu bei, dass sich bundesweit Neonazis organisierten und radikalisierten und Gewalt- und Terrorakte gegenüber Menschen, die nicht in ihr Weltbild passten, zu einem Teil ihres Handlungsfeldes machten. So formierte sich der Nationalsozialisten Untergrund NSU Ende der 90er Jahre aus diesen Strukturen heraus ((Vgl. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert S. 1178 und “Der NSU im Netz von Blood & Honour und Combat 18”. Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Hrsg. von Sebastian Friedrich, Regina Wamper und Jens Zimmermann. Münster: Unrast 2015. 11-29.)), ebenso viele weitere weniger bekannte neonationalsozialistische Gruppen, die Bombenanschläge durchführten und Menschen ermordeten ((Vgl. Andreasch, Robert: “Vom Penzberger Rathaus bis zum Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Rechte Attentate in Bayern”. Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945. Hrsg. von Winfried Nerdinger, Mirjana Grdanjski und Ulla-Britta Vollhardt. München: NS-Dokumentationszentrum, 2017. 63-73, S. 67 ff.)).

Ende der 1990er war von der Skandalisierung von “Ausländer*innenkriminalität” geprägt. Gleichzei­tig kam mit Beginn der rot-grünen Koalition ab 1998 auch der Begriff der “multikulturellen Gesellschaft” auf und wurde heiß diskutiert. Der Kurs der Regierung änderte sich im Hinblick auf Migration und Asyl. Das Staatsbürger*innenschaftsrecht wurde so weit geändert, dass Einwander*innen die Möglichkeit bekamen, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erlangen ((Aktuell ist es auf folgendem Weg möglich, die deutsche Staatsbürger*innenschaft zu erhalten: 1. Wenn mindestens ein Elternteil deutsche*r Staatsbürger*in ist – diese Kinder dürfen ihr Leben lang eine doppelte Staatsbürger*innenschaft behalten–, 2. wenn Kinder von nichtdeutschen Eltern auf deutschem Boden geboren werden, solange die Eltern bestimmte Grundvoraussetzungen erfüllen – diese Kinder müssen sich mit 18 für eine Nationalität entscheiden– oder 3. durch Einbürgerung, bei der einiges an Hürden wie dem Einbürgerungstest und einem Deutschtest bewältigt werden müssen und die Person weder Sozialhilfe erhalten noch vorbestraft sein darf und mindestens acht Jahre in Deutschland leben muss. Vgl. Bundesauslaenderbeauftragte.de: “Einbürgerung in Deutschland”. http://www.bundesauslaenderbeauftragte.de/einbuergerung.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.)). Damit wurde auch das bis dahin geltende nur vererbbare Staatsbürger*innenrecht (ius sanguinis), das seit 1913 mehr oder weniger unverändert war, wenn auch nicht abgeschafft, so zumindest aufgeweicht ((Vgl. VVN-BdA Kreisverband Augsburg: “Staatsbürgerschaftsrecht in Deutschland – eine Übersicht über die letzten 100 Jahre” (2007). http://vvn-augsburg.de/1a_jahrestage/texte/staatsbuergerschaftsrecht2007.pdf, letzter Zugriff: 01.09.2018.)).

Des Weiteren rief die rot-grüne Koalition in Reaktion auf den 2000 verübten Anschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf zum “Aufstand der Anständigen” auf. Zahlreiche Demonstrationen wurden organisiert und Initiativen gegen Rechtsextremismus ins Leben gerufen. 2005 wurde ein neues Zuwanderungsgesetz verabschiedet, das Zuwanderung wie auch seine Begrenzung gesetzlich festschrieb.

Auch wenn vordergründig auch durch den Kurswechsel in der Regierung sich die Lage im kommenden Jahrzehnt zu entspannen schien, so begann der NSU in dieser Zeit seine Mordserie, die lange Jahre von den Medien rassistischerweise als “Döner-Morde” bezeichnet wurde und die Aufdeckung des NSU bei Verfassungsschutz und Polizei mindestens durch rassistisch motiviertes Totalversagen, teilweise mit Sicherheit auch bewusst verhindert wurde, sodass er über zehn Jahre lang ungestört agieren konnte. Bis heute wird die Aufklärung bewusst sabotiert und verhindert, institutioneller Rassismus geleugnet, der Fokus lediglich auf Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe gerichtet. Von einem ganzen Netzwerk, das sie unterstützt haben muss, wollen die ermittelnden Behörden nichts wissen.

Zudem geriet der Islam seit den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001 immer mehr in den Fokus der deutschen Mehrheitsgesellschaft und steigerte sich zu antimuslimischem Rassismus. So änderte sich seit den 80er Jahren die Bezeichnung von “Ausländern” über “Menschen mit Migrationshintergrund” zu “Moslems” im Jahr 2001. Während vor 2001 Gefahr nur von denjenigen auszugehen schien, die sich nicht anpassen wollten, wurden nun auch assimilierte Menschen zur potenziellen Gefahr stilisiert, als fundamentalistische Terrorist*innen, die auf den richtigen Augenblick warteten, sich zu enttarnen. ((Vgl. Jäger, Margarete: Skandal und doch normal S. 41ff. )) Seitdem gibt es Diskussionen darüber, ob der Islam zu Deutschland gehöre oder nicht und ob Muslime in den “demokratischen” Staat Deutschland integrierbar seien.

Back to the 90s – oder nicht?

Seit 2015 spitzt sich die Lage wieder auf eine Weise zu, die so sehr an die 90er Jahre erinnert, dass es eine*n schwindelt: Januar 2015 wurde unter einer im Bau befindlichen Asylunterkunft eine Rohrbombe gefunden mit der Aufschrift “Tod IS”, umrahmt von zwei Hakenkreuzen. ((Reinfrank, Timo; Brausam, Anna: “Rechter Terror gegen Flüchtlinge – Die Rückkehr der rechten Gewalt der 1990er Jahre”. Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger “Mitte”-Studie 2016. Hrsg. von Oliver Decker, Johannes Kiess und Elmar Brähler. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016. 235-243. S. 236.)) Medienresonanz gleich null. Danach Brandanschläge auf Asylunterkünfte, Pogrome in Tröglitz, Freital und Heidenau, in Bautzen, und erst kürzlich im August 2018 in Chemnitz. Die rechte Gewalt eskaliert wieder.

Doch nicht nur das: Die CSU beschließt 2016 ein Bayerisches Integrationsgesetz, das die Anpassung an eine bayerische Leitkultur gesetzlich festschreibt, 2018 dis-kutiert sie bei einer Klausurtagung die “finale Lösung der Flüchtlingsfrage”. Es wird gegen integrationsunwillige, “kriminelle”, für die Deutschen und besonders für die “deutschen Frauen” gefährliche, das Sozialsystem ausnutzen wollende, arbeitsunwillige, muslimische und damit “rückständige”, demokratiefeindliche Geflüchtete gehetzt. Die EU beschließt die Schließung ihrer Grenzen und verhindert die private Seenotrettung für übers Mittelmeer Flüchtende.

Eine Sache, die sich von den 90ern unterscheidet: die AfD. Sie zeigt sich immer offener rechtsradikal und gewinnt dabei immer mehr an Zuspruch. Aktuell kommt sie auf ca. 15-17 % Wähler*innenstimmen und liegt damit gleichauf mit der SPD ((Vgl. Zicht, Wilkow; Cantow, Matthias: “Sonntagsfrage Bundestagswahl”. http://www.wahlrecht.de/umfragen/index.htm, letzter Zugriff: 01.09.2018.)). Sie sitzt seit 2017 mit 12,6 % im deutschen Bundestag, als erste offen rechtsradikale Partei seit Gründung der Bundesrepublik. In den bayerischen Landtag wird sie im Oktober diesen Jahres bei der bevorstehenden Landtagswahl mit Sicherheit einziehen, erste Stimmen aus der CSU werden laut, mit der AfD zu koalieren. Damit könnte die AfD die erste offen rechsradikale Partei sein, die an einer Regierung beteiligt ist ((Wobei auch heute schon davon gesprochen werden kann, dass die CSU in Bayern die gleiche Politik betreibt, die die AfD propagiert. )). Noch nie konnte die organisierte Rechte das vorhandene rassistische, rechtsradikale und autoritäre Potenzial, das in der deutschen Bevölkerung schlummert, so gut kanalisieren, organisieren und politisieren.

Da bleibt es ein kleiner Trost, dass auch diejenigen, die sich gegen Rassismus und Rechtsradikalismus aussprechen, lauter und wacher sind als in den 90er Jahren, organisierter, politisierter, entschiedener.

Rechtsenthemmung statt Rechtsruck

Kommen wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Haben wir es mit einem “Rechtsruck” zu tun? Und haben die Geflüchteten Anteil an dieser Entwicklung? Seit 2015 steigt die Gewalt gegen Geflüchtete und Menschen, die für gewisse Leute nicht “deutsch genug” zu sein scheinen, an. Seit 2015 steigen auch die Asylbewerber*innenzahlen an und erreichten im August 2015, als Angela Merkel eigenmächtig die deutschen Grenzen öffnen ließ, ihren Höhepunkt. Damals staunten viele über die deutsche “Willkommenskultur”. Von der ist heute nicht mehr viel zu sehen. Sind also doch die Asylbewerber*innen daran schuld? Haben sie es sich “verspielt”, sind sie zu schwierig, als dass es möglich sei, sie in Deutschland zu integrieren?

Wohl kaum.

Ich habe im Artikel den deutschen Rassismus in vielen seiner Facetten vorgestellt und seine Entwicklung in den letzten Jahrzehnten skizziert. Der Diskurs um “kriminelle”, integrations­unwillige, und antidemokratische Gastarbeiter*innen/Ausländer*innen/Türk*in­nen/Men­schen mit Migrationshintergrund/Muslima*e/Asylbewerber*innen/Geflüchtete/ Migrant*in­nen etc. ist Jahrzehn­te alt.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen auf, dass trotz scheinbarer Bemühungen im Kampf gegen Rechtsradikalismus besonders Anfang der 2000er Jahre, nur – wenn überhaupt – an der Oberfläche gekratzt wurde. Wir sind weit davon entfernt, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich ernsthaft mit ihren Privilegien und mit ihrem eigenen rassistischem Verhalten auseinandersetzt. In einer Gesellschaft, in der bis heute Rassismus und Rechtsradikalismus damit bekämpft werden sollen, dass die Grenzen dicht gemacht werden, eingewanderte Menschen und Menschen, die nicht ins Mehrheitsbild passen, zur Assimilation an diese Mehrheit gezwungen werden, das Asylrecht eingeschränkt oder sogar außer Kraft gesetzt wird und die Schuld bei den Menschen gesucht wird, die Opfer rechtsradikaler und rassistischer Anfeindungen werden, in einer Gesellschaft, in der nach rassistischen Pogromen wie in Chemnitz Ende August 2018 von der “Selbstjustiz besorgter Bürger” die Rede ist ((Vgl. die Berichterstattung zu den Pogromen in Chemnitz.)), kann von mehr als einem Lippenbekenntnis gegen Rassismus und Rechtsradikalismus nicht die Rede sein.

Aus diesen Ergebnissen heraus muss der Begriff “Rechtsruck” mit Vorsicht gebraucht werden. Wir erleben eine klare Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts – allerdings nicht zum ersten Mal. Tabus der letzten Jahre fallen wieder. Jedoch standen sie schon immer auf wackligem Terrain. Insbesondere im Hinblick auf den rassistisch geprägten Diskurs bezüglich nach Deutschland einwandernden Menschen ist eher von einer Kontinuität mit Ausschlägen nach oben zu sprechen, da nie ein Stand erreicht war, der antirassistisch genannt werden kann. Außerdem werden keine Menschen aufgrund ihrer materiellen Sorgen und befürchteter wirtschaftlicher Schwierigkeiten – zu tatsächlichen Einschränkungen kam es ja bisher nicht – neu zu rechten Rassist*innen, sondern nie ausgemerzte rassistische Vorbehalte und Haltungen werden angefacht, politisiert, radikalisiert und kanalisiert. Das rassistische und rechtsextreme Potenzial, das schon immer in der deutschen Bevölkerung geschlummert hat und das nie wirklich angegangen wurde, kommt so klar zum Vorschein wie lange nicht mehr.

Es kann nicht die Rede von einem “Rechtsruck” sein, sondern eher von einer “Rechtsenthemmung”, dass also unterdrücktes oder gehemmtes rechtes Gedankengut gesellschaftsfähiger wird, sich politisiert und organisiert. So wird auch klar, dass die besonders medial und (bildungs-)politisch erfolgte Arbeit gegen Aspekte von gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit mehrheitsgesellschaftlich bei vielen nur zur Hemmung menschenverachtenden Gedankenguts, nicht aber zur Selbstreflexion geführt hat. Zusätzlich wird damit weniger suggeriert, dass die Gesellschaft seit der Niederschlagung des NS-Regimes und spätestens seit den 68ern “weg von rechts” gerückt gewesen sei. Viele haben die Ereignisse der 90er Jahre vergessen. Gelernt haben wohl die wenigsten daraus. Hoffen wir, dass uns das nicht zum Verhängnis wird.

Literatur

Andreasch, Robert: “Vom Penzberger Rathaus bis zum Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Rechte Attentate in Bayern”. Nie wieder. Schon wieder. Immer noch. Rechtsextremismus in Deutschland seit 1945. Hrsg. von Winfried Nerdinger, Mirjana Grdanjski und Ulla-Britta Vollhardt. München: NS-Dokumentationszentrum, 2017. 63-73.

Brausam, Anna: “Todesopfer rechter Gewalt seit 1990”. http://www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/todesopfer-rechter-gewalt/, letzter Zugriff: 01.09.2018.

Bundesauslaenderbeauftragte.de: “Einbürgerung in Deutschland”. http://www.bundesauslaenderbeauftragte.de/einbuergerung.html, letzter Zugriff: 01.09.2018.

Cremer, Hendrik: ““Racial Profiling”: Eine menschenrechtswidrige Praxis” (2014). https://www.boell.de/de/2014/10/22/racial-profiling-eine-menschenrechtswidrige-praxis, letzter Zugriff: 01.09.2018.

Cremer, Hendrik: “Racial Profiling” – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz. Empfehlungen an den Gesetzgeber, Gerichte und Polizei. Berlin: Deutsches Institut für Menschenrechte 2013.

Decker, Oliver; Kiess, Johannes; Brähler, Elmar (Hrsg.): Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland. Die Leipziger “Mitte”-Studie 2016. Gießen: Psychosozial-Verlag 2016.

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Empfehlungen

Schwarzes Empowerment und Deutscher Rassismus

Der braune Mob e.V. (https://www.derbraunemob.de/)

Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (isdonline.de)

ADEFRA e. V. – Schwarze Frauen in Deutschland (http://www.adefra.de/)

Forschungsgesellschaft Flucht & Migration e. V. (https://ffm-online.org/)

Culture of Deportation (http://cultureofdeportation.org/)

Kampagne „Ban racial profiling. Gefährliche Orte abschaffen“ (http://www.polizei-gewalt.com)

Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt (https://kop-berlin.de)

Kampagne „Integration nein Danke“ (https://integrationneindanke.wordpress.com)

Materialen für rassismus- und herrschaftskritisches Handeln (www.mangoes-and-bullets.org)

Das Migazin (http://www.migazin.de/)

Anne Chebu: Anleitung zum Schwarzsein.

Noah Sow: Deutschland Schwarz-Weiß. Der alltägliche Rassismus

Katharina Oguntoye, May Opitz, Dagmar Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte.

NSU und extrem rechter Terror

NSU-Watch (www.nsu-watch.info)

Tribunal NSU-Komplex auflösen (www.nsu-tribunal.de)

Amadeu-Antonio-Stiftung (www.amadeu-antonio-stiftung.de)

Sebastian Friedrich, Regina Wamper, Jens Zimmermann (Hrsg.): Der NSU in bester Gesellschafft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat

Gegen ein Europa der Abschottung, gegen den rassistischen Normalzustand!

Anonyme Zusendung

In Deutschland und Europa vollzog und vollzieht sich während der letzten Jahre bis heute ein politischer Wandel. Extrem rechte Positionen sind in den letzten Jahren zunehmend stärker im öffentlichen Diskurs verankert worden, die gesellschaftliche Mitte hat sich bezüglich dieser Positionen zunehmend stärker enthemmt. Das hat auch institutionellen Niederschlag gefunden: Ultrarechte Parteien konnten beinahe überall in Europa Stimmen gewinnen und in die Parlamente einziehen, aber auch etablierte, gemäßigte Parteien und ihre Anhänger*innen haben sich zunehmend radikalisiert. Viele europäische Staaten befinden sich mitten in einem autoritären Umbau. Sie sind geprägt von innerer Aufrüstung, die sich beispielsweise in Deutschland durch eine Militarisierung der Polizei, eine Erweiterung polizeilicher Befugnisse um geheimdienstliche Tätigkeiten, einen Ausbau der Überwachung und Kontrollen, sowie verschärfte Strafgesetze offenbart. Zugleich schottet sich die EU nach außen ab, intensiviert den Schutz der EU-Außengrenzen und greift dabei zu drastischen Maßnahmen, die das Leben von Menschen gefährden.

Die Abschottungspolitik Deutschlands und der EU

Ertrinkende im Mittelmeer

Erinnerst du dich noch daran, als Anfang 2016 die damalige AfD-Chefin Frauke Petry den Einsatz von Schusswaffen gegen flüchtende Menschen forderte? Heute, rund 2,5 Jahre später ist Petrys damalige Provokation längst in der deutschen und europäischen Politik angekommen. Während in Deutschland eine „ergebnisoffene“ und menschenverachtende Debatte darüber geführt wird, ob es moralisch legitim ist, Flüchtende im Mittelmeer ertrinken zu lassen, ist letzteres bereits grausame Realität. Die Schiffe zahlreicher privater Seenotrettungsorganisationen werden derzeit in europäischen Häfen am Auslaufen gehindert und die, die sich noch auf offener See befinden, werden mit Flüchtenden an Board daran gehindert, europäische Häfen anzulaufen. Gegen zahlreicher Helfer*innen auf dem Mittelmeer werden Verfahren eröffnet. Sie werden wegen Schlepperei und Ähnlichem angeklagt und sollen damit wohl abgeschreckt werden. Unterdessen ist die Zahl der im Mittelmeer ertrunkenen Menschen im Juni und Juli 2018, nachdem sich die Lage derart drastisch zugespitzt hat, dramatisch gestiegen: 629 Menschen sind alleine im Juni 2018 im Mittelmeer ertrunken. Im April und Mai 2018 waren es 109, bzw. 48 Menschen, im Januar, Februar und März 2018 waren es 234, 196 und 67 Menschen. ((Quelle: International Organization for Migration: Mixed Migration Flows in the Mediterranean vom Juni 2018, S. 47)) Das bedeutet im Juni 2018 sind mehr Menschen im Mittelmeer ertrunken, als in den fünf Monaten zuvor zusammen! Indem die EU-Länder die Schiffe der privaten Rettungsorganisationen daran hindern, auszulaufen wird der Tod dieser Menschen nicht nur in Kauf genommen. Um es juristisch nach den eigenen Gesetzen dieser Länder auszudrücken: Hier geht es um unterlassene Hilfeleistung!

Statt sich also wie von Petry 2016 vorgeschlagen der Schusswaffe zu bedienen, um unerwünschte Menschen aus Deutschland und Europa fernzuhalten, haben die EU-Staaten eine subtilere Methode gefunden. Das Resultat ist jedoch das gleiche: Massenhaft sterben Menschen im Mittelmeer, in Lagern für Flüchtende, an Hunger und in den Krisengebieten, aus denen viele zu fliehen versuchen, weil sich Europa abschottet, wohl wissend, dass das tausenden Menschen den Tod bringt.

Isolierung und Festhalten von Flüchtenden und Geflüchteten in Lagern

Natürlich ist das Sterben auf dem Mittelmeer nicht die einzige Folge deutscher und europäischer Abschottungspolitik. Innerhalb und außerhalb der EU-Grenzen werden flüchtende Menschen in Lagern festgehalten, in denen menschen- und allgemein lebensfeindliche Zustände herrschen. Prominentes Beispiel für solche Lager ist Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Die Zustände dort sind mehr als prekär: Mehrere tausend Menschen, denen die Flucht in die EU gelungen ist, werden dort festgehalten, mit dem Ziel sie zu registrieren und dann zurück in die Türkei abzuschieben. Die Menschen müssen dort in Zelten leben – auch im Winter –, sie bekommen nicht genug zu Essen, die medizinische Versorgung ist katastrophal und sanitäre Einrichtungen, sowie der Zugang zu Wasser ist sind mehr als ungenügend. Kinder haben dort keinelei Zugang zu Bildungsangeboten und die in Moria festgehaltenen Menschen werden durch Stacheldrahtzäune von der dortigen Gesellschaft getrennt gehalten.

Das Lager Moria ist aber nur ein Beispiel. Mehrere solcher Lager außerhalb der EU-Grenzen sollen verhindern, dass flüchtende Menschen die EU überhaupt erreichen. So werden die Menschen förmlich dazu gezwungen, die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer anzutreten.

Und auch weit innerhalb der EU-Grenzen, beispielsweise in Deutschland, existieren hunderte, wenn nicht tausende Lager in denen Geflüchtete abseits der Mehrheitsgesellschaft und in vielen Fällen ebenfalls (optisch) durch Zäune und Stacheldraht von ihr getrennt gesammelt untergebracht werden. Ziel solcher Lager, das zeigen beispielsweise die sogenannten AnkERZentren (das steht für „Zentrum für Ankunft, Entscheidung, Rückführung“) ganz offen in der Namensgebung, ist es, Geflüchtete unter Kontrolle zu behalten, sodass diese möglichst einfach wieder zurück in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden können.

Abschiebungen von Geflüchteten

Auch Abschiebungen gehören zur Abschottungspolitik der EU und Deutschlands: Die verhältnismäßig wenigen Menschen, denen es trotz aller Hindernisse gelungen ist, die EU und Deutschland zu erreichen, müssen den jeweiligen Behörden beweisen, dass sie einen „hinreichenden“ Grund für ihre Flucht haben. Was dabei als „hinreichend“ gilt ist nicht nur von Land zu Land, sondern auch von Behörde zu Behörde, ja sogar von Sachbearbeiter*in zu Sachbarbeiter*in verschieden. Mit anderen Worten: Es sind völlig willkürliche Kriterien, nach denen entschieden wird, wer bleiben darf und wer nicht. Ziel der Politik ist jedenfalls, so wenige Menschen wie möglich hierzubehalten.

Wird der Antrag auf Asyl einer geflüchteten Person abgelehnt und diese weigert sich trotzdem das Land zu verlassen, kann es passieren, dass diese Person brutal abgeschoben wird. Teilweise passiert es auch, dass Menschen abgeschoben werden ohne dass über deren Asylgesuch entschieden wurde oder auch, dass einer Person die Ablehnung des Asylgesuchs mit der Abschiebung mitgeteilt wird. So wird den Menschen vielfach die Möglichkeit genommen, sich juristisch gegen die Ablehnung ihres Asylgesuchs zu wehren.

Gegen ihren Willen werden die Menschen bei einer Abschiebung in ihre (vermeintlichen) Herkunftsländer zurückgebracht, beispielsweise in eigens dafür gecharterten Flugzeugen. Zum Teil werden diese Menschen Tage zuvor festgenommen und müssen in Gefängnissen auf ihre Abschiebung warten.

Natürlich ist jede Abschiebung ein untragbarer Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen! Teilweise gehen die Behörden der EU-Staaten, darunter auch deutsche Behörden aber sogar soweit, Menschen in Kriegsgebiete (beispielsweise nach Afghanistan) abzuschieben. In die gleichen Gebiete, in denen es etwa deutschen Polizist*innen nicht zuzumuten sei, sich längere Zeit aufzuhalten, weil das lebensgefährlich sein kann. Das ist eine besonders menschenverachtende Praktik!

Rassismus und Ausgrenzung auf dem Vormarsch in Deutschland und Europa

Die Abschottung Europas findet vor dem Hintergrund einer zunehmenden Verschiebung des europäischen politischen Koordinatensystems nach rechts statt. In beinahe allen EU-Staaten haben sich rechte Positionen innerhalb der letzten Jahre im öffentlichen Diskurs verankert und dabei ultrarechte Parteien in die Parlamente befördert, während das gesamte etablierte Parteienspektrum ebenfalls nach rechts gerückt ist. In Deutschland beispielsweise ist es der AfD gelungen, in die Parlamente einzuziehen, während CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne und Linke zunehmend rassistischere Positionen vertreten und auch entsprechende Gesetze auf den Weg bringen. Der längst begonnene autoritäre Umbau des deutschen Staates wird von allen Parteien mit Regierungsverantwortung, meist von CDU/CSU und der SPD, aber auch von den Grünen und der Linken vorangetrieben.

Ähnlich sieht es auch in anderen Staaten der EU aus, teilweise ist die Entwicklung dort sogar weiter fortgeschritten: In Österreich ist es der FPÖ gelungen, eine Regierungsbeteiligung zu erringen, in Frankreich scheiterte die Front National zwar bei den Präsidentschaftswahlen, doch der amtierende Präsident Macron treibt den autoritären Umbau des Staates weiter voran. In Polen regiert die rassistische PiS-Partei seit 2015 alleine und in Italien ist es einem seltsamen Bündnis aus der rechtspopulistischen Lega und der linkspopulistischen Fünf-Sterne-Bewegung gelungen, eine Regierung zu bilden. In Ungarn regiert die rechtspopulistische Partei Fidesz seit 2010 und hat eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament inne. In Spanien ist die rechtskonservative Partei Partido Popular derzeit stärkste parlamentarische Kraft.

Hauptagitationsfeld beinahe aller dieser Parteien sind rassistische Positionen und andere gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Egal ob es um die angebliche „Islamisierung“ der EU geht, bei der antimuslimischer Rassismus gegen Geflüchtete agitieren soll, um antiziganistische oder antisemitische Positionen, die oft dazu dienen, Stimmung gegen Minderheiten der Bevölkerung eines Landes zu erzeugen, die Strategie der rechten Parteien geht wohl deshalb so gut auf, weil entsprechende Ressentiments und Rassismus tief in den jeweiligen Gesellschaften verwurzelt sind.

Schon deshalb kann es nicht ausreichen, die moralische Verwerflichkeit der von den Parteien vorgeschlagenen Maßnahmen zu kritisieren, um ihre Positionen zu delegitimieren. Solange der Rassismus in der Gesellschaft verwurzelt ist, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er in eliminatorische Formen umschlägt. Es ist notwendig, radikale Rassismuskritik zu üben und die Menschen dazu zu bringen, sich mit dem eigenen Rassismus auseinanderzusetzen, diesen zu hinterfragen und so nach und nach abzubauen.

Doch von einer solchen Rassismuskritik sind wir in Deutschland und Europa weit entfernt. Selbst weite Teile einer „radikalen Linken“ akzeptieren nicht, dass sie sich zuweilen rassistisch verhalten, geschweige denn die Mehrheitsgesellschaft. So werden rassistische Haltungen absichtlich nicht reflektiert und bestehen so weiter fort. Die Gesellschaft bleibt damit empfänglich für rechtspopulistische bis extrem rechte Positionen.

Handlungsmöglichkeiten

Antirassistischer, Antifaschistischer und Antiautoritärer Widerstand hat in den letzten Jahren viel Boden verloren. Weder ist es gelungen, die Erstarkung extrem rechter politischer Akteur*innen (etwa der AfD in Deutschland) zu verhindern, noch waren Proteste gegen autoritäre Gesetze und die rassitische Politik der Abschottung Europas besonders erfolgreich. Viele antifaschistische und antirassistische Strukturen stehen heute geschwächt da. In den letzten Monaten jedoch lässt sich ein kleiner Aufschwung beobachten: Die Proteste gegen die neuen Polizeiaufgabengesetze der Länder in Deutschland mobilisieren zahlreiche Menschen und angesichts der Festsetzung ziviler Seenotrettungsorganisationen in den EU-Häfen scheint sich gerade eine deutschland- und europaweite Massenbewegung gegen die Abschottungspolitik der EU zu etablieren.

Natürlich sind die Positionen der beteiligten Organisationen und Einzelpersonen an diesen Protesten im Allgemeinen nicht radikal und weitgehend genug. So wird zwar häufig ein Ende der Abschiebungen nach Afghanistan und in andere Kriegsgebiete gefordert, nicht aber ein sofortiger Stopp aller Abschiebungen. Der Rassismus der deutschen Gesellschaft wird nur selten und wenn doch dann nur unzureichend kritisiert und eine Abschaffung aller Lager, Grenzkontollen, Zuwanderungsbeschränkungen, usw. spielt nur innerhalb der radikalen Linken eine Rolle. Das ist kein Wunder, schließlich ist ein Großteil der Menschen, die an diesen Demonstrationen teilnehmen auf die ein oder andere Weise im klassischen Parteienspektrum verankert, das viele der Misstände überhaupt erst hervorgebracht hat.

Trotzdem sind gerade die Massenproteste ein geeigneter Ort um die eigenen, radikalen Positionen sichtbar zu machen und die Proteste entsprechend zu prägen. Dabei geht es nicht darum, Kompromisse einzugehen, sondern darum, auch in den gemäßigten „linken“ Diskurs zu intervenieren und dort antirassistische, antiautoritäre und antifaschistische Positionen sichtbar zu machen. Möglicherweise gelingt es auf diesem Weg, radikale Strukturen wieder nachhaltig zu stärken.

Deshalb wollen wir anregen, sich bei den derzeit anstehenden Massenprotesten, etwa den deutschland- und europaweiten Protesten gegen die Festsetzung ziviler Rettungsorganisationen in EU-Häfen unter dem Namen „Seebrücke“, zu beteiligen und diese um linksradikale Positionen zu erweitern. Wir glauben, dass eine solche Intervention in den Diskurs der gemäßigten „Linken“ dringend nötig ist, um möglicherweise eine der letzten Chancen wahrzunehmen, den rassistischen Konsens in Deutschland und Europa wirksam anzugreifen. Egal ob ihr einen antifaschistischen Block auf einer Großdemonstration organisiert, oder durch direkte Aktionen auf eure Positionen aufmerksam macht, wichtig ist, dass radikale Positionen gegen die rassistischen Zustände in Europa und die Politik der Abschottung endlich eine breite Zustimmung finden!

Über kommende Aufstände Teil 2

Von Anna Kistin

Dieser Artikel ist der zweite Teil meiner Artikelreihe mit dem Titel „Über kommende Aufstände“. Der erste Teil ist in Ausgabe 1 (Winter 2017/Frühjahr 2018) der Lifestyleanarchist*in erschienen (S. 19 bis 21).

„Letzte Nacht haben sie schon wieder ein Auto angezündet. Ganz in der Nähe.“ So oder so ähnlich könnte eine Unterhaltung am Küchentisch in einem beliebigen Münchner Haushalt beginnen. Je nachdem wer am Küchentisch sitzt, könnte die Stimme von Angst, Wut oder Begeisterung erfüllt sein, sie könnte das Gesagte aber auch völlig gleichgültig vortragen. Mindestens ebenso unterschiedlich könnte auch die Antwort ausfallen, wiederum abhängig davon, was der*die Sprecher*in davon hält, wenn Autos des Nachts in Flammen aufgehen. Die Reaktionen in der Presse dagegen sind eigentlich immer die Gleichen, nur der Nachdruck mit dem der*die Autor*in ihre Position vorträgt variiert von Mal zu Mal: Während die Meldungen über einen abgefackelten Bagger und ein paar in Flammen aufgegangene Kraftfahrzeuge der Immobilienbranche Anfang des Jahres für Schlagzeilen gesorgt haben, blieben viele darauffolgende Aktionen, die ebenfalls angesteckte und ausgebrannte Autos zur Folge hatten nur eine Randnotiz in den Medien. Der Ton der Nachrichten bleibt jedoch immer der Gleiche: Die abgefackelten Fahrzeuge werden als Zeugnisse einer Gewalttat gesehen, die Taten selbst werden entpolitisiert – zugegeben: politische Stellungnahmen hat es eigentlich zu keiner der Taten gegeben – und die Täter*innen als „Chaoten“, „Vandalen“ oder „irre Brandstifter“ abgestempelt.

Aber auch wenn die mediale Berichterstattung über militanten politischen Protest selbst ein interessantes Untersuchungsobjekt abgibt, will ich es bei diesen Impressionen belassen. Sie zeigen – und darum geht es mir –, dass eine explizite Auseinandersetzung mit (möglichen) politischen Hintergründen im Falle der derzeit anhaltenden Serie von Autobränden (durchschnittlich ein Auto pro Monat) ausbleibt, obwohl die Brände selbst durchaus als (links-)politisch motiviert wahrgenommen werden.

Ohne die konkreten Hintergründe der einzelnen Autobrände zu kennen will ich in diesem Artikel annehmen, dass die Autobrandserie bewusst und mit politischer Intention von einzelnen Personen oder Grupen von Personen, womöglich auch unabhängig voneinander, aber durchaus mit Bezug auf vorangegangene Brände, verübt wurde und wird. Weiter nehme ich an, dass es sich bei der Serie hauptsächlich um antikapitalistischen und herrschaftskritischen Protest gegen Gentrifizierung handelt. Dafür gibt es viele Anzeichen, beispielsweise sind vor allem Fahrzeuge betroffen, die entweder direkt auf Baustellen eingesetzt werden oder die Aufschriften von Bau- und Immobilienunternehmen tragen, auch wenn dies von der Presse zunehmend mehr verschwiegen wird. Zusätzlich gehen immer wieder Fahrzeuge von Sicherheitsunternehmen und Unternehmen die eng mit repressiven Organen des Staates zusammenarbeiten in Flammen auf.

Ich möchte die Brandserie selbst ebensowenig wie die Einzelfälle mit diesen Annahmen politisch für meine Ziele vereinnahmen. Mir geht es auch nicht darum, eine Bewertung der Brandserie und ihrer Einzelfälle vorzunehmen, sondern ich möchte mich auf die Fragen beschränken, die sich um eine generelle Eignung einer solchen Brandserie als aufständisches Mittel gegen Gentrifizierung und dadurch entstandene Herrschaftsverhältnisse drehen.

Unmittelbare Auswirkungen

Die direkten Auswirkungen eines brennenden Autos sind mehr oder weniger klar: Das Auto brennt entweder komplett aus oder der Brand wird zuvor gelöscht. Je nachdem an welcher Stelle der Brand gelegt wurde ist zumindest ein sogenannter „wirtschaftlicher Totalschaden“ beinahe sicher: Wurde der Brand an einem der Vorderreifen gelegt, ist es sehr wahrscheinleich, dass Teile des Motors zerstört werden. Wurde der Brand im Motorraum gelegt ist der Motor mit großer Wahrscheinlichkeit zerstört. Nur wenn der Brand – aus welchen Gründen auch immer – im Heckbereich des Fahrzeuges gelegt wurde oder sofort entdeckt wird, kann in der Regel ein größerer Schaden verhindert werden.

Auch die direkten finanziellen Folgen eines Brandschadens sind mehr oder weniger klar: Für das entsprechende Fahrzeug muss Ersatz beschafft werden. Das sind zum Teil nicht unerhebliche Kosten, selbst für größere Firmen nicht: Ein PKW kostet je nach Modell und Alter im Schnitt zwischen 10.000 und 50.000 Euro in der Neubeschaffung, Baufahrzeuge wie beispielsweise ein Bagger können gar mehrere hunderttausende Euro kosten. Das sind relevante finanzielle Schäden für die entweder das Unternehmen selbst oder eine Versicherung aufkommen muss.

Aber was bedeutet es für ein Unternehmen, finanzielle Aufwendungen wegen eines Fahrzeugbrandes zu haben und inwiefern ändert das das Verhalten des Unternehmens? Diese Frage lässt sich pauschalisiert kaum beantworten. Auch wird selten der Versuch unternommen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Das ist bedauerlich, schließlich ist diese Frage durchaus von einiger Bedeutung für das politische Potenzial der Aktionsform. Tendenziell werden vermehrte Fahrzeugbrände oder auch besonders spektakuläre Einzelfälle eines Fahrzeugbrands bei einem Unternehmen vor allem zu einer sicherheitstechnischen Aufrüstung führen: Sicherungsmaßnahmen des Fuhrparks durch Videoüberwachung, Alarmanlagen, Anweisungen Fahrzeuge nur an entsprechend überwachten Orten abzustellen, sowie die Bewachung durch Sicherheitsdienste. Langfristig werden natürlich auch die mit einem bestimmten Auftrag verbundenen Risiken ermittelt und berücksichtigt werden. Insgesamt wird sich das jedoch meist in einer Preissteigerung des Angebots, nicht in der Ablehnung eines Auftrags niederschlagen. In Einzelfällen – und vor allem bei kleineren Unternehmen – können wiederholte Fahrzeugbrände mit hohen Sachschäden sicher auch zur Insolvenz des Unternehmens führen. Gerade bei größeren Unternehmen dürfte das jedoch äußerst unwahrscheinlich sein.

Halten wir also fest: Zwar erzeugen Fahrzeugbrände mitunter großen Sachschaden bei den jeweiligen Eigentümer*innen, neben zumeist kompensierbaren finanziellen Verlusten jedoch haben diese Brände kaum unmittelbare Auswirkungen auf die Politik der Unternehmen.

Mittelbare Auswirkungen

auf eine Branche Während einzelne Unternehmen die bereits erfolgreich in der Immobilienbranche tätig sind, sich nur schwer davon abschrecken lassen dürften, auf ihrem Geschäftsfeld weiter tätig zu sein, können Brandanschläge auf Fahrzeuge von Unternehmen der Immobilienbranche oder auch Farbanschläge auf deren Büros, usw., die Branche selbst durchaus beeinträchtigen, zumindest wenn sie in der Öffentlichkeit oder relevanten Teilen davon wahrgenommen werden: Auch wenn die meisten Unternehmen an den gegen sie gerichteten Aktionen nicht zugrunde gehen, bedeuten diese dennoch relevante Gewinneinbußen für die Unternehmen selbst oder deren Auftraggeber*innen. Diese entstehen durch die finanziellen Schäden selbst, aus resultierenden Verzögerungen eines Auftrags oder auch nur der difusen Angst der Investor*innen vor finanziellen Einbußen. Letztere ist es vor allem, die wohl die größten Auswirkungen auf die Branche hat: Ohne Investor*innen sind nämlich die meisten Bauprojekte kaum möglich. Sollte sich also herumsprechen, dass Gentrifizierungsgegner*innen mit gezielten Aktionen gegen Immobilienspekulationen vorgehen, macht es diese weniger lukrativ. Das bedeutet die Branche verliert mittelfristig an Bedeutung.

Fragen zur Zielsetzung und deren Erreichbarkeit

Das bringt uns jedoch bereits zu einem großen Problem der Aktionsform: Die Abhängigkeit von der Presse: Werden die Aktionen nicht wahrgenommen oder entpolitisiert, wie das zumeist der Fall ist, bleiben sie weitestgehend wirkungslos: Sicher mindern sie die Gewinnspanne einiger Unternehmen, aber nicht in dem Ausmaß, dass die Lukrativität der Branche gefährdet wird. Aus politischer Sicht macht das kaum Sinn, vielmehr müsste mensch bei den Aktionen dann von einer Art Rachemotiv sprechen. Aber Rache wofür? Dafür, dass eine andere Person im kapitalistischen System besser dasteht, als mensch selbst? Der strukturelle Antisemitismus lässt grüßen! Mit radikalem, herrschaftskritischen Aktionismus hätte das also wenig zu tun.

Doch geht es nicht um mehr? Geht es nicht auch darum, Widerstand sichtbar zu machen? Darum, die eigene Ohnmacht zu durchbrechen, individuelle Freiheit zu erlangen? Vielleicht. Aber wo wird Widerstand sichtbar gemacht? Letztlich bleibt es ein kleiner Kreis von Menschen, der die Aktionen und die dahinter stehenden Beweggründe nachvollziehen kann. Und was die individuelle Freiheit angeht: Ist es nicht ein reaktionäres Feindbild, dass da in den Köpfen derer herumspukt, die glauben ihre individuelle Freiheit gegen einige Unternehmen, deren Handlungen sie für besonders unethisch halten, verteidigen zu müssen? Ist das nicht überhaupt nur eine Projektion gesellschaftlicher Zwänge auf Individuen oder wie in diesem Fall einzelne Institutionen?

Ich glaube all diese Fragen lassen sich nicht isoliert von der Frage nach dem absehbaren Erfolg einer Aktion und damit ihrem politischen Nutzen beantworten: Unser Ziel ist es, die bestehende Gesellschaft in eine freie Gesellschaft ohne Herrschaft zu verwandeln. Dabei ist es wichtig, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nachhaltig abzuschaffen, statt sie zunächst in eine andere Form zu überführen mit dem Versprechen sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie nicht mehr notwendig seien, abzuschaffen. Klar ist, dass die Abschaffung von Herrschaft nicht ohne Gegenwehr über die Bühne gehen wird. Bestehende Herrschaftsverhältnisse werden mit Gewalt aufrechterhalten werden. Gewalt kann dabei jedoch auch das Mittel sein, Herrschaftsverhältnisse zu durchbrechen.

Ein Auto anzuzünden ist letzten Endes Gewalt. Ebenso wie auch die kapitalistischen Verhältnisse für diejenigen, die durch sie hungern, verdrängt werden oder gar sterben, Gewalt sind. Die Verdrängung von Menschen im Zuge der Gentrifizierung eines Viertels ist Herrschaft, aber wenn aus Protest gegen diese Herrschaft ein Auto angezündet wird, bedeutet das nicht, dass das automatisch Gewalt zur Durchbrechung dieser Herrschaftsverhältnisse ist. Wenn ein angezündetes Auto jedoch nicht der Durchbrechung von Herrschaftsverhältnissen dient, ist es nichts anderes als eine andere Form der Herrschaft. Damit erübrigen sich dann auch alle Fragen nach individueller Befreiung: Individuelle Befreiung durch Herrschaft gegenüber anderen? Klingt komisch, oder?

 

Es ist also wichtig, dass brennende Autos auch dazu beitragen, die damit kritisierten Zustände tatsächlich zu ändern. Das ist derzeit nicht absehbar. Insgesamt sind es zu wenige Fälle die zugleich kaum Beachtung in der Öffentlichkeit finden, also kaum geeignet sind, einen kollektiven und damit wirksamen Protest gegen Gentrifizierung anzustoßen. Gleichzeitig ist der durch die Brände generierte Schaden nicht groß genug, um potenzielle Investor*innen davon abzubringen, in Bauprojekte zu investieren.

Dabei wären die Voraussetzungen der Protestform gar nicht so schlecht, um tatsächlich eine Änderung der Verhältnisse zu erzwingen: Beinahe Jede*r ist potenziell in der Lage dazu ein Auto anzuzünden (auch spurenfrei). Der Schaden, der mit einer einzigen Aktion erzielt wird, ist relativ groß. Schon verhältnismäßig wenige Aktionen – mehr jedoch als momentan – könnten ausreichen, um finanziell relevante Einbußen zu generieren.

Was also müsste passieren? Entweder müsste die Aktionsform „Autos anzünden“ bei mehr Menschen Anklang finden und von ihnen auch praktiziert werden: Dann wäre möglicherweise der finanzielle Schaden, der den kapitalistischen Akteur*innen dadurch entsteht, von realer Bedeutung. Das würde betreffende Branchen deutlich weniger lukrativ machen. Mithilfe von Gewalt (dem Anzünden von Autos) wäre dann also eine andere, strukturelle Gewalt, nämlich die Ver-drängung von Menschen zumindest verringert worden und mensch könnte von einer gegen Herrschaft gerichteten Gewalt sprechen.

Eine andere Alternative, die möglicherweise auch ganz nebenbei die Beliebtheit der Aktionsform „Auto anzünden“ steigern könnte, wäre eine Erklärung der Aktionen gegenüber der Öffentlichkeit. Viele Aktionen werden gegenüber der Öffentlichkeit mit einem Bekenner*innenschreiben erläutert, in dem die Gründe für die Aktion dargelegt werden. Im Falle von Straftaten, die einen hohen Ermittlungsdruck erwarten lassen und die zugleich mit sehr hohen Haftstrafen bedroht sind ist das jedoch ein Problem: Aus Bekenner*innenschreiben können ungewollt Hinweise auf den*die Verfasser*in hervorgehen. Damit ist das Risiko, dem mensch sich dabei aussetzt deutlich höher, als wenn mensch seine*ihre Aktionen nicht erklärt. Doch es gibt Alternativen: Im Grunde kann jede*r mögliche Hintergründe eines Brandanschlags erläutern – auch ohne eine bestimmte Aktion politisch für sich zu vereinnahmen. Vielleicht wäre das ein Weg, um die Aktionsform des „Auto anzündens“ vermittelbar zu machen.

Repressionswelle anlässlich einer Serie von Scheinbesetzungen

Von Kritische Prozessbegleitung München

Die Repressionswelle gegen zwei Personen, denen vorgeworfen wird, im Zeitraum von Juli bis Dezember 2017 insgesamt sieben Hausfriedensbrüche unter dem Label “Für Lau Haus” begangen zu haben, geht in die nächste Runde: Durch das Amtsgericht München wurde am 26. April 2018 die Entnahme von DNA-Material bei den beiden Beschuldigten angeordnet. Eine darauf folgende molekulargenetische Untersuchung soll klären, ob es Übereinstimmungen mit im Rahmen der Stürmung von scheinbesetzten Häusern durch Bullen sichergestellten DNA-Spuren gibt.

Einer der beschuldigten Personen wurde bereits Mitte Juni von Beamt*innen des Staatsschutzes DNA-Material entnommen, die andere Person konnte bislang von der Polizei nicht angetroffen werden. Sie wurde für den 10. Juli 2018 zur Entnahme einer DNA-Probe auf das Polizeipräsidium München vorgeladen.

Eine Welle der Repression

Hausdurchsuchung(en) am 31. August 2017

Die Repression begann Ende August 2017: Damals ordnete das Amtsgericht München Hausdurchsuchungen gegen die beiden Beschuldigten an, die einen Tag darauf, am 31.08.2017 von Staatsschutz-Bullen und USKlern vollstreckt wurde. Allerdings hatten die Bullen dabei nur teilweise Erfolg: Bei einem der Beschuldigten standen sie nämlich vor der falschen Tür. Das bemerkten sie jedoch ganz offensichtlich erst, nachdem sie die Tür bereits aufgebrochen hatten und feststellen mussten, dass der Beschuldigte nicht mehr in dieser Wohnung wohnte. Sie verursachten dabei einen Schaden in Höhe von über 400 Euro, den sie dem Beschuldigten nun in Rechnung stellen wollen, wie sie Anfang April 2018 ihm gegenüber mitteilten.

Bei dem anderen Beschuldigten dagegen hatten die Bullen Erfolg: Sie drangen gewaltsam in die Wohnräume des Beschuldigten, sowie die Gemeinschaftsräume und die Privaträume seiner Mitbewohner*innen ein. Dabei beschlagnahmten sie nicht nur den Rechner und diverse Mobilfunkgeräte des Beschuldigten, sondern unter anderem auch einen Stapel Bettlaken. Zurück ließen die Bullen Chaos und mutwillig verursachte Schäden. ((siehe auch http://www.beobachternews.de/2017/09/02/chaos-nach-hausdurchsuchung/))

Anlass für die damaligen Hausdurchsuchungen waren bei einer Personenkontrolle am 26. August 2017 beschlagnahmten Transparente, die im Besitz eines der Beschuldigten gefunden worden waren. Auf ihnen wurde Solidarität mit dem “Für Lau Haus” ausgedrückt. Unter dem Namen “Für Lau Haus” hatte es rund einen Monat zuvor, am 22. Juli 2017, eine Hausbesetzung des sogenannten Schnitzelhauses im Münchner Westend gegeben, ((siehe auch http://fuerlauhaus.blogsport.eu/2017/07/22/aktionserklaerung-zur-besetzung-des-schnitzelhauses-im-muenchner-westend-am-22-07-2017/)) die für einige öffentliche Aufmerksam gesorgt hatte. Der Fund von Transparenten, auf denen Solidarität mit dem Für Lau Haus erklärt wurde, hatte für Polizei und Justiz offenbar ausgereicht, um einen so schwerwiegenden Eingriff in die Intimsphäre der Beschuldigten wie den einer Hausdurchsuchung zu rechtfertigen. Doch das war erst der Anfang einer ganzen Serie von Repressionsmaßnahmen, die die beiden Beschuldigten seither über sich haben ergehen lassen müssen.

Hausdurchsuchungen am 28. September 2017

Rund einen Monat später, am 28.09.2017, kam es erneut zu Hausdurchsuchungen bei den beiden Beschuldigten. Diesmal hatten die Bullen ihre Hausaufgaben gemacht und standen auch bei der zweiten beschuldigten Person vor der richtigen Tür. Während der erste Hausdurchsuchungsbeschluss vom Gericht noch mit dem Polizeiaufgabengesetz gerechtfertigt worden war, also der Abwehr einer drohenden Gefahr dienen sollte, wurden die beiden Beschuldigten dieses Mal verdächtigt, insgesamt fünf Hausfriedensbrüche begangen zu haben. Brisant dabei ist jedoch, dass nur für einen einzigen dieser Hausfriedensbrüche zu diesem Zeitpunkt ein Strafantrag gestellt wurde. Zu den übrigen vier Hausfriedensbrüchen war nur lapidar vermerkt, “Strafanträge der jeweiligen Strafantragsberechtigten” würden eingeholt. Tatsächlich handelt es sich bei einem Hausfriedensbruch um ein sogenanntes Antragsdelikt, das nur auf Antrag verfolgt wird. Dem*der zuständigen Richter*in Kugler am Amtsgericht schien es darauf jedoch nicht anzukommen. Durchgeführt wurden die Hausdurchsuchungen beide in Abwesenheit der Beschuldigten. Bei einem der Beschuldigten brachen die Bullen dabei sogar die Wohnungstür auf, obwohl ein Mitbewohner des Beschuldigten anwesend war und die Tür hätte öffnen können. Auf eine schriftliche Beschwerde des Beschuldigten darüber antwortete Oberstaatsanwältin Tilmann darauf nur: “Ein schlagartiges gewaltsames Eindringen in Ihre Wohnung […] war unvermeidbar und verhältnismäßig, um eine Beweisvernichtung insbesondere in Bezug auf vorhandene EDV zu vermeiden. Wer und wie viele Personen sich zum Zeitpunkt der Wohnungsöffnung in der Wohnung befanden, war vor der Öffnung der Wohnung nicht bekannt und nicht erkennbar”. Die Bullen hatten also allem Anschein nach nicht einmal geklingelt.

Wie auch bei der ersten Hausdurchsuchung wurden durch die Polizei Rechner und Mobilfunkgeräte bei beiden Beschuldigten beschlagnahmt. In der Wohnung des Beschuldigten, den die Bullen bei der ersten Hausdurchsuchung nicht angetroffen hatten, entleerten die Bullen verschiedene Müllbehältnisse und verteilten den Müll auf dem gesamten Fußboden. Ganz offenbar eine gezielte Schikane. Deshalb packte der betroffene Beschuldigte den Müll kurzerhand in ein Paket und übersandte ihn den zuständigen Staatsschutzbullen Meyer und Knigge zusammen mit der Aufforderung, ihn nach Wertstoffen getrennt zu entsorgen.

Observationen und Telekommunikationsüberwachungen Ende September/Anfang Oktober

Was beide Beschuldigte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnten: Die Hausdurchsuchung bei ihnen war damals nur eine von mehreren gegen sie und ihr Umfeld gerichteten Maßnahmen, von denen sie erst ein halbes Jahr später erfahren würden: Zu diesem Zeitpunkt wurden sowohl die beiden Beschuldigten, als auch jeweils mindestens eine*r ihrer Mitbewohner*innen observiert und ihre Telekommunikation abgehört. ((siehe auch https://kritischeprozessbegleitungmuc.blackblogs.org/repressionsfaelle/observation-und-telekommunikationsueberwachung-mehrerer-personen-ende-septemberanfang-oktober-2017/)) Für derartige Maßnahmen reichte natürlich der Tatvorwurf des Hausfriedensbruchs, selbst der in mehreren Fällen, keineswegs aus. Deshalb konstruierten sich die Bullen einfach einen neuen Tatvorwurf: Im September 2017 waren im gesamten Münchner Stadtgebiet mehrere hundert Graffiti aufgetaucht. Außerdem hatte es einen Tag vor Beginn der Graffitiserie und offenbar zufällig im selben Stadtteil in dem die Graffitiserie begann, einen Brandanschlag auf ein Wohnmobil der Bayernpartei gegeben, bei dem dieses vollständig ausbrannte. Die beiden wegen Hausfriedensbrüchen Beschuldigten wurden nun kurzerhand auch beschuldigt, das Wohnmobil angezündet und die Graffitiserie begangen zu haben. Die Begründung für diesen Verdacht: Bei der ersten Hausdurchsuchung bei einem der Beschuldigten war der Staatsschutzbulle Unglaub beteiligt. Ein oder zwei der mehreren hundert Graffiti erwähnten auch den Namen Unglaub. Eines lautete etwa: “Denning grüßt das K43, Herr Unglaub”. Das Denkkonstrukt der Bullen war also: Als Rache für die Hausdurchsuchung hätten die Beschuldigten kurzerhand mehrere hundert Graffity im gesamten Münchner Stadtgebiet gesprüht. Unter anderem, um sich an KOK Unglaub zu rächen. Da die Graffiti-Serie gleichzeitig mit dem Brandanschlag auf das Wohnmobil der Bayernpartei begann, wurde auch hier ein Zusammenhang konstruiert.

Nachvollziehbar ist, dass Menschen sich für Repression rächen. Nicht nachvollziehbar ist, dass diese Rachebotschaften beliebig in der Stadt verteilt statt an Wohn- oder Arbeitsorten der Bullen angebracht werden und dabei mal eben noch ein Wohnmobil angesteckt wird.

Aber das Amtsgericht hielt die Konstruktion der Bullen offenbar für plausibel. Die Folge dieser abstrusen Denkkonstrukte: Observations- und Telekommunikationsmaßnahmen gegen die beiden Beschuldigten und ihr betroffenes Umfeld. Abgehört wurden mehrere Mobilfunkanschlüsse des einen Beschuldigten. Ironischerweise waren all diese Geräte bei den beiden Hausdurchsuchungen zuvor durch die Polizei beschlagnahmt worden. Außerdem wurde die E-Mail-Adresse dieses Beschuldigten und der Festnetzanschluss seines Mitbewohners überwacht. Über den zweiten Beschuldigten steht in den Akten, dass er “auf technische Kommunikationsmittel verzichten” würde, um einer Überwachung zu entgehen. Deshalb wurde das Mobiltelefon seiner Mitbewohnerin abgehört. Grund dafür war ein zuvor abgehörtes Gespräch zwischen seiner Mitbewohnerin und dem anderen Beschuldigten, in dessen Verlauf sie das Gespräch an ihn übergeben hatte. Dem Gericht genügte das als Beweis dafür, dass die Mitbewohnerin eine Mittelsperson sei und es ordnete die Überwachung ihres Mobiltelefons an.

Nach rund zwei Wochen wurden die Observations- und Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen jedoch eingestellt. Die Bullen hatten sich in der Zwischenzeit zwei andere Sündenböcke für die Graffitiserie gesucht und diese festgenommen. Einer der beiden sitzt bis heute in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess. ((siehe https://freemax.noblogs.org))

DNA-Entnahme, DNA-Entnahmeversuch und Vorladung zur DNA-Entnahme

Momentan versuchen die Bullen den nächsten Streich zu vollstrecken. Einer Anordnung des Amtsgerichts vom 26. April 2018 nachkommend haben einige Staatsschutzbullen, darunter abermals Unglaub, Knigge und Meyer am Freitag den 18. Juni eine DNA-Probe bei einem der Beschuldigten entnommen. Schon am Tag davor hatten sie versucht, bei dem anderen Beschuldigten eine DNA-Probe zu entnehmen, hatten diesen jedoch wieder einmal nicht angetroffen. Er wurde für den 10. Juli 2018 zur DNA-Entnahme vorgeladen. Dieser Vorladung kam der Beschuldigte jedoch nicht nach. Stattdessen äußerte er sich zu dem Fall öffentlich und erklärte dabei, dass er seine DNA niemals freiwillig abgeben werde. Bis heute ist es den Bullen nicht gelungen, seine DNA zu bekommen. ((Erklärung des Beschuldigten:  https://kritischeprozessbegleitungmuc.blackblogs.org/2018/07/10/erklaerung-von-alex-p-anlaesslich-seiner-verweigerung-einer-dna-probe/))

Abgeglichen werden soll die DNA der Beschuldigten mit insgesamt 26 Spuren. In dem Beschluss werden den Beschuldigten sieben tatmehrheitliche Fälle des Hausfriedensbruchs vorgeworfen. Für diese Fälle liegen mittlerweile tatsächlich auch Strafanträge vor. Allerdings sind insgesamt 11 der bezeichneten Spuren aus Gebäuden sichergestellt, für die kein Strafantrag vorliegt.

Wie könnt ihr helfen?

Repression kostet vor allem Geld. Einerseits wird es früher oder später zu einer Hauptverhandlung gegen die beiden Beschuldigten kommen. Womöglich werden die Beschuldigten dort zu einer Geldstrafe verurteilt, auf jeden Fall jedoch benötigen sie anwaltliche Hilfe, die Geld kostet. Andererseits kostet auch die anwaltliche Hilfe zur Verteidigung gegen willkürliche Gerichtsbeschlüsse, etwa die zu den Hausdurchsuchungen, die zur Observation oder die Beschlüsse zur DNA-Entnahme Geld. Die Rote Hilfe unterstützt politisch Verfolgte in solchen Fällen finanziell und mit anderen Angeboten. Egal ob es in diesem Fall also zu einem Prozess oder einer Verurteilung kommt oder nicht, eure Spenden sind dort sicher gut aufgehoben und kommen ansonsten einer Person in einer ähnlichen Lage zugute.

Deshalb spendet an die Rote Hilfe OG München und unterstützt damit den Kampf gegen jede Repression des Staates:

Rote Hilfe e.V. OG München
IBAN: DE61 4306 0967 4007 2383 06
BIC: GENODEM1GLS
GLS Bank

Aber Geld ist nicht alles. Die Betroffenen von Repression benötigen auch moralische Unterstützung. Zeigt ihnen, dass ihr sie unterstützt, zum Beispiel indem ihr Solidaritäts-Aktionen organisiert, vor allem aber indem ihr diejenigen, die im Gefängnis sitzen nicht vergesst und ihnen Briefe und Postkarten schreibt.

Brief aus dem Gefängnis

Von Max

Der folgende Brief wurde zuerst auf der Seite freemax.noblogs.org veröffentlicht.

Hi, an Alle die das lesen!

Vorab vielen Dank an alle, die mir geschrieben, an mich gedacht oder mich besucht haben. Ihr seid einer der Hauptgründe warum meine aktuelle Situation mich nicht verzweifeln lässt, sondern es mir den Umständen entsprechend gut geht. Es muntert einen sehr auf, wenn Post und Anteilnahme kommt.

Leider konnte ich viele Briefe und Karten nicht lesen oder beantworten, da über 100 Stück von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt wurden. Doch auch die Beschlagnahmungs-Mitteilung jedes einzelnen Briefes hat mich immer aufgemuntert, denn ich wusste, dass jemand an mich gedacht hatte. Darüber hinaus wurden auch viele meiner Briefe beschlagnahmt oder sind verschollen gegangen, die ich an Mitgefangene (in das Baskenland,in die Niederlande,an Kurd*innen) oder Bekannte geschrieben habe.

Vielleicht habt ihr schon durch Mundpropaganda erfahren wie mein Alltag im Knast aussieht. Trotzdem werde ich meinen Alltag für alle Anderen schildern (Achtung…ein bisschen trocken):

Um 6:00 Uhr wird die Zellenklappe aufgesperrt und man wird durch Rufe/Taschenlampe geweckt. Dienstags, Donnerstags und Samstag wird zwischen 8:30 und 8:40 Uhr die Zellen-Türe aufgesperrt und man hat 1,5 Stunden Zeit sich zu duschen und die Zelle zu putzen. Um 10:30 Uhr ist an der Zellentür Essensausgabe und anschließend wird die Zelle bis zum Hofgang (12:15-13:15 Uhr) verschlossen.

Nach dem Hofgang ist Einschluss bis zum Abendessen ( 14:00 Uhr/ Frühstück ist im Abendessen integriert). Danach ist wieder Einschluss bis zum nächsten Morgen.

Nur per Antrag kann man Mittwochs den Stationsarzt besuchen. Medikamente werden nicht ausgehändigt, sondern müssen im Büro der Station eingenommen werden. Auch bei Personen, die z.B drei mal täglich Medikamente zu sich nehmen müssen.

Montags und Mittwochs dürfen Personen ohne Trennungsbeschluss für eine Stunde zum Sport. Dienstags und Samstags ist Wäschetausch ( 10:00-10:30 Uhr/ genau abgezählt).

Aber jetzt genug von meinen aktuellen Lebensumständen, denn ich will in diesen Brief auch ein kleines Bisschen von den aufmunternden und solidarischen Worten zurück geben.

Ein guter Bekannter von mir sagte,dass nach den Wahlergebnissen der CSU bei der Bundestagswahl, das halbe Jahr vor der Bayrischen Landtagswahl richtig schlimm wird. Aber das was wir die letzten Wochen erlebt haben, übertrifft meine schlimmsten Erwartungen.

Eigentlich wäre es ziemlich lustig mit anzusehen, wie die CSU auf Grund schlechter Umfragewerte für die Landtagswahl, aus purer Angst hohl dreht und dabei sich selbst ins eigene Fleisch schneidet. Wenn sie aber dabei nicht nur die Stimmung gegen Geflüchtete anheizt und darüber hinaus zudem auch noch aktiv Menschenleben in Lybien, der Türkei, auf dem Balkan und im Mittelmeer gefährden würde.

Trotz oder gerade wegen dieser zum Haare raufenden Umstände hoffe ich, dass ihr nicht verzweifelt, sondern weiter macht!

Denn weder der NSU Komplex, rassistische Übergriffe noch hirnrissige Aktionen Aktionen der CSU ( PAG, Polizei Kavallerie, Ankerzentren usw.) und eine wachsende AfD dürfen unkommentiert und kritiklos stehen gelassen werden!

Wie heißt es noch so gleich in einem bekannten Song? „Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, sondern es wäre deine schuld, wenn sie so bleibt.“

Daher gebt die Hoffnung nicht auf, denn das was auf dem Spiel steht, ist unsere Zukunft!

Hoffende und solidarische Grüße aus dem Knast an Alle die das lesen!

-04.07.2018

Freiheit für alle Gefangenen!

anonyme Zusendung

Im Rahmen der globalen Aktionswoche in Solidarität mit anarchistischen Gefangenen haben wir heute in unmittelbarer Nähe des „Frauen“gefängnisses München sowie der JVA Stadelheim ein Transparent mit der Aufschrift „Freiheit für alle Gefangenen. Abolish Prisons. Free Max.“ aufgehängt.

Gefängnisse dienen dem Staat dazu, abweichendes Verhalten – auch als Verbrechen bezeichnet – zu bestrafen und zugleich ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Im Gegensatz zu dem gängigen Narrativ von Personen, vor denen die Gesellschaft geschützt werden müsse, findet mensch in Gefängnissen zur überwiegenden Mehrheit hauptsächlich Menschen, die dort aufgrund ihrer Armut, ihrer Hautfarbe oder ihrer politischen Einstellung sind. Viele Menschen befinden sich nur deshalb im Gefängnis, weil sie nicht in der Lage waren, eine Geldstrafe zu bezahlen. Oft handelt es sich dabei sogar um „Delikte“, die Armut bestrafen: Zahlreiche Menschen sitzen beispielsweise deswegen im Knast, weil sie sich kein Ticket für den öffentlichen Nahverkehr leisten konnten, jedoch gezwungen waren, diesen trotzdem zu nutzen. Zugleich ist auch zu beobachten, dass überdurchschnittlich viele Personen of Color und Angehörige von marginalisierten Minderheiten in den deutschen Gefängnissen anzutreffen sind. Das hat ganz offensichtlich rassistische Ursachen, zum Beispiel racial profiling bei der Polizei, sowie eine oft härter ausfallende Bestrafung vor Gericht und auch rassistische Gesetze, die Menschen wegen ihrer Herkunft, Staatsbürgerschaft oder Hautfarbe diskriminieren (Stichwort: Integrationsgesetze, sowie Asylgesetze). Auch Menschen, die das erhabene Selbstbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft stören, etwa Obdachlose finden sich häufig in Gefängnissen wieder. Gründe dafür konstruieren Bullen, die sie regelmäßig mit Kontrollen schikanieren am laufenden Band. In München beispielweise findet unter der zynischen Bezeichnung „Schwerpunktkontrollen am Hauptbahnhof“ eine regelrechte Vertreibung von Obdachlosen statt. Auf diese Weise konstruierte Ordnungswidrigkeiten wie das Nicht-Nachkommen eines Platzverweises oder eines Verstoßes gegen das Alkoholverbot am Hauptbahnhof können dabei schnell zu einer Ersatzfreiheitsstrafe führen.
Aber auch wenn mensch dem Narrativ folgt, dass Gefängnisse der Unterbindung von schädlichem Verhalten gegenüber Menschen dienen, muss mensch feststellen, dass Gefängnisse diesem Anspruch keineswegs gerecht werden. Gefängnisse sind keine Orte, an denen eine transformative Täter*innenarbeit möglich ist, sondern dienen lediglich der Bestrafung.
Wir lehnen Gefängnisse aus diesen Gründen ab! Gefängnisse dienen lediglich dazu, Menschen gefügig zu machen und Herrschaft über sie auszuüben.

Mit unserer Aktion wollen wir außerdem unsere Solidarität mit dem Gefangenen Max ausdrücken. Max ist ein politischer Gefangener, der derzeit seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt und auf seinen Prozess wartet. Die Bullen werfen Max vor, mehrere hundert Graffiti im gesamten Münchner Stadtgebiet angebracht zu haben, die zum Teil staatskritische und antifaschistische Botschaften enthielten. Weil die Bullen wochenlang keine Ermittlungserfolge erzielen konnten, präsentierten sie der Öffentlichkeit die Gefangennahme von Max und einer weiteren Person, die sich mittlerweile wieder auf freiem Fuß befindet, umso stolzer. Die Presse, die sich zuvor kräftig an der Hetzjagd nach den Verantwortlichen für die Graffiti beteiligt hatte, nahm das dankbar an. Seitdem ist der Fall für sie abgeschlossen. Dass Max wegen ein paar Graffiti seit nun fast einem Jahr ohne Prozess in Untersuchungshaft sitzt und dabei unter verschärften Haftbedingungen zu leiden hat, ist der Presse keinen Bericht mehr wert.
Wir haben Max nicht vergessen und wollen die Öffentlichkeit mit unserer Aktion an ihn erinnern.

Freiheit für Max!
Freiheit für alle Gefangenen!
Feuer den Knästen!