Vielfalt und Projektion

Replik auf Robert Kriegs Artikel „Besonders, nicht krank“ in GWR # 440

von Hyman Roth

Robert Krieg meint es gut. Er meint ein gutes Argument gegen Trisomie-Bluttest und darauf häufig folgende Abtreibung gefunden zu haben. „Neulich in der Stadthalle einer Kleinstadt in Rheinland-Pfalz. Auf der Bühne spielt eine Coverband einen Kult-Song von „The Police“. Neben mir stampft ein junger Mann mit Down-Syndrom zum Punk-Rhythmus und reckt die geballte Faust in Richtung Bühne. Den Text kennt er auswendig. Er geht in der wogenden Menschenmenge auf. Individuell und integriert zugleich bildet er einen lebendigen, lebensbejahenden Aspekt der Vielfalt menschlichen Daseins ab.“

Wie rührend diese Szene auf einige GWR-Leser zuerst einmal wirken mag, so fragwürdig ist die Vorstellungswelt, aus der sich die Rührung speist. Zunächst ist es die Ähnlichkeit zu einem Selbst, was für den Autor gegen die Diskriminierung der Menschen mit dem Down-Syndrom spricht. Kaum sind die anderen einem ähnlich, schon bilden sie „einen lebensbejahenden Aspekt der Vielfalt menschlichen Daseins ab“. Die Rührung kommt doch daher, dass man von einem Down-Syndrom-Patienten verbreiteten Zuschreibungen folgend eher selten „erwachsene“ Vorlieben erwartet und daher überrascht sei.

Wer jetzt einwenden wird, es liege Überinterpretation, Haarspalterei oder bösartige Unterstellung vor, sei auf das nächste markante Zitat aus dem Text verwiesen: „Wir leben in einer vom Diktat der Ökonomie durchformatierten Welt, in der Eigenständiges und Widerständiges keinen Platz haben darf, denn sie beeinträchtigen die erwarteten Renditen. Wenn wir heute über Eugenik sprechen, müssen wir uns zugleich mit dem zerstörerischen Primat des Ökonomischen beschäftigen.“

Das ist auf ganz vielen Ebenen falsch. Erstens ist „Eigenständiges“ im Kapitalismus dauerhaft gefragt und wird immer wieder von der Ökonomie verwertet. Individuelle Rebellionen schaffen neue Absatzmärkte, Outsider von gestern werden zum Trendsetter von heute, „diversity management“ und Erschließung neuer Zielgruppen durch Werbung gehören zum Grundwissen der modernen Unternehmensführung.

Robert Krieg will aber „Vielfalt“ als einen Wert an sich gegen den Kapitalismus wenden und deutet das Down-Syndrom zu etwas Widerständigem über die Kopfe der Betroffenen um. Unabhängig davon, wie sich die Menschen und ihre Angehörigen zu diesem „Anderes-Sein“ stellen, sind sie jetzt zu Rebellen honoris causa ernannt, weil sie sich – noch – nicht (so gut) verwerten lassen. Obwohl die vom Autor selbst angeführten Beispiele gerade auf das Gegenteil deuten – immer mehr Menschen mit dem Down-Syndrom schaffen es sich für den Arbeitsmarkt als nützlich zu erweisen.

Wenn Robert Krieg die Tests und die Abtreibungen von „kostenverursachenden“ und „unrentablen“ Menschen anprangert, dann macht er im selben Atemzug eine Gegenrechnung auf:

Dass Menschen mit Down-Syndrom unseren gesellschaftlichen Alltag durch menschliches Glück und die Verbreitung von Empathie wertvoll machen, wie ich es am Anfang dieses Textes zu skizzieren versucht habe, taucht in dieser Rechnung nicht auf.“

Die Down-Patienten sind für ihn eben keine Subjekte, sie sind dazu bestimmt Empathie zu verbreiten und durch ihr Glück „unseren“ Alltag wertvoll zu machen – während den „normalen“ Menschen gerade zugestanden wird nicht dauerhaft empathisch oder glücklich zu sein. So werden sie zur Projektionsfläche für die Vorstellungen der „Gutmeinenden“, die in ihnen kindliche, aber gerade deswegen unschuldige und dauerglückliche Wesen sehen. Damit transportiert Robert Krieg die ableistischen Vorstellungen, gegen die er sich eigentlich wenden will.

 

Dieser Artikel wurde uns mit der Bitte um Veröffentlichung zugesandt. Da derzeit nicht absehbar ist, wann und ob die nächste Ausgabe der Lifestyleanarchist*in erscheinen wird, veröffentlichen wir diesen Artikel bereits vorab online.

Die Konstitution des demokratischen Staates durch den Akt des Zur-Wahl-Gehens

Anlässlich der anstehenden Landtagswahlen in Bayern veröffentlichen wir hier einen Artikel von différⒶnce muc, der in unserer letzten Ausgabe leider keinen Platz mehr gefunden hat, den wir aber dennoch für beachtenswert halten:

Von différⒶnce muc

Der Akt des Zur-Wahl-Gehens ist ein ganz besonders Ereignis in der Beziehung der demokratischen Bürger*innen zu ihrem Staat. Das gängige Narrativ der Demokrat*innen sieht in diesem Ritual nichts geringeres als eine Heraufbeschwörung der Staatsmacht, denn mit der Abgabe seiner*ihrer Stimme überträgt der*die Bürger*in seine verfassungsrechtlich verbriefte Macht [1] auf eine*n Vertreter*in, der*die daraufhin als Teil des Staates jene Macht gegenüber der Bevölkerung mittelbar wieder ausübt. Dieser Vorstellung zufolge nimmt der Akt des Zur-Wahl-Gehens die besondere Funktion der regelmäßigen Re-Legitimierung oder auch Re-Konstitution des Staates durch seine „mündigen“ Bürger*innen [2] ein.

Vor diesem Hintergrund soll in diesem Text untersucht werden, inwiefern die bloße Teilnahme an einer Wahl dazu geeignet ist, die Macht des dahinter stehenden Staates zu festigen, beziehungsweise inwiefern sich aus einer Praxis des bewussten Nicht-wählens bereits aufständische Perspektiven ergeben.

Die Tatsache, dass im folgenden hauptsächlich von zentraleuropäischen Staaten die Rede ist, ist der Tatsache geschuldet, dass ich bisher eine intensivere Beschäftigung mit Staaten in anderen Teilen der Welt versäumt habe. Ich gehe davon aus, dass es sich mit demokratischen – oder auch scheinbar demokratischen Staaten – in anderen Teilen der Welt grundsätzlich ähnlich verhält, denke aber dass es spezifische Unterschiede gibt, wie es sie ja auch im Vergleich der zentraleuropäischen Staaten untereinander gibt. Möglicherweise gelingt es mir in Zukunft dieses Defizit auszugleichen.

Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren

Ein schon in den deutschen Schulen vermitteltes Paradoxon der demokratischen Ideologie drückt sich in dem gängigen Ausspruch „Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren“ aus. Einerseits spiegelt sich in diesem Satz natürlich die Borniertheit der Wahlberechtigten wider, die ihr Privileg „wählen zu dürfen“ gar nicht als solches erkennen und damit alle nicht wahlberechtigten Gruppen marginalisieren, andererseits verklärt dieser Ausspruch den Ursprung der demokratischen Staatsmacht, der sogar gemäß des Grundgesetzes in den Wahlen selbst liegt, zu einer durch den Staat vermittelten Möglichkeit der Teilhabe an Wahlen. Anders ausgedrückt: Der*die Bürger*in, der*die die Möglichkeit des Zur-Wahl-Gehens nicht wahrnimmt, vergibt die ihr*ihm durch den Staat vermittelte Macht. Der Staat selbst wird dabei zu einer geschichtslosen und vor allem zu einer  apriorischen Institution, dessen Existenz innerhalb der demokratischen Ideologie nicht in Frage gestellt werden kann. Umgekehrt entpuppt sich die grundgesetzliche Behauptung „Alle Macht geht vom Volke aus“ dabei als Mythos, als ein oft beschworenes, aber niemals existentes Ideal. Werden Wahlen in der demokratischen Ideologie also überbewertet?

Auf jeden Fall! Die bei Wahlen gewählten Abgeordneten, die später eine Regierung bilden und als solche mittelbar Staatsmacht gegenüber der Bevölkerung ausüben werden, sind weder an ihre Wahlversprechen noch an ihre Grundsatzpositionen rückgebunden. Zugleich ist mitnichten gewährleistet, dass die Positionen einer*eines Abgeordneten in Parlament oder Regierung Beachtung finden. Der*die wählende Bürger*in übt durch das Zur-Wahl-Gehen also keine Macht aus, er überträgt vielmehr die mit seiner Stimme verbundene Macht an eine*n Abgeordnete*n und damit mittelbar an den Staat. Hier offenbart sich der phänomenale Irrtum eines Ausspruchs wie „Wer nicht wählen geht, darf sich auch nicht beschweren“, denn gerade diejenigen, die „wählen gehen“ übertragen ihre Macht ja an den Staat im Vertrauen darauf, dass dieser in ihrem Sinne handelt, während diejenigen, die an der Wahl nicht teilnehmen, sich zumindest der rituellen Ermächtigung des Staates verweigern. Wollte mensch dem Ausspruch also überhaupt eine Wahrheit abgewinnen, müsste er schon eher lauten „Wer wählen geht, darf sich nicht beschweren“.

Zur-Wahl-Gehen: Rituelle Re-Konstitution des Staates oder Mythos

Doch wenn es sich bei dem Statut „Alle Macht geht vom Volke aus“ nur um einen Mythos handelt, lässt sich dann überhaupt die These einer Re-Konstitution des Staates durch den Akt des Zur-Wahl-Gehens halten?

Einerseits lässt sich ein sichtbarer Machtverlust des Staates in den Fällen, in denen nur sehr wenige der in ihm lebenden Menschen Zur-Wahl-Gehen kaum feststellen: Die Re-Konstituierung des Staates findet also auch in diesen Fällen in einer Art und Weise statt, die die Macht des Staates erhält. Andererseits ist klar, dass der Staat einer beständigen Re-Konstituierung bedarf, das zeigen zahlreiche Beispiele herrschaftsfreier Zonen im Großen und im Kleinen, in denen der Staat seine Macht erst wieder gewaltsam herstellen muss. [3] Mit anderen Worten: Ein Staat dem sich die Menschen nicht freiwillig unterwerfen verliert seine Macht in dem Maße, dass es plausibel erscheint, dass er aufhört zu existieren, sobald sich ihm nur noch sehr wenige Menschen unterwerfen.

Eine Re-Konstitution des Staates findet also nicht nur anlässlich von Wahlen statt, sondern es handelt sich hier um einen kontinuierlichen Prozess. Jedes Mal, wenn wir die Staatsmacht (beispielsweise die Polizei) um Hilfe anrufen ist das ein performativer Akt, der zu einer Re-Konstituion des Staates beiträgt. Jeder Behördengang, jede politische Forderung an den Staat, jedes Mal, wenn wir wider unseren Willen Gesetze befolgen oder aufgrund von Gesetzen gegen andere Menschen vorgehen, indem wir ihnen mit Anzeige drohen oder sie gar tatsächlich anzeigen, ist Teil einer permanenten Re-Konstitution des Staates, denn bei all diesen Handlungen räumen wir dem Staat und seinen Institutionen implizit wie explizit Macht über uns und andere Menschen ein.

Und dennoch haftet der spezifischen Re-Konstitution des Staates bei Wahlen etwas besonderes an, möglicherweise gerade deswegen, weil den Menschen dann (zumindest unterbewusst) klar ist, dass hier eine Re-Konstitution des Staates stattfindet. Das verhilft den Wahlen vermutlich auch zu ihrem typischen rituellen Charakter mit Vorhersagen, Hochrechnungen, abendfüllenden Wahlsendungen im Fernsehen, aber auch Wahlplakaten, Wahlkampfveranstaltungen und schließlich Wahlparties. Von allen performativen Akten, die in ihrer Gesamtheit eine permanente Re-Konstitution des Staates bedeuten ist der Akt des Zur-Wahl-Gehens wohl der am meisten sichtbare und wahrgenommene, wenngleich kaum mehr bedeutend als andere re-konstitutive Handlungen.

Das Spektakel stören?

Diese herausragende Bedeutung des Zur-Wahl-Gehens, auch wenn sie nur in der Wahrnehmung herausragend ist, scheint auch für staatskritische Interventionen besonders geeignet zu sein. Die Tatsache, dass den Menschen anlässlich von Wahlen (zumindest unterbewusst) klarer denn je zu sein scheint, dass der Staat nur solange existiert, wie wir an ihn „glauben“ und ihm folgen, scheint ein geeigneter Anlass zu sein, um den Menschen diesen Charakter noch bewusster zu machen.

Mensch stelle sich vor, der Staat verlöre anlässlich von Wahlen tatsächlich kurzzeitig die Kontrolle. Was wäre anders? Die radikale Opposition der Menschen zum Staat wäre sichtbarer denn je, denn es wäre unmissverständlich klar, dass sich hier nicht das Nichteinverständnis der Menschen mit einer bestimmten Politik ausdrückt, sondern die Ablehnung jeder Politik im demokratisch-bürgerlichen Sinne. Die massive Gewalt derer der Staat bedürfte, um seine Ordnung wiederherzustellen würde unmissverständlich deutlich machen, dass es sich hier um einen Angriff auf die Souveränität des Staates handelt, aber auch, dass viele solche Angriffe geeignet sind, um selbst einen Staat mit all seinen (materiell existenten) Repressionsbehörden aus den Angeln zu heben.

Es könnte sich also lohnen, zukünftig auch durch intensive Kampagnenarbeit in das Spektakel einer Land- oder Bundestagswahl zu intervenieren und dabei gerade die Symbolkraft, die der Staat den Wahlen selbst verliehen hat, für sich zu nutzen.

Anmerkungen

[1] Vgl. Art. 20 Satz 2 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt. “

[2] Dabei sind die „mündigen“ Bürger*innen eines Staates keineswegs mit der in ihm lebenden Bevölkerung zu verwechseln. Menschen, die etwa in Deutschland leben und dementsprechend den Regeln dieses Staates unterworfen sind, haben nur dann ein Wahlrecht, wenn sie einen deutschen Pass besitzen, zum Zeitpunkt der Wahl 18 Jahre oder älter sind und nicht aus anderen Gründen (Beispiele dafür sind ableistische Gründe, bei denen Menschen aufgrund einer vermeintlichen Be_hinderung das Wahlrecht aberkannt wird oder auch repressive, bei denen ein Gericht Menschen als Teil ihrer Strafe für eine Gesetzesübertretung das Wahlrecht aberkennt) von der Wahl ausgeschlossen sind. Wahlberechtigt sind in den meisten Staaten also nur einige der in ihnen lebenden Menschen.

[3] Einige aktuelle Beispiele für solche herrschaftsfreien Zonen in Zentraleuropa sind etwa la ZAD, der Hambacher Forst, diverse Hausbesetzungen, uvm. Daneben gibt es immer wieder entstehende temporäre autonome oder herrschaftsfreie Zonen, etwa wenn sich Menschen ohne Erlaubnis des Staates die Straßen nehmen.

Über kommende Aufstände Teil 2

Von Anna Kistin

Dieser Artikel ist der zweite Teil meiner Artikelreihe mit dem Titel „Über kommende Aufstände“. Der erste Teil ist in Ausgabe 1 (Winter 2017/Frühjahr 2018) der Lifestyleanarchist*in erschienen (S. 19 bis 21).

„Letzte Nacht haben sie schon wieder ein Auto angezündet. Ganz in der Nähe.“ So oder so ähnlich könnte eine Unterhaltung am Küchentisch in einem beliebigen Münchner Haushalt beginnen. Je nachdem wer am Küchentisch sitzt, könnte die Stimme von Angst, Wut oder Begeisterung erfüllt sein, sie könnte das Gesagte aber auch völlig gleichgültig vortragen. Mindestens ebenso unterschiedlich könnte auch die Antwort ausfallen, wiederum abhängig davon, was der*die Sprecher*in davon hält, wenn Autos des Nachts in Flammen aufgehen. Die Reaktionen in der Presse dagegen sind eigentlich immer die Gleichen, nur der Nachdruck mit dem der*die Autor*in ihre Position vorträgt variiert von Mal zu Mal: Während die Meldungen über einen abgefackelten Bagger und ein paar in Flammen aufgegangene Kraftfahrzeuge der Immobilienbranche Anfang des Jahres für Schlagzeilen gesorgt haben, blieben viele darauffolgende Aktionen, die ebenfalls angesteckte und ausgebrannte Autos zur Folge hatten nur eine Randnotiz in den Medien. Der Ton der Nachrichten bleibt jedoch immer der Gleiche: Die abgefackelten Fahrzeuge werden als Zeugnisse einer Gewalttat gesehen, die Taten selbst werden entpolitisiert – zugegeben: politische Stellungnahmen hat es eigentlich zu keiner der Taten gegeben – und die Täter*innen als „Chaoten“, „Vandalen“ oder „irre Brandstifter“ abgestempelt.

Aber auch wenn die mediale Berichterstattung über militanten politischen Protest selbst ein interessantes Untersuchungsobjekt abgibt, will ich es bei diesen Impressionen belassen. Sie zeigen – und darum geht es mir –, dass eine explizite Auseinandersetzung mit (möglichen) politischen Hintergründen im Falle der derzeit anhaltenden Serie von Autobränden (durchschnittlich ein Auto pro Monat) ausbleibt, obwohl die Brände selbst durchaus als (links-)politisch motiviert wahrgenommen werden.

Ohne die konkreten Hintergründe der einzelnen Autobrände zu kennen will ich in diesem Artikel annehmen, dass die Autobrandserie bewusst und mit politischer Intention von einzelnen Personen oder Grupen von Personen, womöglich auch unabhängig voneinander, aber durchaus mit Bezug auf vorangegangene Brände, verübt wurde und wird. Weiter nehme ich an, dass es sich bei der Serie hauptsächlich um antikapitalistischen und herrschaftskritischen Protest gegen Gentrifizierung handelt. Dafür gibt es viele Anzeichen, beispielsweise sind vor allem Fahrzeuge betroffen, die entweder direkt auf Baustellen eingesetzt werden oder die Aufschriften von Bau- und Immobilienunternehmen tragen, auch wenn dies von der Presse zunehmend mehr verschwiegen wird. Zusätzlich gehen immer wieder Fahrzeuge von Sicherheitsunternehmen und Unternehmen die eng mit repressiven Organen des Staates zusammenarbeiten in Flammen auf.

Ich möchte die Brandserie selbst ebensowenig wie die Einzelfälle mit diesen Annahmen politisch für meine Ziele vereinnahmen. Mir geht es auch nicht darum, eine Bewertung der Brandserie und ihrer Einzelfälle vorzunehmen, sondern ich möchte mich auf die Fragen beschränken, die sich um eine generelle Eignung einer solchen Brandserie als aufständisches Mittel gegen Gentrifizierung und dadurch entstandene Herrschaftsverhältnisse drehen.

Unmittelbare Auswirkungen

Die direkten Auswirkungen eines brennenden Autos sind mehr oder weniger klar: Das Auto brennt entweder komplett aus oder der Brand wird zuvor gelöscht. Je nachdem an welcher Stelle der Brand gelegt wurde ist zumindest ein sogenannter „wirtschaftlicher Totalschaden“ beinahe sicher: Wurde der Brand an einem der Vorderreifen gelegt, ist es sehr wahrscheinleich, dass Teile des Motors zerstört werden. Wurde der Brand im Motorraum gelegt ist der Motor mit großer Wahrscheinlichkeit zerstört. Nur wenn der Brand – aus welchen Gründen auch immer – im Heckbereich des Fahrzeuges gelegt wurde oder sofort entdeckt wird, kann in der Regel ein größerer Schaden verhindert werden.

Auch die direkten finanziellen Folgen eines Brandschadens sind mehr oder weniger klar: Für das entsprechende Fahrzeug muss Ersatz beschafft werden. Das sind zum Teil nicht unerhebliche Kosten, selbst für größere Firmen nicht: Ein PKW kostet je nach Modell und Alter im Schnitt zwischen 10.000 und 50.000 Euro in der Neubeschaffung, Baufahrzeuge wie beispielsweise ein Bagger können gar mehrere hunderttausende Euro kosten. Das sind relevante finanzielle Schäden für die entweder das Unternehmen selbst oder eine Versicherung aufkommen muss.

Aber was bedeutet es für ein Unternehmen, finanzielle Aufwendungen wegen eines Fahrzeugbrandes zu haben und inwiefern ändert das das Verhalten des Unternehmens? Diese Frage lässt sich pauschalisiert kaum beantworten. Auch wird selten der Versuch unternommen, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Das ist bedauerlich, schließlich ist diese Frage durchaus von einiger Bedeutung für das politische Potenzial der Aktionsform. Tendenziell werden vermehrte Fahrzeugbrände oder auch besonders spektakuläre Einzelfälle eines Fahrzeugbrands bei einem Unternehmen vor allem zu einer sicherheitstechnischen Aufrüstung führen: Sicherungsmaßnahmen des Fuhrparks durch Videoüberwachung, Alarmanlagen, Anweisungen Fahrzeuge nur an entsprechend überwachten Orten abzustellen, sowie die Bewachung durch Sicherheitsdienste. Langfristig werden natürlich auch die mit einem bestimmten Auftrag verbundenen Risiken ermittelt und berücksichtigt werden. Insgesamt wird sich das jedoch meist in einer Preissteigerung des Angebots, nicht in der Ablehnung eines Auftrags niederschlagen. In Einzelfällen – und vor allem bei kleineren Unternehmen – können wiederholte Fahrzeugbrände mit hohen Sachschäden sicher auch zur Insolvenz des Unternehmens führen. Gerade bei größeren Unternehmen dürfte das jedoch äußerst unwahrscheinlich sein.

Halten wir also fest: Zwar erzeugen Fahrzeugbrände mitunter großen Sachschaden bei den jeweiligen Eigentümer*innen, neben zumeist kompensierbaren finanziellen Verlusten jedoch haben diese Brände kaum unmittelbare Auswirkungen auf die Politik der Unternehmen.

Mittelbare Auswirkungen

auf eine Branche Während einzelne Unternehmen die bereits erfolgreich in der Immobilienbranche tätig sind, sich nur schwer davon abschrecken lassen dürften, auf ihrem Geschäftsfeld weiter tätig zu sein, können Brandanschläge auf Fahrzeuge von Unternehmen der Immobilienbranche oder auch Farbanschläge auf deren Büros, usw., die Branche selbst durchaus beeinträchtigen, zumindest wenn sie in der Öffentlichkeit oder relevanten Teilen davon wahrgenommen werden: Auch wenn die meisten Unternehmen an den gegen sie gerichteten Aktionen nicht zugrunde gehen, bedeuten diese dennoch relevante Gewinneinbußen für die Unternehmen selbst oder deren Auftraggeber*innen. Diese entstehen durch die finanziellen Schäden selbst, aus resultierenden Verzögerungen eines Auftrags oder auch nur der difusen Angst der Investor*innen vor finanziellen Einbußen. Letztere ist es vor allem, die wohl die größten Auswirkungen auf die Branche hat: Ohne Investor*innen sind nämlich die meisten Bauprojekte kaum möglich. Sollte sich also herumsprechen, dass Gentrifizierungsgegner*innen mit gezielten Aktionen gegen Immobilienspekulationen vorgehen, macht es diese weniger lukrativ. Das bedeutet die Branche verliert mittelfristig an Bedeutung.

Fragen zur Zielsetzung und deren Erreichbarkeit

Das bringt uns jedoch bereits zu einem großen Problem der Aktionsform: Die Abhängigkeit von der Presse: Werden die Aktionen nicht wahrgenommen oder entpolitisiert, wie das zumeist der Fall ist, bleiben sie weitestgehend wirkungslos: Sicher mindern sie die Gewinnspanne einiger Unternehmen, aber nicht in dem Ausmaß, dass die Lukrativität der Branche gefährdet wird. Aus politischer Sicht macht das kaum Sinn, vielmehr müsste mensch bei den Aktionen dann von einer Art Rachemotiv sprechen. Aber Rache wofür? Dafür, dass eine andere Person im kapitalistischen System besser dasteht, als mensch selbst? Der strukturelle Antisemitismus lässt grüßen! Mit radikalem, herrschaftskritischen Aktionismus hätte das also wenig zu tun.

Doch geht es nicht um mehr? Geht es nicht auch darum, Widerstand sichtbar zu machen? Darum, die eigene Ohnmacht zu durchbrechen, individuelle Freiheit zu erlangen? Vielleicht. Aber wo wird Widerstand sichtbar gemacht? Letztlich bleibt es ein kleiner Kreis von Menschen, der die Aktionen und die dahinter stehenden Beweggründe nachvollziehen kann. Und was die individuelle Freiheit angeht: Ist es nicht ein reaktionäres Feindbild, dass da in den Köpfen derer herumspukt, die glauben ihre individuelle Freiheit gegen einige Unternehmen, deren Handlungen sie für besonders unethisch halten, verteidigen zu müssen? Ist das nicht überhaupt nur eine Projektion gesellschaftlicher Zwänge auf Individuen oder wie in diesem Fall einzelne Institutionen?

Ich glaube all diese Fragen lassen sich nicht isoliert von der Frage nach dem absehbaren Erfolg einer Aktion und damit ihrem politischen Nutzen beantworten: Unser Ziel ist es, die bestehende Gesellschaft in eine freie Gesellschaft ohne Herrschaft zu verwandeln. Dabei ist es wichtig, die bestehenden Herrschaftsverhältnisse nachhaltig abzuschaffen, statt sie zunächst in eine andere Form zu überführen mit dem Versprechen sie zu einem späteren Zeitpunkt, wenn sie nicht mehr notwendig seien, abzuschaffen. Klar ist, dass die Abschaffung von Herrschaft nicht ohne Gegenwehr über die Bühne gehen wird. Bestehende Herrschaftsverhältnisse werden mit Gewalt aufrechterhalten werden. Gewalt kann dabei jedoch auch das Mittel sein, Herrschaftsverhältnisse zu durchbrechen.

Ein Auto anzuzünden ist letzten Endes Gewalt. Ebenso wie auch die kapitalistischen Verhältnisse für diejenigen, die durch sie hungern, verdrängt werden oder gar sterben, Gewalt sind. Die Verdrängung von Menschen im Zuge der Gentrifizierung eines Viertels ist Herrschaft, aber wenn aus Protest gegen diese Herrschaft ein Auto angezündet wird, bedeutet das nicht, dass das automatisch Gewalt zur Durchbrechung dieser Herrschaftsverhältnisse ist. Wenn ein angezündetes Auto jedoch nicht der Durchbrechung von Herrschaftsverhältnissen dient, ist es nichts anderes als eine andere Form der Herrschaft. Damit erübrigen sich dann auch alle Fragen nach individueller Befreiung: Individuelle Befreiung durch Herrschaft gegenüber anderen? Klingt komisch, oder?

 

Es ist also wichtig, dass brennende Autos auch dazu beitragen, die damit kritisierten Zustände tatsächlich zu ändern. Das ist derzeit nicht absehbar. Insgesamt sind es zu wenige Fälle die zugleich kaum Beachtung in der Öffentlichkeit finden, also kaum geeignet sind, einen kollektiven und damit wirksamen Protest gegen Gentrifizierung anzustoßen. Gleichzeitig ist der durch die Brände generierte Schaden nicht groß genug, um potenzielle Investor*innen davon abzubringen, in Bauprojekte zu investieren.

Dabei wären die Voraussetzungen der Protestform gar nicht so schlecht, um tatsächlich eine Änderung der Verhältnisse zu erzwingen: Beinahe Jede*r ist potenziell in der Lage dazu ein Auto anzuzünden (auch spurenfrei). Der Schaden, der mit einer einzigen Aktion erzielt wird, ist relativ groß. Schon verhältnismäßig wenige Aktionen – mehr jedoch als momentan – könnten ausreichen, um finanziell relevante Einbußen zu generieren.

Was also müsste passieren? Entweder müsste die Aktionsform „Autos anzünden“ bei mehr Menschen Anklang finden und von ihnen auch praktiziert werden: Dann wäre möglicherweise der finanzielle Schaden, der den kapitalistischen Akteur*innen dadurch entsteht, von realer Bedeutung. Das würde betreffende Branchen deutlich weniger lukrativ machen. Mithilfe von Gewalt (dem Anzünden von Autos) wäre dann also eine andere, strukturelle Gewalt, nämlich die Ver-drängung von Menschen zumindest verringert worden und mensch könnte von einer gegen Herrschaft gerichteten Gewalt sprechen.

Eine andere Alternative, die möglicherweise auch ganz nebenbei die Beliebtheit der Aktionsform „Auto anzünden“ steigern könnte, wäre eine Erklärung der Aktionen gegenüber der Öffentlichkeit. Viele Aktionen werden gegenüber der Öffentlichkeit mit einem Bekenner*innenschreiben erläutert, in dem die Gründe für die Aktion dargelegt werden. Im Falle von Straftaten, die einen hohen Ermittlungsdruck erwarten lassen und die zugleich mit sehr hohen Haftstrafen bedroht sind ist das jedoch ein Problem: Aus Bekenner*innenschreiben können ungewollt Hinweise auf den*die Verfasser*in hervorgehen. Damit ist das Risiko, dem mensch sich dabei aussetzt deutlich höher, als wenn mensch seine*ihre Aktionen nicht erklärt. Doch es gibt Alternativen: Im Grunde kann jede*r mögliche Hintergründe eines Brandanschlags erläutern – auch ohne eine bestimmte Aktion politisch für sich zu vereinnahmen. Vielleicht wäre das ein Weg, um die Aktionsform des „Auto anzündens“ vermittelbar zu machen.

Die Rolle der Gefängnisse innerhalb der Gesellschaft

Von kA★oS München

Der folgende Artikel entstand im Rahmen der weltweiten Aktionswoche in Solidarität mit anarchistischen Gefangenen 2018 (solidarity.international). Auszüge daraus wurden in der Woche vom 23. bis 30. August 2018 als Flyer verteilt.

Stell dir vor dir würde von einem Tag auf den nächsten die Kontrolle über dein Leben genommen werden. Viele Entscheidungen, beispielsweise wann du isst, wann du schläfst, wann du andere Menschen treffen kannst – und welche anderen Menschen –, ob und welche Bücher du lesen darfst würden von anderen Menschen für dich getroffen. Stell dir vor, du würdest gezwungen werden, für einen Tageslohn von rund 8 Euro zu arbeiten und irgendwer würde dich trotzdem zwingen, einen Teil dieses Geldes zu sparen. Stell dir vor, es gäbe Menschen die du jeden Tag sehen musst, von denen du abhängig bist und die dich jederzeit verprügeln können – und die das auch tun –, ohne dass das Konsequenzen für sie hat. Stell dir vor, du wärst krank aber darfst erst in einer Woche zum Arzt. Für viele Menschen weltweit ist das und Schlimmeres bittere Realität. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat und für viele sogar Jahr um Jahr.

Die Rede ist hier von Gefängnisinsass*innen. Die gibt es überall auf der Welt, in manchen Ländern gibt es mehr, in anderen Ländern weniger, aber immer handelt es sich um Menschen, die sich nicht konform zur jeweiligen Gesellschaft verhalten (haben), auffällig häufig auch um Angehörige marginalisierter Gruppen. Rund 10 Millionen Menschen befinden sich weltweit in Gefängnissen (vgl. World Prison Brief 2017), das sind rund 1,3 Promille (0,13 Prozent) der Weltbevölkerung. Dabei sind viele Menschen, die sich in gefängnisähnlichen Situationen befinden, etwa in diversen Lagern für flüchtende Menschen, in dieser Statistik überhaupt nicht berücksichtigt.

Die Situation der Gefangenen ist in jedem Gefängnis prekär! Viele Rechte, die andere Bürger*innen des jeweiligen Staates haben, gelten für Gefangene nicht. Auch grundlegende Menschenrechte werden systematisch missachtet. Ein Recht auf körperliche Unversehrtheit gibt es in Gefängnissen nicht: Die Haftbedingungen fördern Krankheiten, der Besuch bei einem*einer Ärzt*in ist oft erst Tage später möglich und die zahlreichen bekannten Übergriffe auf Gefangene durch das Gefängnispersonal sind keine Zufälle sondern ein zentrales Element des repressiven Gefängnissystems. Auch die Ausbeutung der Arbeitskraft Inhaftierter könnte kaum menschenverachtender sein: Arbeitsrechtliche Bestimmungen gelten im Gefängnis nicht. Die Gefangenen müssen für lächerlich niedrige Tageslöhne (teilweise etwa rund 8 Euro pro Tag) arbeiten, an vielen Orten dieser Welt werden sie für ihre Arbeit gar nicht bezahlt. Neben Arbeiten zur Aufrechterhaltung des Gefängnisbetriebs müssen viele Inhaftierte auch Arbeiten für Firmen verrichten, die von den sklavereiähnlichen Zuständen in den Gefängnissen gerne profitieren. Neben den Gängelungen durch das Gefängnissystem selbst erfahren Gefangene oft auch einen sozialen Ausschluss. Dabei sind es nicht nur bestehende Sozialkontakte, die oft unter aktiver Mitwirkung des Gefängnissystems im Laufe einer längeren Gefangenschaft zemürbt werden, sondern ein Gefängnisaufenthalt wirkt sich auch negativ auf zukünftige Sozialkontakte und Chancen der gesellschaftlichen Teilhabe aus: In vielen Bereichen der Wirtschaft werden Menschen später nicht mehr eingestellt werden, weil sie schon einmal im Gefängnis waren, viele Menschen verurteilen andere Menschen, die schon einmal im Gefängnis waren pauschal und wollen nichts mit ihnen zu tun haben und zuweilen stehen ehemaligen Strafgefangenen bestimmte Angebote der öffentlichen Hand nicht mehr zur Verfügung.

Das alles sind keine Missstände, die nur in den Gefängnissen von für menschenfeindliche Handlungen bekannten Diktaturen beobachtet werden können. Es sind Zustände, wie sie hier in Deutschland, sowie fast überall auf der Welt herrschen. Sicher gibt es qualitative Unterschiede zwischen den Gefängnissystemen der Länder, aber die hier beschriebenen Zustände sind eine Art Konsens aller Länder, von dem es fast nur Abweichungen nach unten gibt.

Gefängnisse sind ganz eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Institution der Unterdrückung, selbst wenn weite Teile der Gesellschaft keinerlei Vorstellung von den Zuständen in Gefängnissen haben, befürworten sie diese. Übrigens ist es bei näherem Hinsehen keineswegs außergewöhnlich, dass die Menschen kaum eine Vorstellung davon haben, wie der Alltag in den Gefängnissen, die sie befürworten, aussieht. Beinahe alle konkreten repressiven und gewaltvollen Maßnahmen, die eine Gemeinschaft zu ihrem (vermeintlichen) Schutz vor „den Anderen“ gutheißt, finden hinter den Vorhängen statt. Das bedeutet es gibt kaum – und wenn doch, dann keinesfalls objektive – mediale Berichterstattung, das Ganze findet meist abseits der Blicke der Gesellschaft statt und die Betroffenen der Maßnahmen werden oft so sehr eingeschüchtert, dass sie es nicht wagen, von ihren Erfahrungen zu berichten oder sie werden daran anderweitig gehindert (beispielsweise können Personen, die abgeschoben werden über ihre Behandlung in Deutschland kaum mehr berichten, aber auch Menschen in Gefängnissen haben kaum Möglichkeiten, Menschen außerhalb von ihren Erfahrungen zu erzählen – teilweise weil sich einfach keine Person für sie interessiert, teilweise wird Post in der von Missständen in den Gefängnissen berichtet wird auch angehalten oder geht „verloren“). Tatsächlich interessieren sich die meisten Menschen aber schlicht nicht für die prekären Lebensbedingungen von Gefangenen. Und wenn sie doch einmal unfreiwillig von den Missständen in Gefängnissen erfahren, wischen sie diese Kenntnis beiseite, indem sie von einer „gerechten Strafe“ oder „Notwendigkeit“ sprechen.

Das Gefängnis als ein Ort der „gerechten Strafe“ steht übrigens nicht in Widerspruch zu dem verbreiteten Bekenntnis zu „Resozialisierung“. Vielfach bedeutet das schließlich nichts anderes als eine Person unter Ausübung von Zwang (beispielsweise durch einen Gefängnisaufenthalt oder durch Bewährungsauflagen) dazu zu bringen, sich konform zur umgebenden Gesellschaft zu verhalten. Neben der Tatsache, dass das eine autoritäre Maßnahme zur Normierung der Mitglieder einer Gesellschaft ist, ist auch klar, dass dieses Unterfangen bei vielen Menschen scheitern muss: So werden beispielsweise in Deutschland PoC schlicht aus rassistischen Gründen als nicht zur Gesellschaft gehörig bzw. „abweichend“ betrachtet. Das ist ein gesellschaftliches und institutionelles Problem. Deshalb werden diese Menschen stärker beobachtet, öfter kontrolliert und zum Teil auch aus willkürlichen Gründen verhaftet. Die Folge: Diese Personengruppen sind in Gefängnissen überrepräsentiert, was wiederum die in der Gesellschaft vorhandenen rassistischen Vorurteile befeuert. Insgesamt ist zu beobachten, dass in Gefängnissen zumeist ein deutlich größerer Anteil der Inhaftierten Angehörige marginalisierter Minderheiten sind, als Angehörige der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft.

Das gibt auch Aufschluss über die eigentliche Rolle von Gefängnissen in unserer Gesellschaft. Sie sind zugleich das wohl härteste Instrument zur gewaltsamen Unterdrückung von „abweichendem“ Verhalten das dem Staat zur Verfügung steht, sowie ein Ort für all diejenigen, die von der Gesellschaft verstoßen wurden. Ziel eines Gefängnisaufenthalts ist es immer, die inhaftierte Person zu brechen und sie der gesellschaftlichen Norm anzupassen. Ist das nicht möglich, beispielsweise weil die Person aus rassistischen Gründen im Gefängnis sitzt, wird das Gefängnis zu einem Ort der Zerstörung dieser Person: Der gewaltsame Gefängnisalltag erfüllt dann nur noch den Sinn, die betroffene Person herabzuwürdigen und sie dem Bild, das die Gesellschaft von ihr hat, gleichzumachen. Für diese Personen ist das Gefängnis der Ort, an den sie von einer Gesellschaft, in der es (scheinbar) keinen Platz für sie gibt, verwiesen wurden.

Alle Gefangenen sind politische Gefangene!

Unser Haus, Unser Viertel, Unsere Stadt! Perspektiven linksradikaler Wohnraumpolitik

Von Für Lau Haus in Die Lifestyleanarchistin Nr. 1, 2017/2018

Zuerst veröffentlicht unter http://fuerlauhaus.blogsport.eu/texte/unser-haus-unser-viertel-unsere-stadt-perspektiven-einer-linksradikalen-wohnraumpolitik/

 

Wohnraumpolitik, das ist ein innerhalb der radikalen Linken in München inhaltlich nur sehr spärlich besetztes Thema [1]: In den wenigen Freiräumen, die sich die radikale Linke selbst über Jahre geschaffen hat, oder die von anderen geschaffen wurden, hat mensch es sich bequem gemacht. Diese Freiräume sind wichtig, das soll nicht in Frage gestellt werden, aber indem sich die radikale Linke darin verschanzt, verpasst sie auch die Teilhabe an aktueller Wohnraumpolitik und die Chance, neue Freiräume für sich selbst und andere zu schaffen. Unterdessen verschärft sich in München nicht nur die Mietsituation, sondern auch unkommerzielle Räume müssen kommerziellen weichen, Gebäude in beliebten Stadtvierteln verkommen zu Spekulationsobjekten und der Kampf gegen diese Misstände verliert sich in ebenso albernen, wie abstrakten Forderungen der Parteien, Leerstand müsse in bezahlbare Wohnungen (gemeint sind Wohnungen, die für Geringverdiener_innen vollkommen unerschwinglich sind) umgewandelt werden [2].

Die Folge sind unterschiedliche Verdrängungsprozesse: Menschen, die sich Wohnungen in der Stadt nicht (mehr) leisten können, werden immer weiter in die Außenbezirke verdrängt und diejenigen, die es schaffen, die Miete für ihre Wohnungen im Zentrum der Stadt irgendwie aufzubringen, werden dort vom sozialen Leben isoliert, weil sie sich den Aufenthalt in kommerziellen Räumen, für die entweder Eintritt bezahlt werden muss, oder in denen Konsumzwang herrscht, schlicht nicht (mehr) leisten können. Eigentlich Grund genug für linkspolitisches Engagement in diesem Bereich. Doch wo lässt sich dabei ansetzen? Fest steht: eine emanzipatorische Bewegung kann sich nicht damit begnügen, Forderungen an Politiker_innen zu stellen, sondern muss sich die eigenen Freiräume selbst erkämpfen.

Aber wie lassen sich Freiräume in München erkämpfen? Eines der wirksamsten Mittel zur Erkämpfung von Freiräumen, die Hausbesetzung, scheint dabei auszuscheiden. Die Zeiten in denen es ohne weiteres möglich war, ein Haus oder eine Wohnung zu besetzen und darin nicht nur unbehelligt zu wohnen, sondern auch nach eigenen Vorstellungen zu leben – das beinhaltet schließlich meist unweigerlich, dass es dort auch öffentliche und/oder halböffentliche Räume gibt, was wiederum bedeutet, dass das im Rahmen einer stillen Besetzung (fast) unmöglich und mit hohen Risiken verbunden wäre –, sind längst vorbei. Die sogenannte Münchner Linie [3] verhindert, dass eine Besetzung nicht nur Sympathien, sondern auch eine feste Verankerung in der Nachbarschaft aufbauen kann. Schlechte Voraussetzungen für eine Hausbesetzung und den damit verbundenen Kampf um Freiräume und Wohnraum? Oder brauchen wir nur neue Konzepte?

Eine öffentliche Hausbesetzung trotz „Münchner Linie“, das muss mensch für etwa so besonnen halten, wie mit dem Kopf gegen eine Wand zu hämmern. Sicherlich erregt das Aufmerksamkeit in der Bevölkerung und schafft eine gewisse Präsenz von wohnraumpolitischen Themen, aber die Kosten dafür sind schlichtweg zu hoch. Wer sich gegen das mit martialischem Aufgebot anrückende USK zur Wehr setzt, muss mit Gefängnisstrafen rechnen [4], wer sich widerstandslos aus dem Haus werfen lässt, muss mindestens mit einer Geldstrafe [5] rechnen. Zudem muss mensch wohl in jedem Fall mit blauen Flecken, Knochenbrüchen, Platzwunden, usw. rechnen, denn wenn mehrere Dutzend angriffslustige Bullen mit Maschinenpistolen, Kettenhemden, Schilden und Holzstangen in ein besetztes Haus stürmen, bleibt sicher kein Auge trocken. Allerdings gibt es Alternativen zu einer „echten“ Hausbesetzung, bei der die Besetzer_innen auch tatsächlich im Haus bleiben. Bei einer sogenannten Scheinbesetzung werden die Bullen in dem Haus keine Person mehr vorfinden (das schließt natürlich nicht aus, dass es ihnen erschwert wird, das Gebäude zu betreten). Haben die Besetzer_innen in dem Haus keine Spuren hinterlassen, die der Polizei eine Identifizierung ermöglichen, bleiben Sie dabei von unnötiger Repression verschont und können in aller Ruhe die nächste Aktion vorbereiten. Dabei kommt die „Münchner Linie“ den Besetzer_innen bei einer Scheinbesetzung sogar entgegen: Weil das entsprechende Gebäude innerhalb von 24 Stunden geräumt werden muss und weil die Bullen (in dieser Zeit) nie sicher sein können, dass in dem Haus tatsächlich keine Besetzer_innen auf sie warten, müssen sie in ihrer Einsatzplanung immer so planen, als gäbe es Besetzer_innen in dem Gebäude. So wird also auch bei einer Scheinbestzung ein verhältnismäßig großer Polizeieinsatz ausgelöst, was einerseits große öffentliche Aufmerksamkeit generiert und andererseits hohe Kosten verursacht. Über einen längeren Zeitraum stehen die Verantwortungsträger_innen bei der Polizei also vor der Entscheidung, die Münchner Linie aufzugeben und (Schein-)Besetzungen nicht mehr ernst zu nehmen – damit wäre die Grundlage für eine echte Besetzung geschaffen –, oder aber durch viele Scheinbesetzungen in Atem gehalten zu werden und ein Phantom zu jagen, wie es die Boulevardpresse so treffend beschrieben hat [6].

Aber zumindest auf Dauer bleiben Scheinbesetzungen eine reine Protestform gegen Missstände in der Wohnraumpolitik ohne die Menschen tatsächlich in die Lage zu versetzen, selbstbestimmt neue Freiräume und Wohnraum zu schaffen. Wenn es mit Scheinbesetzungen nicht gelingt, mehr als eine kritische Öffentlichkeit gegenüber Leerständen zu schaffen, stumpft auch diese Protestform mit der Zeit ab. Wenn es jedoch gelingt, einen größeren Teil der Menschen dazu zu inspirieren, selbst aktiv gegen Leerstände, zu hohe Mieten und lebensfeindliche Zustände für Menschen mit (zu) wenig Geld zu werden und sich dabei nicht auf Bitten gegenüber irgendeiner Obrigkeit zu beschränken, sondern selbstbestimmte Lösungen zu suchen, wird es dem Staat selbst mit den repressivsten Mitteln kaum möglich sein, sie aufzuhalten.

Neben Aktionsformen wie Scheinbesetzungen, die einen verhältnismäßig hohen Planungsaufwand erfordern und deshalb nicht ohne weiteres reproduzierbar sind bedarf es also vor allem auch niedrigschwelligen Formen des Protestes, die von allen Menschen auch ohne lange Vorbereitung reproduziert werden können. Ob kreativ oder militant, legal oder illegal, für eine große Öffentlichkeit oder nur für wenige Passant_innen sichtbar, es liegt in der Vielfalt der Aktionsformen eine Reproduzierbarkeit des Protestes zu gewährleisten.

Dabei sind die Ziele der Menschen keineswegs einheitlich, aber das müssen sie auch nicht sein. Der_die Eine kämpft für bezahlbaren Wohnraum, die_der Andere möchte kostenlos wohnen. Wieder Andere kämpfen für Freiräume und gegen eine Kommerzialisierung ihres Viertels und der ganzen Stadt.  Dabei bleibt jedoch ein gemeinsamer Nenner: Wir alle wollen mehr Teilhabe und Selbstbestimmung. Alleine werden wir nichts davon erreichen, wir werden aus unseren Wohnungen geworfen, wenn wir die steigenden Mieten nicht mehr aufbringen können, wer sollte uns dabei unterstützen diese zu behalten? Wenn wir unser Bedürfnis nach Selbstbestimmung und Teilhabe jedoch als Teil eines kollektiven Interesses begreifen und uns solidarisch in unseren Kämpfen unterstützen, wenn aus der Parole „Das ist unser Haus“ mehr wird, etwa „Das ist unser Viertel“ oder „Das ist unsere Stadt“, dann stehen wir kurz davor, all unsere Interessen zu verwirklichen.

Aber bis dahin ist es ein weiter Weg. Zunächst ist es wichtig, die zahlreichen Kämpfe um Wohn- und Lebensraum in unserer Stadt sichtbar zu machen. Jeder Mensch, der_die um seinen_ihren eigenen Wohn- und Lebensraum kämpft, soll sehen, dass er_sie nicht alleine ist. Geben wir unserem Protest viele Stimmen und beenden jede Verdrängung von Menschen aus unserer Stadt gemeinsam!

Anmerkungen

[1] Das soll die wichtige Arbeit, die Gruppen und Individuen in diese Richtung in den letzten Jahren geleistet haben, keinesfalls abwerten, sondern nur darauf aufmerksam machen, dass nur wenige Gruppen und Personen in den letzten Jahren zu diesem Thema gearbeitet haben.

[2] Und natürlich gibt es auch hier Ausnahmen, aber nur sehr wenige.

[3] Die sogenannte „Münchner Linie“ legt fest, dass ein besetztes Gebäude innerhalb von 24 Stunden geräumt werden soll.

[4] So passiert, als sich Lukas, Steffi und Sven Ende Juni 2007 bei einer Hausbesetzung gegen das anrückende USK verteidigten. Siehe http://hausbesetzerinnensoli.blogsport.de/

[5] In den meisten Fällen werden diese Menschen wohl eine Anzeige wegen Hausfriedensbruch bekommen (vorausgesetzt, dass der_die Eigentümer_in Strafantrag deswegen stellt). Sofern die Bullen glauben, dass zum Betreten das Hauses außerdem eine Tür oder ein Fenster kaputt gemacht wurde, kann auch eine Anzeige wegen Sachbeschädigung hinzu kommen.

[6] Die Bild titelte am 02.10.2017: „Hier jagt die Polizei mal wieder den Phantombesetzer“, nachdem 45 Polizist_innen eine Scheinbesetzung des Für LⒶu Hauses geräumt hatten.

 

 

Fahr‘ Scheinfrei

Dieser Text erschien unter dem Titel „Unsere Ziele“ zuerst auf der Webseite der Kampagne „Fahr‘ Scheinfrei“ und wurde in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 01, 2017/2018 abgedruckt.

 

Wir wollen einen fahrscheinfreien öffentlichen Personenverkehr für alle Menschen. Eigentlich überall, aber etwas kurzfristiger wollen wir dieses Ziel vor allem in München und Region erreichen. Dabei wollen wir keinen Pflichtbeitrag aller Menschen in der Region, keine neue Steuer und keine anderen direkten Kosten für die Menschen, die den öffentlichen Personenverkehr nutzen. Stattdessen wollen wir, dass der öffentliche Personenverkehr, der auch im Moment bereits staatlich subventioniert und getragen wird, vollständig aus staatlichen Geldern finanziert wird. Wie das im Detail abläuft, dafür gibt es unterschiedliche Lösungen, so könnten beispielsweise die Kosten, die bei einer vermehrten Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel und dem daraus resultierenden Rückgang des Individualverkehrsmittelaufkommens im Straßenbau eingespart werden können, dazu verwendet werden, einen fahrscheinfreien öffentlichen Personenverkehr zu realisieren.

Unabhänig davon jedoch, wie fahrscheinfreier öffentlicher Personenverkehr finanziert wird, klar ist für uns, dass endlich Schluss sein muss mit den diskriminierenden Fahrpreisen, die zahlreiche Menschen willkürlich in ihrer Mobilität einschränken. Wer sich nämlich keinen Fahrschein leisten kann und womöglich außerhalb der Zentrumsregionen wohnt oder Alternativen wie Fahrradfahren aus anderen Gründen nicht nutzen kann oder will, der*die wird vom öffentlichen Leben strukturell ausgeschlossen. Langfristig führt das zu einer Verdrängung dieser Menschen aus der Region München.

Geschuldet ist diese Entwicklung der Tatsache, dass weder Verkehrsbetriebe, noch Politik, noch die meisten Menschen überhaupt daran denken, dass Menschen durch teure Fahrscheine diskriminiert werden könnten. Zum Teil empfinden Menschen dieses Denken gar als fair. Sie argumentieren damit, dass ja alle den gleichen Beitrag zahlen müssten. In ihrem Leistungswahn vergessen diese Menschen allerdings, dass die Voraussetzungen für ein solch erhabenes Gleichheitsdenken mitnichten gegeben sind und auch, dass ein solches Denken die Menschen auch dann in den engen Grenzen einer gesellschaftlichen Norm einsperren würde.

Wir haben weder Lust uns durch gesellschaftliche Normen in unserer Entfaltung einschränken zu lassen, noch sehen wir ein, warum eine Diskriminierung von Menschen durch Fahrscheine notwendig sein soll, außer wenn sie der gezielten Unterdrückung von Menschen mit geringen oder keinen finanziellen Möglichkeiten dient. Dies wird noch einmal deutlicher, wenn mensch sich die Anzahl der Personen, die in Deutschland eine sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, ansieht. Ersatzfreiheitsstrafen werden dann vollzogen, wenn eine Person eine von einem Gericht verhängte, strafrechtliche Geldstrafe ganz oder teilweise nicht bezahlen kann. Anstelle der Geldstrafe muss diese Person dann in Haft. Zum Stichtag 31. August 2017 waren in Deutschland insgesamt 4700 Personen in einer Haftanstalt, weil sie eine Ersatzfreiheitsstrafe antreten mussten. Das sind über 10% aller Inhaftierten. Typischerweise ist ein großer Teil dieser Inhaftierten wegen einer Geldstrafe wegen § 265a StGB („Erschleichen von Leistungen“), also fahrscheinfreiem Fahren, in einer der Strafanstalten. Zusätzlich gibt es natürlich auch Urteile, bei denen Menschen vor allem wegen wiederholtem fahrscheinfreien Fahren direkt zu Haftstrafen verurteilt werden. Die Bestrafung des fahrscheinfreien Fahrens kann dabei als ein Repressionsmittel gegen arme Menschen angesehen werden.

Wir streben mit unserem Engagement gegen Fahrscheine im öffentlichen Personenverkehr also auch eine Entkriminalisierung von Armut an. Dabei hoffen wir jedoch nicht auf die Unterstützung durch die Politik. Diese ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass es diese Kriminalisierung von Menschen, die sich keinen Fahrschein leisten können, überhaupt gibt. Wir sind jedoch der Meinung, dass wir gemeinsam dennoch in der Lage dazu sind, die Verantwortungsträger*innen dazu zu zwingen, ein sinnloses Fahrscheinsystem aufzugeben, wenn wir uns einfach alle über die Fahrscheinpflicht hinwegsetzen. Stellt euch vor, alle würden ohne Fahrkarte fahren. Würden dann alle dafür verurteilt werden? Sicher nicht. Und es gäbe noch andere Effekte: Würden alle ohne Fahrkarte fahren, würden die Verkehrsbetriebe wohl auch die Kontrollen einstellen, die bringen dann ja ohnehin nichts, und vielleicht würden die Fahrkarten dann auch endgültig abgeschafft werden.

Warum Schwangerschaftsabbrüche endlich legalisiert werden müssen

Von Kili Mandscharo in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 01, 2017/2018

Zuerst veröffentlicht unter http://antisexistischeaktionmuenchen.blogsport.eu/perspektiven/warum-schwangerschaftsabbrueche-endlich-legalisiert-werden-muessen/

 

„Schwangerschaftsabbrüche zu verbieten … ist Ausdruck einer Geschichte, in der weibliche Körper, Gebärfähigkeit und Sexualität regelmäßig unterworfen und zum Gegenstand von Politik und Regulierung gemacht werden.“
(Broschüre „Gender raus“ der RLS) 

Im Netz und auf der Straße hetzen selbst ernannte „Lebensschützer*innen“ (1) gegen Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen und Feminist*innen, die sich für das Recht auf Selbstbestimmung einsetzen. Mit dem Einzug der „Alternative für Deutschland“ (AfD) in den Bundestag, hat die zunehmend radikaler auftretende Szene eine weitere Stimme im Parlament erhalten – ein Parlament, das so männlich ist, wie lange nicht. Knapp 31 Prozent der Abgeordneten sind Frauen*, niedriger war der Frauen*anteil zuletzt nur nach der Wahl 1994.

Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung sind Abtreibungen in Deutschland noch immer illegal. Die Nichtverfolgung der Straftat ist heute durch einen Zusatz im Paragraph 218 des Strafgesetzbuches geregelt und an Auflagen und Bedingungen gebunden. So muss sich die ungewollt Schwangere vor dem Eingriff beraten lassen und eine Sperrfrist einhalten. Unter den genannten Umständen sehe ich viele Zeichen dafür, dass das Recht auf Abtreibung auf wackeligen Beinen steht, denn konservative Stimmen überwiegen während feministische Impulse weitgehend fehlen. Letzteres soll dieser Beitrag sein … ein Impuls verbunden mit der Forderung, Schwangerschaftsabbrüche endlich zu legalisieren.

Eines möchte ich vorab klarstellen … ich bin weder für noch gegen den Vorgang der Abtreibung an sich. Es handelt sich bei einem Schwangerschaftsabbruch stets um einen schwerwiegenden Eingriff. Mir wäre es am liebsten, wenn kein Mensch diesen Eingriff vornehmen lassen müsste. Warum ich dennoch für eine Legalisierung plädiere und kämpfe, will ich im Folgenden umschreiben.

Der Körper der Frau* als Objekt völkischer Propaganda   

Schon die Nazis nutzten den weiblichen Körper für ihre Propaganda. Da ist die Rede vom „Mutterleib als Keimzelle des Volkes“ oder dass „das Volk im Mutterleib stirbt“. Frauen* kommt in diesem Narrativ die Rolle der Mutter zu, die möglichst viele gesunde Kinder für den deutschen Volkskörper zu produzieren habe.

Und heute? Im Wahlkampf 2017 wirbt die extrem rechte AfD mit Plakaten auf denen eine  schwangere Person zu sehen ist. Dazu steht dort: „Neue Deutsche? Machen wir selber“. Und auch Anfang 2018 bedienen Rechtspopulist*innen bis extrem Rechte das traditionsreiche rassistische Narrativ vom schwarzen/fremden Mann*, der die weiße Frau* bedroht. So zu sehen beim so genannten „Marsch der Frauen*“ in Berlin oder in Videos der „Identitären Bewegung“. Da wird von „unseren Frauen* und Kindern“ gefaselt, die vor „zugewanderten Vergewaltiger*innen“ geschützt werden müssten. Ausgeblendet wird, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt nichts ist, was nach Deutschland gebracht wurde, sondern ein schon immer existierendes strukturelles Problem unserer Gesellschaft ist.

Schwangerschaftsabbrüche und Selbstbestimmung sind Rechten ein Dorn im Auge. Frauen* entziehen sich einfach so ihrer Kontrolle, schaden dem „Volkskörper“ indem sie abtreiben oder sich auf „Fremde“ einlassen und so den „großen Austausch“ vorantreiben. Und schwups sind wir wieder ganz bei der Rassenideologie der Nazis.

Solange das Recht auf Abtreibung und damit Selbstbestimmung auf derart wackeligen Beinen steht, wird diese Ideologie immer weiter gefüttert werden können und auf fruchtbaren Boden fallen. Eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen wird die Position von Frauen* stärken und die Instrumentalisierung des weiblichen Körpers beenden.

Überwindung medizinischer Stigmata

Ja, ungewollt Schwangere müssen heute nicht mehr nach Holland fahren, um einen Abbruch vorzunehmen. Jedoch obliegt es noch, oder wieder dem Zufall, wie und wo mensch in Deutschland versorgt wird. Das Angebot sinkt und es gibt immer weniger Kliniken, in denen Schwangere Hilfe finden. Das hat  mehrere Ursachen. Bereits in ihrer Ausbildung spielt das Thema Abtreibung im Lehrplan für Fachärzt*innen nur eine untergeordnete Rolle. Viele Jungärzt*innen können gar keine Abtreibungen mehr vornehmen. Ärzt*innen, die fähig und bereit sind Abtreibungen vorzunehmen, sehen sich nicht selten Anfeindungen und Drohungen radikaler Abtreibungsgegner*innen gegenüber. Lokales Beispiel ist die Hetze gegen Dr. Stapf, der in München Freiham seine Klinik hat und regelmäßig mit so genannten „Lebensschützer*innen“ zu tun hat. Ein anderes Beispiel ist der Fall von Kristina Hänel, die nach §219a StGB angezeigt und verurteilt wurde. Der Paragraf regelt, dass für Abtreibungen nicht geworben werden darf und kriminalisiert so Ärzt*innen, die schlicht ihren Beruf ausüben. Da eine Abtreibung keine Kassenleistung oder medizinische Dienstleistung ist,  werden zudem Fehler im Zusammenhang mit dem Eingriff strafrechtlich verfolgt und nicht nach dem sonst üblichen Arztrecht.

Die Folge ist, dass es in Deutschland mittlerweile Orte gibt, wo ungewollt Schwangere eine Tagesreise oder mehr auf sich nehmen müssen, wenn sie eine Abtreibung vornehmen lassen möchten. Eine Recherche der Tageszeitung taz offenbart, wie schwierig es schon heute sein kann, Hilfe zu finden.  So gab es in Bayern 2015 in drei von sieben Regierungsbezirken keine einzige Klinik, die Schwangerschaftsabbrüche im Leistungskatalog hat. Dazu kommt, dass laut Schwangerschaftskonfliktgesetz jede*r Ärzt*in das Recht hat, den Eingriff ohne Angabe von Gründen nicht durchzuführen, wovon manche Ärzt*innen in letzter Zeit öffentlichkeitswirksam Gebrauch machten. Unter einem „ausreichenden Angebot ambulanter und stationärer Einrichtungen“, wie es der Gesetzgeber vorsieht, verstehe ich etwas anderes.

Wenn es also immer weniger Kliniken gibt, müssen Betroffene länger auf Termine warten, dabei sagt der Gesetzgeber: „[Der] Eingriff [sollte] auch aus medizinischen Gründen so früh wie möglich vorgenommen werden können.“ Bis zur neunten Schwangerschaftswoche ist noch ein medikamentöser Abbruch möglich, danach muss unter Betäubung bzw. Vollnarkose ein operativer Eingriff vorgenommen werden.

Nur eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen kann das medizinische Stigma aufheben. Sie ist der einzige Weg, um eine flächendeckende und professionelle Versorgung sicherzustellen.

Keine Kassenleistung, keine Kostenübernahme

Eine Abtreibung kostet in Deutschland zwischen 200 und 600 € je nach Eingriff und Kasse. Je nach Indikation übernehmen die Krankenkassen die Kosten. Geringverdienende können einen Antrag auf Kostenübernahme stellen. Wenn keine medizinische Indikation (Gefährdung der Schwangeren aufgrund der Schwangerschaft) vorliegt und keine Vergewaltigung festgestellt wurde, muss die Betroffene die Kosten selbst tragen.

Würden Abtreibungen legalisiert und aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, wäre es einfacher, sie zu einer Kassenleistung zu machen, auf die ungewollt Schwangere einen Anspruch haben.

Den Mantel des Schweigens lüften

Ich habe vor einiger Zeit die Dokumentation einer jungen Frau* gesehen, die sich in ihrem Entscheidungsprozess für oder gegen Abtreibung selbst begleitete und filmte. Im Lauf der Dokumentation lernt mensch sowohl ihre Mutter, als auch ihre Großmutter kennen und beide, so stellt sich heraus, hatten abgetrieben und keine der beiden hatte je zuvor darüber gesprochen. Die Gründe warum sie abgetrieben haben sind in meinen Augen irrelevant, wer sie wissen möchte, schaue sich bitte die Doku (ARD Doku „Drei Frauen, ein Geheimnis“) an. Die Dokumentation zeigt drei(!) Generationen, alle drei Frauen müssen die körperlichen und seelischen Schmerzen bis heute allein tragen und ich bin sicher, dass diese Geschichte kein Einzelfall ist und es tausende solcher Fälle gibt.

Eine Abtreibung ist noch immer ein gesellschaftliches Tabu und es ist eine einsame Entscheidung. Oder wie viele Personen kennst Du, die offen darüber sprechen, einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen zu haben? Öffentlich sprechen die wenigsten darüber. Spricht mensch doch darüber, wird mensch stigmatisiert: die hat doch ihr Leben nicht im Griff, wie kann sie nur?! Auch dieses Stigma trägt die Betroffene allein.

Eine Legalisierung kann, davon bin ich überzeugt, zu einer offeneren Debatte und öffentlichen Diskussion des Themas führen und so dazu beitragen, dass Betroffene nicht allein dastehen und stigmatisiert werden.

Selbstbestimmung muss es geben

Betroffenes Subjekt ist die ungewollt Schwangere, also entscheidet auch nur sie allein, ob sie die Schwangerschaft beendet oder das Kind austrägt. Warum glaubt eigentlich irgendwer, über Deinen oder meinen Körper bestimmen zu können? Frauen* werden behandelt als wären sie unmündige, unzurechnungsfähige Wesen, die scheinbar nicht in der Lage sind, eigenständige vernünftige Entscheidungen zu treffen. Das sind Machtspielchen, die wir gemeinsam mit dem Patriarchat überwinden müssen. Fertig.

“Nur Frauen* können, wenn sie ihre Sexualität leben, mit dem Strafgesetzbuch in Kollision geraten. Dieses Unrechtsbewusstsein muss im Kopf der Frauen* ankommen,“ sagte Ines Scheibe im Interview mit Broadly und da müssen und werden wir ansetzen.

 

Selbstbestimmung jetzt – Abtreibung legalisieren – §218 abschaffen! 

Du willst Dich engagieren? Für Selbstbestimmung oder gegen Alltagssexismus kämpfen? Dann informiere Dich hier oder auf unseren weiterführenden Links, unterstützt Euch im Freundes-, Familien- und Kolleg*innenkreis und mach den Mund auf, wenn Du das nächste Mal Sexismus selbst erlebst oder beobachtest.

 

Anmerkungen

(1) Ich verwende die binäre Kategorie Mann/ Frau (bzw. männlich/ weiblich) nicht, um sie gegeneinander abzugrenzen oder die vermeintlich damit zusammenhängenden „natürlichen“ Zuschreibungen zu reproduzieren.

Geschlechterkategorien sind jedoch noch immer eine gesellschaftliche Realität, mit der wir immer wieder konfrontiert sind. Ich verwende das Sternchen, um auf die Problematik aufmerksam zu machen und meine damit cis-, trans- und inter-Personen. Keinesfalls möchte ich aber beanspruchen, im Namen dieser zu sprechen oder implizieren, dass ich bspw. den Sexismus, den diese Menschen im Alltag erleben, begreife oder widergeben kann.

Ich habe im Kontext dieses Artikels oft den Begriff „ungewollt Schwangere“ oder „Betroffene“ verwendet, da selbst ein gegendertes Mann*/Frau* nicht ausreicht, um alle betroffenen Gruppen zu umfassen. Trans-Frauen können nicht schwanger werden, trans-Männer hingegen schon. Spräche ich im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen ausschließlich von „Frauen“ (bezogen auf Personen mit Eierstöcken und Gebärmutter), dann spräche ich trans-Männern ihre männliche Identität ab, weil sie ja trotzdem irgendwie „Frauen“ seien, weil sie ja (potenziell) gebären können. Das erscheint mir falsch.

Zusätzlich erscheint mir der Überbegriff „Frauen“ im Sinne von „Menschen mit Eierstöcken und Gebärmutter“ zu weit und damit eigentlich auch nicht passend, weil es viele „Frauen“ gibt, die zwar eine Gebärmutter haben, aber aus verschiedenen Gründen nicht gebärfähig sind und sich nie mit diesem Thema auseinandersetzen mussten und/oder nie vor der Entscheidung standen.

Ich weiß, dass die Umsetzung nicht perfekt ist, versuche jedoch mit den mir zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln die Personen sichtbar zu machen, für die das Thema Schwangerschaft(sabbruch) präsent oder relevant ist.

(2) Fairerweise  muss mensch sagen, dass ein höherer Anteil von Frauen* nicht automatisch feministischere Politik bedeuten würde. Beatrix von Storch (AfD), eine der prominentesten Abtreibungsgegnerinnen Deutschlands, Silke Launert (CSU) oder Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) sprechen sich genauso gegen Schwangerschaftsabbrüche aus.

Quellen und weiterführende Links: 

  1. Zahlen zum Frauen*anteil im Bundestag: https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/mdb_zahlen_19/frauen_maenner/529508
  2. Vice Artikel: Warum Deutschland endlich Abtreibungen legalisieren muss. https://broadly.vice.com/de/article/zmvk3j/warum-deutschland-endlich-abtreibungen-legalisieren-muss
  3. taz Artikel zur Recherche von Kliniken und Versorgung: http://www.taz.de/!5386152/
  4. „Gender Raus“-Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung/ Heinrich-Böll-Stiftung: https://www.rosalux.de/publikation/id/37502/
  5. Selbstbestimmung und das Recht auf Abtreibung auf der Seite der Heinrich Böll Stiftung: https://www.gwi-boell.de/de/2016/04/14/selbstbestimmung-und-das-recht-auf-abtreibung
  6. Gesetz zur Vermeidung und Bewältigung von Schwangerschaftskonflikten (Schwangerschaftskonfliktgesetz – SchKG): https://www.gesetze-im-internet.de/beratungsg/BJNR113980992.html
  7. §218b https://dejure.org/gesetze/StGB/218b.html
  8. §218c https://dejure.org/gesetze/StGB/218c.html
  9. §219 https://dejure.org/gesetze/StGB/219.html
  10. SZ-Bericht über Stapf: http://www.sueddeutsche.de/muenchen/praxis-gesucht-keiner-will-den-abtreibungsarzt-1.1978605#redirectedFromLandingpage

Über kommende Aufstände

Teil 1 der Artikelreihe „Über kommende Aufstände“ von Anna Kistin in Die Lifestyleanarchistin Nr. 01, 2017/2018

Wenngleich in unserer Gesellschaft überall Herrschaftsstrukturen sichtbar werden, ist es geradezu unmöglich, einen gemeinsamen Ursprung all dieser Herrschaft zu benennen. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind komplex und mindestens ebenso komplex sind die Strukturen der Herrschaft in dieser Gesellschaft. Zwar gibt es in Unternehmen, Behörden, Schulen, Vereinen und beinahe allen künstlich geschaffenen Strukturen klare Hierarchien, doch das Gesamtbild unserer Gesellschaft weißt keine solch klaren Hierarchien auf.

Sicher lässt sich zwischen Staat und Bürger*in ein klassisches Herrschaftsverhältnis mit klaren Hierarchien beobachten, beispielsweise immer dann, wenn Bull*innen die Gewalt ihres Staatsapparates gegen eine*n (vermeintliche*n) sogenannte*n Verbrecher*in richten, doch dieses Herrschaftsverhältnis bleibt solange abstrakt, bis es in den Handlungen einer Person, hier einer*eines Bull*in greifbar wird. Der*die Bull*in verkörpert in einem solchen Moment die (reale) Macht des Staates, legitimiert jedoch wird er*sie nicht von einer „höheren“ Stelle – auch wenn er*sie Befehle von dort entgegennimmt –, sondern durch die Ideologie der Mehrheitsgesellschaft. Diese Ideologie findet teilweise in den Gesetzen des Staates ihre Manifestation, teilweise ist sie als unverschriftlichtes Normen- und Wertesystem der Gesellschaft manifest.

Die temporäre Ausübung von Herrschaft durch eine*n Bull*in – analog gilt das natürlich für Richter*innen, Lehrer*innen, Sachbearbeiter*innen in Ämtern, Vereinsvorsitzenden, usw. – ist also nur eine einzelne Herrschaftsbeziehung in einem Herrschaftssystem, die – zumindest in den meisten Fällen – indirekt durch diejenige*denjenigen über den*die Herrschaft ausgeübt wird, legitimiert wurde. Natürlich fügt sich nicht jedes Herrschaftsverhältnis in dieses staatliche System von Herrschaft ein. Hierarchisch gegliederte Strukturen von sogenannten „Verbrecher*innenbanden“, Religions- und Glaubensgemeinschaften, Neonazis, Autoritärkommunist*innen, usw. weisen zwar zum Teil deutliche Parallelen zum dominierenden, staatlichen Herrschaftssystem auf, sie bilden jedoch meist Parallelstrukturen von Herrschaft aus. Trotzdem weisen auch diese Parallelstrukturen häufig Beziehungen zum staatlichen Herrschaftssystem auf. Ebenfalls außerhalb des staatlichen Herrschaftssystems stehende Herrschaftsverhältnisse sind Herrschaftsbeziehungen zwischen zwei Individuen (bsp. patriarchale Herrschaftsverhältnisse), die sich nicht direkt aus dem staatlichen Herrschaftsgefüge ergeben, auch wenn sie meist ebenfalls eng mit ihm verbunden sind.

Ein solches Verständnis von Herrschaft, das zu konkretisieren eines eigenen Artikels, wenn nicht sogar eines ganzen Buches bedürfte – deshalb muss hier diese Skizze genügen –, impliziert jedoch auch eine entsprechende Herrschaftskritik, die sich in unserem Protest gegen Herrschaft niederschlagen muss. Vor allem impliziert sie jedoch eines: Die bloße Zerschlagung des Staates, die von „revolutionären“ Gruppen und Individuen propagiert wird, wird Herrschaft weder beenden, noch reduzieren, sie wird lediglich zu einer Wandlung des bestehenden Herrschaftssystems führen. Das soll nicht bedeuten, dass eine Zerschlagung des Staatsapparates nicht notwendig ist, um die Herrschaft über Menschen zu beenden, auch nicht, dass eine Zerschlagung des Staatsapparates nur zum richtigen Zeitpunkt in Betracht kommt, sondern vielmehr, dass der Aufstand gegen den Staat auch als Aufstand gegen die Gesellschaft begriffen werden muss.

Im Gegensatz zu vielen gängigen Sichtweisen, dass die Abschaffung des Staates in einem einzigen Aufstand – einer Revolution – stattfinden wird, auf den wir hinarbeiten müssen, scheint mir die Abschaffung von Herrschaft nach diesem Verständnis vielmehr in Tausenden, Millionen, Milliarden Aufständen, die überall stattfinden und die Menschen an ihre eigenen Herrschaftsverhältnisse erinnern und sie dazu inspirieren, ihre eigenen Ketten zu sprengen, realisierbar zu sein.

Das bedeutet aber auch, dass unsere Aufstände gegen Herrschaft auf allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden müssen. Dabei geht es darum, einzelne Herrschaftsverhältnisse und deren Wirkmechanismen in ihrem Gesamtzusammenhang hervorzuheben und nicht, eine vermeintliche Quelle aller Herrschaft zu identifizieren und damit ein Feindbild in die Welt zu setzen, das schließlich den Blick auf die Wirkmechnismen von Herrschaft verstellt. Weltverschwörungstheorien ebenso wie die romantisierte Vorstellung, scheinbare Antagonismen zwischen armen und reichen Menschen im „Klassenkampf“ zu überwinden, verhindern nicht nur eine echte Auseinandersetzung mit Herrschaft, sie dienen meist auch dazu, die eigene Unzufriedenheit auf ein einfaches Feindbild zu projizieren und führen dabei zu Diskriminierungen, also bestenfalls zu einer Verschiebung von Herrschaftsverhältnissen, nicht aber zu deren Beseitigung.

In meiner Artikelreihe möchte ich anhand einiger Aufstände gegen Herrschaftsverhältnisse in der Region München untersuchen, inwiefern diese geeignet sind, die Funktionsweise von Herrschaftsverhältnissen hervorzuheben. Gleichzeitig sollen diese auch auf ihre Reproduzierbarkeit untersucht werden. Das bedeutet nicht nur, dass eine einzelne Aktionsform möglichst barrierefrei von vielen Menschen dazu genutzt werden kann, Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen und aufzuheben, sondern auch, dass diese Aktionsform auf anders geartete Herrschaftsverhältnisse übertragen werden kann. Ziel ist es dabei nicht, eine einzelne Aktionsform für Aufstände gegen Herrschaftsverhältnisse jedweder Art zu finden – das würde den qualitativen Unterschieden diverser Herrschaftsverhältnisse nicht gerecht werden –, sondern vielmehr Kriterien zu entwickeln, nach denen die Reproduzierbarkeit einer Aktionsform bewertet werden kann.

Auf diese Art und Weise sollen einige Überlegungen zu den Aufständen der Zukunft angestellt werden, denn auch wenn es bereits heute hunderte von Aufständen, in denen Herrschaftsverhältnisse angegriffen werden, jeden Tag stattfinden, scheint ein Weg, diese Aufstände auf die gesamte Gesellschaft auszuweiten bislang noch nicht gefunden.

Maskulinistische Beißreflexe

Anonymer Beitrag in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 1, 2017/2018

Dass Sexismus nach wie vor eine große Rolle auch innerhalb linksradikaler Zusammenhänge spielt ist kein Geheimnis. Wenngleich offen sexistische und antifeministische Haltungen meist sehr schnell auf Widerstand stoßen und glücklicherweise nur sehr selten geduldet werden, sind vor allem bei internalisierten Verhaltensweisen sexistische Grundstrukturen zu beobachten, die es (nicht nur) Frauen* häufig verunmöglichen, sich ihre Freiräume zu erkämpfen.

Ich schreibe diesen Text als heterosexueller cis-Mann, ich bin weiß und able-bodied und kann im Grunde nicht behaupten, von irgendeiner der beschriebenen Diskriminierungsweisen ernsthaft betroffen zu sein. Wenn ich von meinen Beobachtungen berichte, tue ich das also nicht aus dem Blickwinkel einer betroffenen Person, auch nicht aus dem Blickwinkel eines neutralen Beobachters, sondern vielmehr aus dem Blickwinkel der diskriminierenden Person. Das soll nicht bedeuten, dass ich selbst bewusst diskriminierend handele, auch nicht, dass es sich bei geschilderten Beobachtungen um mein eigenes Verhalten handelt. Vielmehr bedeutet das, dass ich aufgrund meiner Sozialisation bei vielen beobachteten Verhaltensweisen Parallelen (zum Teil auch nur in Abstufungen) zu meinem eigenen (früheren) Handeln beobachte.

Mir ist klar, dass ich weder die beschriebenen Diskriminierungsformen besser schildern kann als Betroffene, noch bedarf es meiner Meinung nach einer Vermittlung zwischen Betroffenen und Handelnden. Mein Anliegen – wenn ich diesen Text nicht ausschließlich für mich selbst schreibe – ist es, die Notwendigkeit zur Selbstkritik, der in meinen Augen nur sehr wenige Männer* – d.h. genauer diskriminierende Personen – ausreichend gerecht werden, zu unterstreichen.

Ich werde von nun an zur Verdeutlichung dessen, dass ich von Verhaltensweisen spreche, die dazu beitragen vor allem Frauen* zu diskriminieren, und die meist bei Männern* zu beobachten sind, die weibliche Form verwenden, wenn ich von der Betroffenen* spreche und die männliche Form, wenn ich von dem Handelnden*, also von der diskriminierenden Person, spreche. Die Sternchen sollen dabei gleichzeitig unterstreichen, dass es sich hier um Geschlechtszuschreibungen (in meinem Text) handelt, die keineswegs eine Allgemeingültigkeit offenbaren, und Trans-Personen, die sich im Rahmen ihrer Gender-Expression zum Teil auch entsprechende Verhaltensweisen aneignen, sichtbar machen.

Der Titel meines Textes, „Maskulinistische Beißreflexe“, bezieht sich vor allem auf die Argumentationsstrategien von Handelnden*, die ihre diskriminierenden Handlungen auf eine bestimmte Art und Weise rechtfertigen. Der Begriff Maskulinismus ist dabei nicht im Sinne der Selbstbezeichnung maskulinistischer Strömungen zu verstehen, sondern er bezieht sich auf die antifeministischen Versatzstücke in diesen Argumentationen, die sich häufig in dem Vorwurf, Feministinnen* würden Männer* unterdrücken, zuspitzen lassen. Das ist natürlich ein nur selten geäußerter Vorwurf [1], trotzdem empfinde ich diese Zuspitzung als angemessen, weil sie einer*einem die Konsequenz dieser Argumentationsstrategien vor Augen hält. Dementsprechend gebrauche ich auch den Begriff Maskulinismus, der in diesem Zusammenhang nicht ausschließt, dass der Handelnde* sich selbst als antisexistisch oder „feministisch bis zu einem gewissen Grad“ versteht.

 

Die Verhaltensweisen mit denen ich mich in diesem Text näher auseinandersetzen will, lassen sich unter der gemeinsamen Bezeichnung Raumvereinnahmendes Verhalten zusammen-fassen. Das bedeutet, dass ein Handelnder* durch sein Verhalten so viel Raum einnimmt, dass sich eine Betroffene* dadurch unwohl fühlt. Dabei kann raumeinnehmendes Verhalten sowohl den geometrischen Raum betreffen, als auch im metaphorischen Sinne gemeint sein. Ein Absolutheitsanspruch, den ein Handelnder* in seiner Argumentation für sich in Anspruch nimmt ist damit also ebenso gemeint, wie auch eine tatsächliche Inanspruchnahme des geometrischen Raumes, indem sich ein Handelnder* beispielsweise so in einem Raum platziert, dass er Durchgangswege versperrt oder auch konkret einer Betroffenen* den Zugang zu irgendetwas, das sie gerade benötigt, versperrt.

Eigentlich bin ich der Meinung, dass Raumvereinnahmendes Verhalten zur Genüge beschrieben wurde, so dass ich hier nicht alle Facetten solchen Verhaltens darlegen muss, meiner Beobachtung nach ist es jedoch keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Handelnde* sich dessen bewusst sind, wenn sie Raum auf eine Art und Weise beanspruchen, die anderen diesen Raum streitig macht. Deshalb will ich in aller Kürze einige gängige Ausprägungen, die jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, beschreiben:

Eine sehr verbreitete Form von raumvereinnahmendem Verhalten ist die tatsächliche Beanspruchung von geometrischem Raum. Damit ist nicht gemeint, dass große Menschen dieses Verhalten grundsätzlich reproduzieren. Vielmehr geht es darum, wo Menschen sich in einem Raum positionieren, also vor allem ob sie sich eine „Ecke“ suchen, in der sie sich selbst „aufräumen“, oder ob sie sich mitten im Raum positionieren und damit notwendigerweise raumvereinnahmend wirken. Auch spielt es eine Rolle, inwiefern eine Person Wege, die eine andere Person beansprucht selbständig freigibt und inwiefern sie die Intimsphäre anderer Personen achtet.

Ebenso wie ein Handelnder* auf eine derart körperliche Weise Raum vereinnahmen kann, ist es auch möglich, akkustisch Raum einzunehmen ohne dabei körperlich besonders präsent zu sein. Besonders lautes Sprechen, vor allem aber lautes Lachen unterstreicht die Präsenz des Handelnden*. Ich persönlich fühle mich in solchen Situationen immer an Dorffeste erinnert. Mein Vater und seine Fußballfreunde* saßen bei derartigen Gelegenheiten mit ihren Frauen* [2] zusammen an einem großen Tisch. Schon nach sehr kurzer Zeit waren die Frauen* jedoch nichts weiter als Zuschauer*innen des – na ja, Gespräch kann mensch es eigentlich nicht nennen – Geschehens. Schon die Lautstärke in der sich die Männer* am Tisch etwa darüber austauschten, welche „Heldentaten“ sie beim letzten Fußballspiel vollbracht hatten, vor allem aber das alles durchdringende, lautstarke Männer*lachen, verhinderte jede Beteiligung von Personen mit einem weniger ausgeprägten Stimmorgan – das betraf auch die ein oder andere männliche* Person, vor allem aber die Frauen* – am Gespräch. Kein Wunder, dass die Frauen* als erstes von diesen Veranstaltungen flüchteten, bis die Männer* gegen Mitternacht „unter sich“ waren. Natürlich bewegt sich das Geschilderte in einer anderen Dimension, aber auch innerhalb der radikalen Linken lässt sich zum Teil wahrnehmen, dass die Beteiligung von Frauen* an Diskussionen oft nachlässt, wenn bei einigen der Gesprächsteilnehmer*innen ähnliche Verhaltensweisen feststellbar sind.

Im Zusammenhang mit dem Versuch, dominantes Redeverhalten einzubremsen, indem beispielsweise quotierte Redner*innenlisten geführt werden, ist vor allem solch akkustisches raumvereinnahmendes Verhalten seltener geworden, sobald eine Diskussion jedoch nicht mehr moderiert wird, brechen oft die alten Verhaltens-weisen wieder hervor. Aber auch bei moderierten Diskussionen ist raumvereinnahmendes Verhalten selten verschwunden. Stattdessen haben sich entsprechende Verhaltensmuster teilweise auf die Art und Weise der Argumentation verlagert. Wer als Handelnder* gegenüber seinen Ansichten keine Einwände zulässt und dabei sein Gegenüber oft sogar herabsetzt, indem er entweder statt eines Argumentes in einer Art und Weise auf seine Erfahrungen verweist, die diese stärker würdigt als die Erfahrungen anderer, oder aber für die Anwesenden absichtlich unverständliche (Schein-) Argumente verwendet, vereinnahmt zumindest methaphorisch Raum innerhalb einer Diskussion.

 

Alle diese Formen von raumvereinnahmendem Verhalten finden – zumindest in linksradikalen Kreisen – sicherlich selten bewusst und mit dem Ziel anderen Personen den Raum streitig zu machen, statt. Trotzdem lassen sie sich immer wieder beobachten und sie stehen einer Gleichberechtigung der Geschlechter entgegen. Wird ein Handelnder* jedoch mit seinem Verhalten konfrontiert, so ist seine Reaktion häufig uneinsichtig. Vor allem dann, wenn ein Handelnder* sein Verhalten verteidigt, bekommt mensch immer wieder antifeministische Versatzstücke zu hören, die ich hier als „Maskulinistischen Beißreflex“ bezeichnen möchte. Besonders Personen, die sich selbst als Antisexisten*, nicht jedoch als Feministen* bezeichnen, kennzeichnen sich häufig durch Positionen, die denen von echten Maskulinisten erschreckend nahe sind.

Die häufigste Rechtfertigung solcher Handelnder* lautet etwa: „Als Antisexist spielt Geschlecht für mich keine Rolle. Ich behandle alle Menschen, egal ob Mann* oder Frau* gleich. Deshalb handle ich auch nicht sexistisch.“ Die Bitte darum, bestimmte Verhaltensweisen zu unterlassen stößt dann meist auf Ablehnung, weil sich der Handelnde* in seiner individuellen Freiheit eingeschränkt sieht. Auch ohne den konkreten Vorwurf, dass „Feministinnen* Männer* unterdrücken“, zu äußern, verdeutlich eine solche Ansicht antifeministische Denkmuster des Handelnden*.

Natürlich ist es ein erstrebenswertes Ziel, Geschlechter zu überwinden, wer als Handelnder* jedoch Frauen* genauso wie Männer* behandelt und dabei die eigene Position ebenso wie die Position seines Gegenübers ignoriert, reproduziert genau die internalisierten Verhaltensweisen, die die momentan herrschende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern manifestieren.

Deshalb ist es notwendig, dass auch Männer* Feminismus – nicht (nur) Antisexismus – zu ihrer Angelegenheit machen: Und zwar indem sie ihre eigene Position kritisch reflektieren, den materiellen Zuständen, die in einer erheblichen Ungleichheit der Geschlechter bestehen, endlich Rechnung tragen und diese bei sich selbst nicht länger verleugnen. Ohne Empowerment von Frauen* durch Männer* kann Feminismus sonst tatsächlich nur das bedeuten, was Maskulinisten so sehr befürchten: die Unterdrückung von wenigstens all denjenigen Männern*, die sich weigern, ihre Verhaltensweisen zu überdenken, zugunsten der Gleichberechtigung von Frauen*!

Anmerkungen:

[1] Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass Personen diesen Vorwurf in etwa diesem Wortlaut zur Sprache bringen. Auch von Personen, die sich selbst als „Antisexisten*“ bezeichen, kenne ich diesen Vorwurf.

[2] Ich führe die Frauen* hier bewusst als eine Art Anhang auf. Das tue ich nicht, um sie zu diskriminieren, sondern weil ich glaube, dass diese Darstellung ihre Position bei diesem Ereignis unterstreicht.

 

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Animal Liberation war niemals genug!

Ein Beitrag des Projekts Radical Biocentrism in Die Lifestyleanarchist*in Nr. 1, 2017. Der Artikel wurde zuerst hier veröffentlicht.

Herrschaftsverhältnisse existieren nicht nur zwischen Menschen, sie prägen auch das Verhältnis zwischen Menschen und anderen Lebewesen, ebenso wie das Verhältnis anderer Lebewesen untereinander. Die Vorherrschaft der menschlichen Spezies über andere Lebewesen wurde in der christlichen Tradition, ebenso wie in vielen anderen Gesellschaften als eine gottgegebene Sonderstellung des Menschen, der von Natur aus zum*r Herrscher*in über „die Natur“ auserkoren sei, interpretiert. Damit wurde dieses Herrschaftsverhältnis kulturell verfestigt. Bis heute behaupten folgerichtig auch Atheist*innen der Mensch habe eine Vorrangstellung vor anderen Lebewesen und rechtfertigen damit diverse Herrschaftsverhältnisse, in denen der Mensch andere Lebewesen unterwirft.

Als Anarchist*innen jedoch dürfen wir auch Herrschaftsverhältnisse, die zwischen Lebewesen unserer Spezies und den Lebewesen anderer Spezies bestehen, nicht ignorieren. Einerseits – und das ist ein anthropozentristisches Argument – lässt sich eine herrschaftsfreie Gesellschaft, deren Mitglieder ihr (Über-)leben auf ihrer Herrschaft über andere Lebewesen gründen, nur schwer denken. Andererseits gilt es auch die Angehörigen anderer Spezies von der Unterdrückung durch andere Lebewesen, insbesondere die durch „uns Menschen“, zu befreien.

Auch wenn es durchaus sinnvolle anarchistische Kämpfe gegen derartige Herrschaftsverhältnisse gibt, ist jüngst zunehmend stärker zu beobachten, wie sich solche Bestrebungen in einer Sackgasse verlaufen, in der Herrschaftskritik zur Ideologie verkommt und sich die Mittel zur Überwindung von Herrschaft an marktwirtschaftlichen Vorstellungen orientieren. Die Rede ist von politischem Veganismus. Gemeint ist nicht etwa Veganismus an sich, wenn er als persönliche Entscheidung betrachtet und gelebt wird. Gemeint ist die Propagierung des Veganismus als politische Boykottbewegung, in der vegane Lebensweisen als wirksamstes Mittel im Kampf gegen die Unterdrückung anderer Lebewesen propagiert wird und zum Teil auch Menschen, die sich nicht vegan ernähren, pauschal als ignorant gegenüber diesem Herrschaftsverhältnis, verunglimpft werden.

Wie jede Boykottbewegung gründet sich die Vorstellung, Veganismus könne das Herrschaftsverhältnis zwischen Menschen und Tieren aufheben, auf die weit verbreitete, aber dennoch falsche Vorstellung, dass die Nachfrage nach einem Produkt das Angebot bestimme. Tatsächlich wird auch Fleisch, für Milch und Eier gilt das analog, heute nicht mehr der Nachfrage gemäß produziert, sondern ebenso wie andere Waren, beispielsweise Autos, wird so produziert, dass die Fixkosten möglichst gering gehalten werden können und so die Gewinne möglichst groß sind. Das bedeutet, dass durch einen Boykott von tierischen Produkten im Ausmaß der Zahl der Vegetarier*innen und Veganer*innen die Zahl der unterdrückten Tiere quasi nicht verändert wird. Eher werden die Preise aufgrund des noch größer werdenden Überangebots weiter nach unten gedrückt. Kleinere Betriebe und vor allem solche, die mehr Wert auf Haltungsbedingungen legen, können so noch weniger bestehen. Das soll natürlich auch nicht umgekehrt bedeuten, dass der „bewusste“ Konsum von tierischen Produkten zu einer Aufhebung des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mensch und Tier führen kann, Zahlreiche Green-washing Labels zeugen davon, dass auch das nur eine Farce ist.

Statt sich also in den Mitteln des eigenen Protests gegen die Unterdrückung von Tieren auf die marktwirtschaftlichen Mythen des kapitalistischen Systems zu verlassen, müssen Wege gefunden werden, eben jenes System zu durchbrechen.

Und doch sind es nicht die Mittel des politischen Veganismus, die in diesem Artikel im Zentrum der Kritik stehen sollen. Vielmehr soll auf die speziesistischen Ansichten, die dem politischen Veganismus zugrunde liegen, eingegangen und die daraus entstandene Ideologie näher untersucht werden.

Die Herrschaft der menschlichen Spezies über andere Lebewesen betrifft nicht nur tierische Lebewesen, sondern ebenso auch pflanzliche Lebewesen. Ebenso wie Tiere dienen den Menschen auch Pflanzen zur Nahrung und werden zu diesem Zweck gezüchtet, in Massenaufzucht angebaut und schließlich geerntet, was in vielen Fällen den Tod der Pflanze bedeutet. Interessen von Pflanzen spielen, ebensowenig wie die der in Mastanlagen gehaltenen Tiere, keine Rolle. Es geht schlichtweg darum. Nahrungsmittel, Baustoffe oder andere Wertstoffe zu produzieren, also ausschließlich darum, Menschen nützlich zu sein.

Zunächst einmal gibt es also keinen Grund, zwischen der Herrschaft über pflanzliche Lebewesen und der Herrschaft über tierische Lebewesen zu differenzieren, wie das durch den politischen Veganismus getan wird. Dass das dennoch passiert, ist wohl den pathozentrischen und/oder utilitaristischen Einflüssen geschuldet: Während einige Anhänger*innen des politischen Veganismus argumentieren, die Tatsache, dass Tiere erwiesenermaßen als „leidensfähig“ gelten, eine „Leidensfähigkeit“ bei Pflanzen bislang jedoch nicht nachgewiesen werden konnte, argumentieren viele Veganer*innen damit, dass zur Ernährung von Tieren ebenfalls Pflanzen angebaut werden müssen. Insgesamt würden tierische Produkte daher größeres Leid auslösen, als pflanzliche Produkte.

Beide Argumente sind zumindest kritisch zu bewerten. Die Tatsache, dass wir nicht sagen können, ob Pflanzen leidensfähig sind, bedeutet schließlich nicht, dass sie es nicht sind. Die Wissenschaft war, ist und wird niemals frei von Fehlern sein. Sich also auf eine in der Wissenschaft herrschende Annahme, dass Pflanzen nämlich nicht leidensfähig seien, zu stützen und damit die Unterwerfung dieser Lebewesen zu rechtfertigen, erscheint mehr als fragwürdig. Überhaupt: Warum wird die Leidensfähigkeit eines Lebewesens so sehr ins Zentrum gerückt? Immerhin ist das eine sehr anthropozentrische Vorstellung, davon auszugehen, dass Leid und Leidensfähigkeit das zentrale Kriterium dafür ist, ob die Unterdrückung eines Lebewesens moralisch vertretbar ist, oder nicht.

Ähnlich kritisch ist auch das utilitaristische Argument zu sehen, dass zur Herstellung tierischer Produkte durch die zur Versorgung der tierischen Lebewesen mit Nahrungsmitteln notwendige Produktion pflanzlicher Produkte, insgesamt mehr Leid entstehen würde. Einerseits gilt das natürlich nur, wenn mensch davon ausgeht, dass die in Massenhaltung lebenden, tierischen Lebewesen ohne Zutun des Menschen nicht existieren würden und sich diejenigen frei lebenden Arten, die jeweils in Quoten zum Abschuss frei gegeben werden, nicht überproportional vermehren würden. Immerhin, tendenziell scheint diese Annahme realistisch zu sein. Andererseits jedoch – und das ist der hochproblematische Aspekt dieses Arguments – werden dabei die Individuen, die den vom Menschen angebauten, pflanzlichen Spezies angehören, als notwendiges Übel zugunsten einer Art Gemeinwohl unterdrückt und diskriminiert. Die Interessen bestimmter Individuuen werden damit den Interessen einer Gemeinschaft untergeordnet. Derartige Abwägungen sind nicht umsonst verpöhnt! Mit anderen Worten ließe sich hier von einem Speziesismus der politischen Veganer*innen gegenüber pflanzlichen Lebewesen sprechen.
Der ideologische Charakter des politischen Veganismus gründet sich dabei auf die Tatsache, dass selbiger diesen Speziesismus als eine Lösung oder wenigstens einen Fortschritt im Hinblick auf die Unterdrückung von anderen Lebewesen durch die Menschen vorschlägt. Worin dieser Vorschlag jedoch besteht ist weniger eine Lösung, als eine Verlagerung der Problemdimension. Statt tierischen Lebewesen sollen, wenn es nach politischen Veganer*innen geht, zukünftig nur noch pflanzliche Lebewesen unterdrückt werden.

Bei all dieser Kritik am politischen Veganismus soll dieser Text jedoch keineswegs die Unterdrückung tierischer Lebewesen verharmlosen oder als berechtigt darstellen. Vielmehr geht es darum, einen Perspektivenwechsel in der Kritik der Herrschaft der Menschen über andere Lebewesen vorzuschlagen. Die Unterdrückung anderer Lebewesen durch den Menschen muss also aus einer herrschaftskritischen Perspektive neu analysiert werden, denn während sich gegen die Unterdrückung tierischer Lebewesen durchaus Protest, der herrschaftskritisch geprägt und mit dem Ziel des Schutzes aller Individuen praktiziert wurde, entwickelt hat, ist der viel seltenere Protest gegen die Unterdrückung pflanzlicher Lebewesen zumeist mitnichten herrschaftskritisch und noch seltener mit dem Ziel des Schutzes aller Individuen organisiert. Es geht vielmehr darum, Arten zu erhalten, „Naturdenkmäler“ zu bewahren oder besonders imposante Pflanzen zu schützen, wenn die Argumentation nicht ohnehin rein anthropozentrisch geprägt ist oder eine verklärte „Natur“ zu bewahren sucht.

Mit Blick auf die sogenannte „Animal Liberation“-Bewegung ist also ein weiteres anarchistisches Aktionsfeld in der Befreiung der pflanzlichen Lebewesen vor menschlicher Unterdrückung zu suchen. Dabei gilt es eine generelle Kritik der Unterdrückung von Lebewesen zu entwickeln und mögliche Umgangsformen mit bestehenden Unterdrückungsverhältnissen gegenüber anderen Lebewesen auszuloten.

Natürlich darf dabei nicht vergessen werden, dass die Herrschaftsverhältnisse des Menschen über andere Lebewesen soweit manifestiert sind, dass eine Gewährleistung der Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln auf herrschaftsfreiem Wege derzeit nicht vorstellbar ist. Diese Einsicht sollte jedoch keineswegs dazu führen, dieses Thema in der anarchistischen Praxis zu vernachlässigen, sondern vielmehr dazu anregen, sich mit größerem Engagement den Herausforderungen herrschaftsfreier Verhältnisse zwischen Menschen und anderen Lebewesen zu widmen.

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